03 | Verräterisches Glück


Die enorme Mittagshitze staut sich in den dichten Gassen des Distrikts an und fühlt sich noch unerträglicher an als ohnehin schon. Unpassend zu dem prächtigen Sommerwetter entspricht die Stimmung unter den Bewohnern aber eher der eines regnerischen Herbsttages.

Obwohl der Duft der vielen Blumendekorationen in der Luft liegt, kann ich ihn kaum genießen. Hinter den Fenstern der Häuser erkennt man die Schemen derer, die noch dabei sind, sich einzukleiden. Je näher wir dem Ernteplatz kommen, desto schmaler werden die Häuser. Normalerweise würde es mir eine kleine Freude bereiten, die vielen bunten Fensterläden, die hell gestrichenen Holztüren und die dicht bewachsenen Vorgärten zu beobachten, doch nicht an diesem Tag.

Stattdessen richtet sich mein Blick bloß unmittelbar nach vorne, wo in der Ferne der breite Sandweg bereits in den großen Versammlungsplatz säumt.

Ein letztes Mal biegen wir um eine Ecke und schon erstreckt sich der Rathausplatz vor uns. Immer mehr Menschen tauchen um uns herum auf. Von der grauen Fassade des großen Rathauses hängen die Banner des Kapitols. Davor befindet sich, wie in jedem Jahr, eine große Holzbühne, geschmückt mit einem bunten Meer aus Blüten. Es ist der Ort, an dem meine Eltern getötet wurden. Es ist der Ort, an dem ich vor langer Zeit für die Hungerspiele ausgelost wurde.

Auch die umliegenden Gebäude sind feierlich herausgeputzt worden. Bunte Wimpelketten sind quer über den ganzen Platz gespannt und flattern im Wind. Unmittelbar spüre ich, wie Alani ihre Finger fester um die meinen wickelt, als sich die ersten Kinder des Distrikts vor der Bühne in Reihen aufstellen.

Instinktiv machen wir vor ihnen Halt und Atala und ich werfen uns einen nervösen Blick zu. Jetzt heißt es - Abschied nehmen. Ich beuge mich zu den vier Kindern hinunter und neben mir spüre ich Atalas Wärme, als sie das selbe tut. Einen Moment lang blicken Jinia, Willow, Rayam und Alani uns bloß mit großen Augen an. Obwohl die beiden Jüngeren mit elf und neun Jahren noch zu klein für die diesjährige Ernte sind, steht ihnen gewaltige Angst in die Gesichter geschrieben.

„Atala begleitet euch gleich zum Rand der Versammlung, wo auch die anderen warten. Ihr trefft bestimmt auf Annies und Lims Familie. Atala ... sie ist die ganze Zeit bei euch, okay?" beschwichtige ich Rayam und Alani so gut wie möglich. Die beiden nicken heftig und können ihre Blicke trotzdem nicht von ihren beiden älteren Schwestern lösen.

Beide tragen dunkelblaue Kleider und als hätten die Stylisten es gewusst, scheint meins in genau dem selben Ton zu schimmern.

„Ihr reiht euch gleich ganz vorne zu den anderen ein, okay? Wir werden euch die ganze Zeit sehen." murmelt Atala so sanft wie möglich, doch als Jinia und Willow sie in die Arme schließen, sehe ich ihren düsteren Gesichtsausdruck.

Langsam lassen sie von der muskulösen Atala ab und schon richten sich ihre großen Augen auf mich. Unmittelbar versuche ich Worte zu finden, die sie in den letzten Minuten noch aufmuntern können, doch vergebens. Meine Kehle scheint wie zugeschnürt. Stattdessen bringe ich bloß heraus:

„Ich muss gleich hinten auf die Bühne zu den anderen Siegern. Aber ... ihr könnt mich die ganze Zeit dort oben sehen. Das verspreche ich euch. Ihr ... ihr seid nicht allein." wispere ich und schon wickeln sich Arme und Hände der beiden Mädchen um meinen Körper. Mit einem tiefen Atemzug nehme ich den Geruch der beiden auf - Salz, Blüten und das Meer. Ein kühler Windzug kommt auf und schmiegt unsere Haare zusammen, blond, braun und schwarz.

Als wir uns nach einer gefühlten Ewigkeit wieder voneinander lösen, klammere ich mich an meine eigenen Worte. Jinia und Willow sind nicht allein, genau so wenig bin ich es.

Doch als die beiden sich schließlich umdrehen und langsam auf die Reihe der Zwölfjährigen zugehen, klafft ein seltsames großes Loch in meiner Mitte auf. Mit pochendem Herzen sehe ich den beiden nach, denen Rayam und Alani noch schwach hinterherwinken.

