01 | Von Salz und Muscheln
Atalas Atem streicht so leicht und sanft wie eine Feder über mein Schlüsselbein. Tief in meinem Inneren fühle ich sie, die Panik, die Angst, den Schmerz. Und doch verspüre ich nichts von alledem, wenn ich nach Atala horche. Dort antwortet mir nur Frieden. Dort lauern keine Schreie, keine Tränen, kein Zittern. Egal, wie konzentriert ich lausche, ihr Herzschlag bleibt so beständig wie das Meer und genau so sanft wie sein Flüstern.
Wenn ich an den bevorstehenden Tag denke, den Tag der Ernte der 73. Hungerspiele, fühle ich es wieder, das große, dunkle Loch, das in meiner Brust klafft. Seitdem ich aus der Arena zurückgekehrt bin, verfolgt es mich jeden Tag, wächst stetig an und frisst mich von innen auf.
Doch dann streicht Atalas Atem erneut über meinen Hals und ich vergesse. Eine schier unendlich lange Zeit konzentriere ich mich bloß auf das Heben und Senken ihres Brustkorbs. Ich atme im Gleichklang mit ihr und halte sie so fest, als würde ich sie nie wieder loslassen wollen. In ihren Armen habe ich die Ruhe gefunden, den Frieden, der mein Herz beständig weiter schlagen lässt.
Im Halbdunkel unseres Schlafzimmers existieren weder die Welt da draußen, noch ihre schmerzhafte Wahrheit. Hier gibt es nur uns beide, Arme und Beine mindestens genau so eng miteinander verschlungen wie unsere Schicksale.
Mit einem weiteren Atemzug nehme ich den Duft ihres Haars in mir auf. Ein Hauch von Salz, Blüten und Meer - genau das liebe ich.
Nach unbestimmter Zeit regt Atala sich und die blonden Strähnen rutschen ihr aus der Stirn. Ihre Augen öffnen sich langsam und schon findet mich ihr ozeanblaues Licht. Die ersten Sonnenstrahlen fallen ins Zimmer und nehmen den Schatten von dem Gesicht, das meinem so nahe ist. Kein Lächeln umspielt die Lippen. Atala weiß, dass sie damit nur lügen würde. Doch ich spüre ihren Herzschlag an meiner Brust, ihre Hand an meinen Schulterblättern und ihre Finger verschränkt mit den meinen.
Irgendwann, es könnten Minuten oder gar Stunden vergangen sein, richte ich mich schließlich auf und tappe auf das Fenster zu, welches noch immer von den dunkelblauen Vorhängen bedeckt ist. Vorsichtig schiebe ich sie zur Seite und sofort kitzeln die ersten Sonnenstrahlen mein Gesicht. Schnell drehe ich den Griff des Fensters und im nächsten Moment strömt mir der Geruch meiner Heimat in die Nase. Der ferne Duft der Salzwiesen, der intensive Duft der bunten Blumen in unserem Garten und der unendliche Duft des Meeres. Dazu mischt sich noch der feuchte Geruch des Regens, der sich in der letzten Nacht über den Distrikt gelegt hat. Von unserem Haus aus ist seine schöne Seite gut sichtbar.
Hoch auf den Klippen über dem Dorf wohnen die Sieger, sanfte Hügel zieren die Vorgärten ein jeden Hauses. Verheißungsvoll glitzert das Meer in der Ferne, doch am heutigen Tag sind keine Fischerboote auf den tiefblauen Wellen zu sehen.
Mit einem Mal spüre ich Atalas Finger, die sich um die meinen schlingen. Im nächsten Moment tritt sie neben mich und richtet ihren Blick hinaus auf die fernen Wellen. Sie ist eine muskulöse Erscheinung, wie sie dort zwischen den zarten Vorhängen lehnt, doch sie kann ungeahnt sanft sein. Schon immer war sie rau und abgehärtet, die meisten sehen sie bloß als finster und mürrisch. Doch hier, zwischen den Wellen des Meeres und meinen Armen, die sich um sie legen, ist sie der friedlichste, zarteste und sanfteste Mensch, den ich kenne.
