Kapitel 8 - Ally
Ally lief eilig um den Tresen herum, als Holly das Rezeptionsgebäude betrat.
„Wo wolltest du denn hin?", fragte sie, denn sie hatte beobachtet, wie Holly zum Bahnhof gegangen und kurze Zeit später wieder zurückgekommen war.
Holly brummte, ließ sich in einen der kleinen Korbsessel mit den orangenen Kissen fallen, die in einer Ecke zusammen mit einem kleinen, runden Tisch standen und fuhr sich durch die blonden Haare.
„Ich wollte eigentlich in ein Internetcafé, um Bewerbungen zu schreiben. Ich brauche dringend einen Job", erklärte sie, was Ally leise kichern ließ.
„Also Punkt eins: ein Internetcafé gibt es nur bei uns in Cooper Town. Punkt zwei: offensichtlich hast du den Sieben-Uhr-Bus verpasst, also kommst du da erst morgen wieder hin. Punkt drei: Bevor du dir einen Job suchst, brauchst du dringend ein Auto", sagte sie, während sie die Punkte an den Fingern abzählte.
Hollys Augen weiteten sich, als wäre ihr das alles nicht bewusst gewesen, bevor sie hier her gekommen war. Immerhin lebten sie hier inmitten der Chihuhua-Wüste, nicht gerade die Region in Texas, in der es große Städte zu finden gab. Vielleicht noch El Paso, aber dort war es wegen der Nähe zur mexikanischen Grenze und dem ganzen Drogenumschlag nicht wirklich sicher.
„Ja, das wird mir auch gerade klar. Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass es hier so abgeschieden sein würde", sagte sie, rieb sich noch einmal mit der Hand über die Stirn und lehnte sich anschließend in dem Sessel zurück.
Ally musterte sie, denn selbst wenn sie durch irgendein schlimmes Ereignis in Oregon weg musste, informierte man sich doch über die Gegend. Normalerweise suchte man sich zunächst eine feste Bleibe, einen Job und all das. Ally spürte, wie sie ein wenig misstrauisch wurde, auch wenn Holly sympathisch war.
„Wie kam es eigentlich, dass du ausgerechnet hier gelandet bist? Offensichtlich bist du mit dem Zug gekommen. Selbst mit einem Auto wäre das sicherlich eine 24-Stunden-Fahrt", rutschte es ihr heraus. Hollys Blick richtete sich auf sie und Ally bereute sofort, ihre Klappe nicht gehalten zu haben. In ihren Augen schimmerten Tränen, die sie eilig wegblinzelte und es war offensichtlich, dass sie an schlimme Dinge dachte.
„Ich bin bis nach El Paso geflogen und von dort mit dem Zug gefahren. Und ausgerechnet hier bin ich gelandet, weil ich einen Dartpfeil auf eine Landkarte geworfen habe", antwortete Holly monoton und Ally wurde den Verdacht nicht los, dass es gelogen war. Sie schluckte schwer, nickte dann aber.
„Oh, das...", stammelte sie, aber Holly machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Nein, schon okay. Es ist ja wirklich etwas seltsam, dass ich hier auftauche. Aber... ich musste weg aus Oregon. Weg aus meinem alten Leben", fuhr sie fort, was Allys Herz schwer werden ließ. Ihr brannte die Frage unter den Nägeln, was ihr wohl zugestoßen war, aber sie riss sich zusammen. Das ging sie nun wirklich nichts an und es war eindeutig, dass Holly nicht darüber reden wollte. Zumindest nicht mit ihr und nicht jetzt.
Ally räusperte sich, lehnte sich lässig mit dem Rücken gegen den Tresen und stützte die Ellbogen darauf ab.
„Also du brauchst Internet, um dir ein Auto und einen Job zu suchen", wechselte sie das Thema und sofort nickte Holly, offensichtlich erleichtert, dass sie nicht weiter in ihrer Vergangenheit bohrte und ihr plötzliches Auftauchen hinterfragte.
Ally warf einen Blick nach draußen, aber Vincenzos Auto war nirgends zu sehen. Er war gleich nach ihrem Schichtbeginn weggefahren, da er irgendwelche Materialien besorgen wollte, um ein wenig zu renovieren. Vermutlich würde er erst in ein paar Stunden zurückkommen.
„Was für ein Zufall, denn ich habe hier Internet", sagte sie, grinste und deutete mit dem Kopf auf den alten, aber funktionsfähigen Computer hinter dem Tresen. Holly riss überrascht die Augen auf.
„Aber... das ist doch dein Arbeitsplatz", setzte Holly an, aber Ally lachte nur.
„Ja genau und wie du vielleicht schon gemerkt hast, ist hier nicht gerade der Nabel der Welt und ich habe meistens nichts zu tun. Komm schon, ich helfe dir beim Suchen", sagte sie, stieß sich vom Tresen ab und trat wieder dahinter.