Ich spüre Atalas Hand, die meine Finger nimmt und sie sanft aus der Faust löst, zu der ich sie unbemerkt geballt hatte.

„Wir sehen uns."

Ein Satz, der mir in den letzten Jahren so oft Hoffnung verliehen hat und doch fehlt von dieser jetzt jede Spur. Atala drückt mir einen letzten Kuss auf die Stirn, bevor sie die Hände von Rayam und Alani ergreift und sich zu den weiteren Bewohnern gesellt, die nicht gezogen werden können.

Ein letztes Mal atme ich tief durch und nehme einen Hauch der salzigen Meerluft in mir auf, dann richte ich meinen Blick nach vorne und mache mich auf den Weg zur Bühne.

Als ich mit wackeligen Knien die hölzernen Stufen hinaufsteige, stolpere ich beinahe in Mags hinein, die wegen ihres Alters von zwei Friedenswächtern gestützt wird. Wir beide steuern geradewegs auf die Stuhlreihe zu, in denen sich bereits die restlichen Sieger platziert haben. Einer von ihnen ist Finnick Odair, der schöne Liebling des Kapitols, dessen bronzenes Haar im Sonnenlicht zu glänzen scheint. Sobald er Mags erblickt, bietet er ihr mit einem Lächeln seinen Arm an und sie stützt sich dankbar an ihn. Ich schenke ihm nur ein kurzes Nicken, mehr hält unsere Bekanntschaft kaum bereit. Zwar kreuzt er beinahe jeden Tag bei uns zuhause auf, doch nur, um Atala zu sehen, nicht mich. Die beiden verbindet auf eine ganz seltsame Weise eine enge Freundschaft, die ich noch nie wirklich verstanden habe.

Neben Finnick versinkt der klapprige Marlim Waterston beinahe vollkommen in seinem Stuhl. Er ist ein trotzdem noch relativ stämmiger Mann mit kurz geschnittenem, grauen Haar. Eine tiefe Narbe prägt sein eingefallenes Gesicht, zugefügt wurde sie ihm in seinen Hungerspielen. Obwohl er unser zweitältester Sieger ist, bekommt niemand im Siegerdorf ihn je wirklich zu Gesicht. Die meisten kennen ihn bloß als einen mürrischen alten Mann und das Kapitol hat ihn längst abgeschrieben.

Ganz anders Giorgia Pesceano, eine kräftigte, elegante Frau mit langen dunklen Locken und bernsteinfarbenen Augen, die wie kostbare Edelsteine funkeln. Sie ist die erste, die nach mir wieder die Spiele für unseren Distrikt gewonnen hat.

Neben ihr sitzt die bildschöne Rivenna, eine grazile, anmutige junge Frau, die als Karrieretributin vor sechs Jahren gewonnen hat. Ihr blondes Haar versucht, im Sonnenlicht zu schimmern und die klaren, saphirblauen Augen scheinen die Weite des Ozeans widerzuspiegeln. Ihr hohes Ansehen im Kapitol hat sie noch verstärkt, als sie sich direkt nach ihrem Sieg einen kleinen Dreizack auf ihren Nacken hat tätowieren lassen, als Symbol für unseren Distrikt. Doch zuhause im Siegerdorf, in dem sie gemeinsam mit meinem besten Freund Nale lebt, scheint sie ein anderer Mensch zu sein.

Als ich mich neben ihr in den freien Stuhl sinken lasse, schenkt sie mir ein kurzes Lächeln, doch verfällt daraufhin gleich wieder in ein Gespräch mit ihrem besten Freund Sohail Hard, der nur ein Jahr nach ihr im Alter von fünfzehn gewann. Und wenn ich ehrlich bin, sieht er beinahe noch immer so aus. Er ist recht klein und die dunklen Locken fallen ihm ins Gesicht, doch sein muskulöser Körper hinterlässt Eindruck.

Den letzten Stuhl unserer Reihe besetzt Annie Cresta, die bloß als „die Verrückte" in ganz Panem bekannt ist. Viel zu oft wird sie von den Geistern ihrer Vergangenheit geplagt und versteckt sich an der Seite von Finnick, in der Hoffnung, ihre seelischen Wunden so heilen zu können.

Diese sieben Menschen bilden mit mir zusammen die Gemeinschaft der Sieger von Distrikt vier. Man könnte meinen, bei den vielen kameraperfekten Gesichtern und Lächeln, die beinahe ein jeder von uns aufsetzen kann, würden wir unsere Siege feiern. Aber hinter all unseren Fassaden stecken gebrochene Herzen. Und doch herrscht eine ziemlich gute Nachbarschaft oben im Dorf. Nicht zuletzt deswegen, weil jeder neue Sieger, ganz gleich, was ihm in der Arena widerfahren ist, so aufmunternd und hoffnungsvoll aufgenommen wird wie möglich.