Mit einem Mal spüre ich das Flüstern ihrer Stimme in meinem Nacken. „Hey, was auch immer heute geschehen mag, ich bin hier. Vergiss das nie." Ein schwerer Kloß häuft sich in meinem Hals zusammen, doch Atalas Worte können ihn zumindest ein wenig verringern.
Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange, bevor ich schließlich zu dem wuchtigen Kleiderschrank tapse, in dem wir unsere Kleidung aufbewahren. Eilig ziehe ich mich an. Je länger ich verweile, desto mehr gebe ich dem dunklen Raum in meinem Kopf Platz. Schon auf der Treppe nach unten binde ich schnell meine schwarzen Haare zu einem Dutt.
Ein wunderbarer Duft dringt aus der Küche, als Atala und ich ihre bunt gestrichene Tür öffnen. Neugierig folgen wir dem Geruch. Rayam steht am Ofen und löst gerade vorsichtig einen Laib frischgebackenen Brotes aus der Form. Ich lächle dem Jungen zu, der ebenfalls zu den Menschen gehört, die mich in den letzten Jahren so unendlich mit Glück erfüllt haben.
Neben ihm auf der Theke hockt seine jüngere Schwester Alani, die leuchtend blauen Augen wachsam auf uns gerichtet. Wie schon unzählige Male kommt es mir so vor, als würde sich der tosende Wellengang inmitten ihrer Augen wiederfinden.
Im selben Licht haben sie auch an dem Tag geleuchtet, an dem wir sie und ihre Geschwister zum ersten Mal gesehen haben. Jener eisige Winterabend, an dem das Meer wütender tobte als je zuvor. Jener Abend, an dem Atala und ich vier Kinder am abgelegensten Teil des Strandes fanden. Mutterseelenallein, allesamt zu jung, um schon irgendetwas wahrnehmen zu können und doch dem sicheren Tod durch Erfrieren gegenüberstehend.
Eigentlich hatten Atala und ich zuvor beschlossen, nie auch nur daran zu denken, in irgendeiner Form Kinder großzuziehen. Ich als Siegerin hätte ihnen ihr Leben lang einen besonderen Ruf verliehen, einen Ruf, der sie vermutlich allesamt eines Tages in die Hungerspiele gebracht hätte.
Doch an jenem Abend hatte sich etwas in mir gelöst, das ich noch nie zuvor gefühlt hatte. Es dauerte lange, bis das Kapitol unsere Adoption der vier ermöglichte, doch schon in dem Moment, als sich ihre winzigen Finger das erste Mal um unsere gewickelt hatten, wussten wir, dass es kein Zurück mehr gab.
„Das riecht echt gut." schmunzele ich Rayam zu, während er das dampfende Brot auf einem bereitgelegten Brett platziert.
„Siehst wohl endlich ein, dass ich darin besser bin, als du?" antwortet er frech und grinst verschmitzt, wobei sich seine Sommersprossen beinahe ganz bis zu den meergrünen Augen ziehen. Kopfschüttelnd strubbele ich ihm durch das dunkle Haar, doch kann mir ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
Stumm machen Atala und ich uns daran, Teller und Besteck für alle herzurichten, während Rayam das Brot in dicke Scheiben schneidet. „Heute habe ich ein neues Rezept ausprobiert." erzählt er fröhlich. Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus bei dem Klang seines Lachens. Dies ist wohl einer der Gründe, warum ich unseren Sohn so gerne um mich habe. Wo ich selber so oft nur eher wortkarg bin, schafft er es, das ganze Haus mit Leben zu füllen. Und das selbst an diesem schicksalshaften Tag.