„Bring dir den Stuhl mit", sagte sie noch und ohne zu zögern erhob Holly sich, griff nach dem Stuhl und trug ihn ein wenig ungeschickt zu ihr hinter den Tresen. Ally ließ sich auf ihrem schwarzen, nicht mehr ganz so neuen Drehstuhl nieder und beendete durch ein paar ruckartige Bewegungen den Bildschirmschoner.
„Daran kannst du dich auch direkt gewöhnen: Hier ist alles ein wenig älter und langsamer. Aber es hat auch Vorteile, auf dem Land zu leben", sagte sie, während sie darauf wartete, dass sich das Internet öffnete.
„Republikanische Denkweisen?", warf Holly ein und als Ally den Kopf zu ihr herumdrehte, bemerkte sie, dass sie errötete. Ein Grinsen breitete sich auf ihren Lippen aus, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass Holly Witze machte. Kichernd beugte Ally sich näher an sie heran.
„Verrat es keinem, aber ich wähle grundsätzlich demokratisch", flüsterte sie, als wäre es ein Geheimnis. Holly gluckste.
„Na, dann sind wir schon zu zweit", sagte sie, wandte sich anschließend aber dem flackernden Bildschirm zu. Auch Ally lenkte ihre Konzentration wieder auf den Computer und öffnete die Suchmaschine.
„Okay, suchen wir zuerst nach einem Auto für dich. Wie ist dein Budget?", fragte sie und rief die Internetseite des Autohändlers auf, bei dem auch sie ihr Auto gekauft hatte. Zwar wusste sie nicht wirklich, auf was man achten musste, aber Winston meinte, dass er seriös war. Holly legte den Finger ans Kinn, als würde sie überlegen.
„Ich brauche ja nichts wahnsinnig Tolles. Vielleicht 4000 Dollar?", erwiderte sie und sah fragend zu Ally, denn ganz offensichtlich hatte sie genau so wenig Ahnung von Autos wie sie selbst.
„Okay, suchen wir mal", sagte sie, klickte sich durch die verschiedenen Angebote und blieb recht schnell bei einem Ford Focus hängen.
„Das sieht interessant aus", sagte sie und warf einen fragenden Blick zu Holly, die langsam nickte.
„Wäre auf jeden Fall im Budget. Meinst du, wir könnten nachher mal hinfahren und ihn uns ansehen?", wollte sie wissen und sofort nickte Ally.
„Klar, wenn ich Feierabend habe, könnten wir schnell rüberfahren", versicherte sie, auch wenn sie eigentlich den Mietvertrag hatten unterschreiben wollen. Da Winston aber ohnehin länger arbeiten musste, wäre es sicherlich kein Problem, wenn sie etwas später kamen.
„Danke", sagte Holly erleichtert, was in Ally ein angenehmes Gefühl auslöste. Sicherlich kannten sie sich noch nicht wirklich gut, aber es war schön, ihr helfen zu können. Sie klickte wieder auf die Suchmaschine und suchte nach Stellenangeboten, aber das war nicht ganz so einfach, vor allem da Holly nicht wirklich wusste, was sie machen wollte.
„Meinst du, es wäre einfacher, wenn ich einfach durch die Stadt gehe und nach Aushängen suche?", fragte sie, stützte ihren Kopf auf einer Hand ab und blies die Wangen auf.
„Ja, das könnten wir versuchen. Leider gibt es hier in Cooper Town nicht allzu viele Jobs und die nächste größere Stadt ist zu weit weg, um dort auch zu suchen. Wenn du Lust hast, machen wir das morgen, da habe ich frei", schlug so vor und auch wenn Holly nickte, wirkte sie auf einmal, als wäre es ihr unangenehm.
„Hey, das ist schon okay. Du bist neu hier und kannst Hilfe gut gebrauchen", sagte sie, streckte die Hand aus und drückte leicht Hollys Arm. Sie seufzte, nickte dann aber.
„Ja, du hast recht. Danke, dass du das für mich machst. Das ist wirklich nett", sagte sie, sah schüchtern zu ihr und lächelte.
„Kein Problem. Ich helfe gern", sagte sie und musste auf einmal an den Tag denken, an dem sie hier angekommen war. Allerdings war sie nicht von so weit weg gekommen wie Holly, sondern nur aus einem Ort knapp zwei Autostunden entfernt, aber auch sie hatte mit nichts hier gestanden. Genau wie Holly hatte sie jemanden gefunden, der ihr bei allem geholfen hatte, einfach aus Nettigkeit. Das war Winston gewesen. Vielleicht war es einfach die Mentalität der Texaner, nett und hilfsbereit zu sein. Zumindest auf die meisten traf das sicherlich zu, denn ihre Eltern gehörten nicht zu dieser Sorte.