Ein dumpfes Klopfen auf ein Mikrofon reißt mich aus den Gedanken und mein Blick schnellt wieder nach vorne. Inzwischen blicken unzählige Gesichter zur Bühne hinauf, auf der sich in diesem Moment der Bürgermeister erhebt. Wie jedes Jahr hält er eine ermüdende Rede darüber, warum unser Distrikt die Strafe durch die Hungerspiele verdient hat. Von den dunklen Tagen ist die Rede, obwohl sich kaum noch jemand an diese erinnert. Ich habe eher das Gefühl, die Tage, in denen wir leben, sind die wahren dunklen. Der Krieg muss unvorstellbar schlimm gewesen sein, doch der jährliche Tod von dreiundzwanzig Kindern und Jugendlichen ist genauso barbarisch.

Aber wie alle anderen habe ich gelernt, eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Obwohl vor allem Rivenna und Finnick das noch viel besser können, setze ich ein Lächeln auf. Doch ich bringe es nicht über mich, Saphire zu beklatschen, als diese die auf die Bühne stolziert, um die Namen zu ziehen.

Nervös verknote ich meine Hände ineinander und suche die Menge nach Gesichtern ab, die ich kenne. Und tatsächlich bleibt mein Blick schließlich bei meinem Bruder Lim hängen, der mit besorgtem Gesichtsausdruck zu seinem Sohn Yohan in der Reihe der fünfzehnjährigen hinübersieht. Als mein Bruder mich entdeckt, versucht er genauso wenig wie ich, mir irgendetwas aufmunterndes zukommen zu lassen.

Ein paar Plätze neben ihm mache ich schließlich auch meine jüngere Schwester Annie an ihrem roten Haarschopf aus. An den Zipfel ihres Kleides klammern sich meine Nichten Lucy und Demi, die jedoch noch nicht alt genug für die Ernte sind.

Ebenfalls erkenne ich meinen besten Freund Nale in der Menge, mit dem ich gemeinsam mit Atala meine Kindheit verbracht habe. Ich spüre, wie seine besorgten Blicke immer wieder zwischen mir und seiner Freundin Rivenna hin und her huschen.

Sie alle haben mich mein Leben lang glücklich gemacht, doch an diesem Tag kann das niemand von ihnen. Egal, was in den nächsten Minuten geschehen wird, heute werden erneut zwei unschuldige Kinder ins Kapitol gebracht - mit der bitteren Gewissheit im Nacken, dass höchstens einer von ihnen jemals wieder lebend zurückkehren wird.

Vor lauter Anspannung scheint die Luft zu knistern, als das letzte Wort von Saphires Rede verstummt ist.

„So, kommen wir nun zu dem Teil, auf den wir alle so sehnlichst gewartet haben! Ladies first - wir beginnen mit dem Ziehen eines Mädchennamens!" verkündet Saphire freudestrahlend. Höflicher Applaus brandet auf, doch er ist deutlich müder als in den letzten Jahren. Mein Blick hascht zu den Karrieretributen, die sich in den meisten Fällen freiwillig melden, doch in den letzten Jahren ist ihre Anzahl auf eine sehr kleine Nummer zusammengeschrumpft. Wenn ich richtig zähle, sind es tatsächlich nur noch insgesamt sechs Jugendliche, die die Trainingsakademie besuchen.

Laut hallt das Klacken von Saphires Stöckelschuhen auf dem Holzboden und durch die eiserne Stille, die sich über den Versammlungsplatz gelegt hat. Ich spüre, wie sich Rivennas Hand beruhigend auf mein Bein legt. Sowohl sie, als auch die anderen Sieger wissen genau, dass es in diesem Jahr Jinias und Willows erste Ernte ist und - dass sie Siegerkinder sind.

Tief versenkt Saphire ihre Hand mit den krallengleichen Fingernägeln in der Glaskugel, wackelt ein bisschen mit den Papieren, um die Spannung anzuheizen und schnappt sich dann einen Zettel.

Während sie ihn glattstreicht und sich räuspert, spüre ich, wie ein Rauschen in meinen Ohren immer lauter wird, wie jedes Mal, wenn ich kurz vor einer Panikattacke stehe. Nicht jetzt, nein ...

Doch mein Herzschlag scheint sich ins Unermessliche zu beschleunigen. Der Holzboden vor meinen Füßen verschwimmt und löst sich zu einem wilden Meer und immer lauter wird das Rauschen eines Sturms in meinen Ohren. Doch inmitten des tosenden Orkans vernehme ich ihre Stimme, schrill, laut und deutlich.

„Der weibliche Tribut aus Distrikt vier für die 73. Hungerspiele ist - Jinia Olgivy!" 

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