„Wo sind Jinia und Willow ?" fragt Atala schließlich, als wir uns alle an den hölzernen Tisch im Garten gesetzt haben. Dicke Bienen summen umher und lassen sich ab und zu auf den bunten Blüten nieder, die das Gras zu unseren Füßen zieren. Es ist schwer, sich in diesem Garten nicht auch nur ein Stück weit wie im Paradies zu fühlen.
„Sie sind vor ein paar Minuten runter zum Strand gegangen. Ich glaube, sie wollten noch ein bisschen alleine sein wegen ... der Ernte heute." erzählt Alani, während sie sich ein Stück Brot mit der frischen Erdbeerkonfitüre bestreicht.
Obwohl um uns herum noch immer buntes Treiben herrscht, scheint sich mit einem Mal ein kalter Winterhauch über den Tisch gelegt zu haben. Die Ernte. Der Start in diesen sonnigen Tag hat mich schon beinahe wieder vergessen lassen, dass sie heute bevorsteht. Doch der Fakt, dass unsere Töchter Jinia und Willow dieses Jahr zum ersten Mal gezogen werden können, ist mir schon seit Monaten nicht mehr aus dem Kopf gewichen. Und heute ist es also wirklich soweit.
Jedes Kind in Panem, das es bis zu seinem zwölften Lebensjahr geschafft hat, musste dieses Gefühl durchmachen, genau so seine Eltern. Jahr für Jahr. Eine Strafe des Kapitols für die Aufstände der Distrikte vor mittlerweile über dreiundsiebzig Jahren.
Abwesend blicke ich auf die chaotischen Beete am bunt gestrichenen Gartenzaun. Beinahe jedes quillt vor den verschiedensten Gewächsen über, die die Kinder im Laufe der Jahre angepflanzt haben. Ich bin froh, dass es ihnen so viel Freude bereitet, denn weder Atala noch ich haben irgendein Gespür für sowas. Mithilfe der Kreativität von Jinia, Willow, Rayam und Alani ist aus der unangenehm perfekten Grasfläche ein buntes Durcheinander aus Blumen, Obst und Kräutern erwachsen.
Mein Blick bleibt bei einer gelben Sonnenblume hängen, die mittlerweile schon beinahe einen ganzen Meter in den Himmel ragt. Ich habe sie vor einiger Zeit gemeinsam mit Jinia und Willow gepflanzt. Eine kalte Hand scheint sich um meine Kehle zu legen, als ich wieder an die Angst denke, welche die beiden in diesem Moment wohl verspüren.
„Ich ... Ich schaue mal nach den beiden." murmele ich schließlich und schiebe mein Brett zur Seite. Als ich aufstehe, legt sich eine warme Hand auf die meine und Atala blickt mich aus traurigen Augen an.
Im nächsten Moment bin ich schon in meine Sandalen geschlüpft und habe das quietschend gelbe Gartentor geöffnet. Bevor ich den sandigen Weg hinuntergehe, der von unserem Zuhause wegführt, werfe ich nochmal einen Blick auf das Siegerhaus. Eine riesige Villa in einem kühlen Grau, doch die vielen bunten Dekorationen aus Muscheln und Seetang, mit denen die Kinder die Wände verschönert haben, verleihen den Eindruck von Leben. Genau so ist es mit den prächtigen Häusern, die ich meinen Geschwistern Annie und Lim von meinem Siegerlohn gekauft habe. Und obwohl wir allesamt nun in riesigen Villen leben, sehnen wir uns manchmal doch noch zurück an die alte, klapprige Felsenhütte, in der wir unsere Kindheit verbracht haben.
Der Wind lässt meine dunkelblaue Stoffhose um meine Beine schlackern, während ich den sanften Hügel hinabstreife, der zum Strand führt. Strahlend blau glänzt der Himmel über mir und lässt die Salzwiesen unter meinen Füßen aufblühen.