Kopfschüttelnd verdrängte Ally den Gedanken an ihre Eltern, die sie vor etwas mehr als sechs Jahren das letzte Mal gesehen hatte und wandte sich wieder Holly zu. Die jedoch sah verlegen auf ihre Hände, so als wäre ihr die Situation auf einmal unangenehm. Ally suchte nach irgendetwas Unverfänglichem, über das sie mit ihr reden konnte, doch bevor ihr Hirn darüber nachgedacht hatte, fing ihr Mund schon an zu sprechen.
„Ich habe gestern Abend mit Winston geschlafen", sagte sie und sofort schoss Holly die Röte ins Gesicht.
„Oh", brachte sie nur hervor und Ally sah, wie ihre Mundwinkel zuckten.
„Wie kam es denn dazu?", fragte sie anschließend, nun Neugierde in ihrem Blick. Wehmütig dachte sie an den vergangenen Abend zurück und spürte augenblicklich eine Welle der Erregung durch sich gehen.
„Naja, ich habe ihm eigentlich keine Wahl gelassen. Es war... zur Versöhnung. Wir haben davor gestritten, weil er mir noch einmal sagen musste, dass er keine Beziehung mit mir will", sagte sie betont lässig, aber ihr Herz wurde schwer. Holly nickte zwar, sah aber aus, als könnte sie ihr Verhalten nicht nachvollziehen. Ihre Stirn lag in Falten, die sich jedoch schnell wieder glätteten.
„Also... wenn er sich so sicher ist, dass er keine Beziehung mit dir will, warum... ich meine, es wird für dich dadurch nicht leichter", sagte Holly, wieder einmal eine leichte Röte auf den Wangen. Ally schluckte, denn natürlich hatte sie recht.
„Naja, wenn das alles ist, was ich von ihm bekommen kann, dann nehme ich es", sagte sie leise und wusste selbst, dass das ganz und gar nicht zu der selbstbewussten Frau passte, die sie inzwischen geworden war.
Einen Moment lang schwieg Holly, dann holte sie tief Luft.
„Das ist deine Entscheidung. Aber wenn du meine Meinung dazu hören willst: Hör auf damit. Es wird deine Gefühle für ihn immer stärker werden lassen und er scheint sehr sicher zu sein, dass er dich nicht liebt", sagte sie und Ally spürte, wie ihr auf einmal das Atmen schwer fiel. Natürlich war es genau so, wie Holly sagte, aber sie konnte ihn noch nicht los lassen.
„Ich will ihn noch nicht aufgeben. Ich...", setzte sie an, unterbrach sich aber. Nun war es Holly, die sanft ihre Schulter drückte.
„Das sollte keine Kritik sein. Wenn du es so möchtest, dann mache es so. Aber auf lange Sicht wäre es besser, wenn du damit aufhörst. Zumindest wenn deine Gefühle nicht weggehen", sagte Holly und als Ally den Blick hob, trafen sie den ihren.
Sie erkannte, dass in ihren Augen sehr viel mehr Tiefe lag, als man es jemandem in ihrem Alter zutrauen würde.
„Klingt, als sprichst du aus Erfahrung", riet sie, denn Holly schien was dieses Thema betraf ziemlich abgeklärt zu sein. Für eine Sekunde schloss sie die Augen.
„Mag schon sein", sagte sie nur, wandte sich wieder dem Bildschirm zu und gab etwas in die Suchmaschine ein. Neugierig beobachtete Ally, was sie dort eingab und als sie es erkannte, lachte sie leise.
„Guadalupe-Mountains-Nationalpark?", fragte sie und sofort nickte Holly.
„Ja, da will ich unbedingt mal hin", sagte sie, was Ally kichern ließ.
„Winston und ich waren da mal zelten. Die Landschaft ist beeindruckend, aber es gibt jede Menge Schlangen", sagte Ally und erinnerte sich nur zu gut an ihren Ausflug im letzten Jahr. Ja, es hatte Spaß gemacht, alles mit Winston machte Spaß, aber sie hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan. Ständig hatte sie geglaubt, eine Schlange wäre ins Zelt gekrochen, was Winston ungeheuer lustig gefunden hatte. Hollys Augen glänzten auf einmal.
„Ich bräuchte dringend mal etwas Ablenkung. Ich hatte sehr viel Stress in letzter Zeit", sagte sie und sofort wurde Ally wieder bewusst, dass sie beinahe wirkte, als wäre sie aus Oregon geflohen.
„Wir können es nachher Winston vorschlagen, er ist sicherlich für ein Wochenende in der Wildnis zu haben", sagte sie und sah, wie Hollys Grinsen breiter wurde.
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