Nach einer Weile gräbt sich der erste Sand zwischen meine Zehen und vor mir erstreckt sich das Meer. Schließlich mache ich Willow und Jinia unten am Ufer aus. Instinktiv beschleunige ich meinen Schritt und lasse mich schon bald neben den beiden Mädchen nieder. Beide haben ihre nackten Füße ebenso wie ich in den Sand vergraben und lächeln mir zu, als sie mich entdecken.
Eine Weile lang beobachte ich die beiden aus dem Augenwinkel, während ihre Blicke dem Wellengang in der Ferne folgen. Wieder einmal fällt mir auf, dass man den beiden wirklich nicht ansieht, dass sie Zwillinge sind.
Jinias dunkelbraune Locken kräuseln sich in alle Richtungen und haben beinahe genau die selbe Farbe wie die Sommersprossen auf ihrem Gesicht. Genau wie bei mir leuchten ihre Augen in zwei unterschiedlichen Farben, das eine braun, das andere blau.
Willow hingegen sieht beinahe genau so aus wie die Willow, die in meinen Hungerspielen an meiner Seite gekämpft hat. Meine Freundin aus Distrikt sieben hatte genau die gleichen hellen Haare. Eigentlich hatte ich nie vor, einen der Kinder nach jemand Verstorbenen zu benennen - zu groß der Schmerz über die Vergangenheit. Doch als mich die wachsamen grünen Augen meiner Tochter zum ersten Mal angeblickt haben, habe ich sie gesehen. Willow.
Ein paar Minuten lauschen wir alle drei dem vertrauten Rauschen des Meeres, anstatt nach falschen Worten zu suchen. Nach einer Weile gesellt sich jedoch jemand viertes zu uns. Das breite Lächeln meiner Schwester Annie löst ein warmes Gefühl in meinem Bauch aus, als sie sich neben Willow in den Sand sinken lässt.
Ein paar Mal versucht mein Mund nach Worten zu suchen, die meine beiden Töchter in irgendeiner Weise aufmuntern können, doch Annie schüttelt sanft den Kopf. Mit einem Mal erhebt sie ihre Stimme.
„Worte sind wohl kaum das, was ihr jetzt braucht, oder?" fragt sie ihre beiden Nichten. Beide schenken ihr ein mattes Lächeln und daraufhin nehme ich die Hände der beiden Mädchen.
„Ihr seid nicht alleine, okay? Bitte vergesst das nie." flüstere ich kaum merklich, bis sich Jinia sanft an meine Schulter lehnt und für einen Moment die Augen schließt. Und wir verharren so. Ohne auf die beiden einzureden. Ohne ihnen die Lüge aufzutischen, dass sie auf keinen Fall für die Hungerspiele ausgelost werden.
Sanft zischt die Gischt vor meinen Füßen vor und zurück und hinterlässt weiße Schaumkronen auf dem weichen Sand. Eine Weile lang lasse ich die Sonnenstrahlen meine Wangen wärmen, während die morgendliche Brise versucht, meine Ängste und Sorgen davonzutragen. Doch das ist nicht möglich. Schon seit Jahren nicht mehr. Doch seitdem Jinia, Willow, Rayam und Alani auf der Welt sind, haben sie mich mit einem zuvor nie vorhandenen Glück erfüllt, genau so Atala.
Doch dieses Glück währt nicht ewig. Denn was bevorsteht, kann ich nicht verhindern. Ich kann den schrecklichen Gedanken nicht verhindern, der sich immer stärker, immer tiefer und immer schmerzhafter in mein Bewusstsein schleicht.
Ich weiß, dass Willow und Jinia jeweils nur einen einzigen Zettel unter tausenden haben. Ich weiß, dass die Chance so gering ist, dass man sie fast garnicht beachten muss. Doch ich weiß auch, dass das Kapitol es liebt, Siegerkinder in die Hungerspiele zu schicken. Sie lieben es, diese sterben und die Sieger in tausende Scherben zerbrechen zu sehen.
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