Kapitel 7 - Holly

Der angenehm kühle Wind des Deckenventilators wehte Holly das Haar ins Gesicht, aber ohne dieses Teil war es einfach viel zu heiß. Nachdem Ally sie zurück ins Hotel gebracht hatte, war sie sofort ins Bett gefallen, so müde war sie gewesen, aber nun konnte sie nicht schlafen. Es musste schon spät sein und eigentlich hatte sie morgen viel vor, aber ihre Gedanken hörten nicht auf zu kreisen. 

Sie war erst heute Morgen hier angekommen und doch fühlte es sich so an, als sei es schon eine Ewigkeit her. Noch nie in ihrem bisherigen Leben hatte sie so schnell Kontakte knüpfen können und noch nie hatte sie sich so selbstbewusst gefühlt. 

Es war schwierig zu beschreiben, denn auch wenn sie bisher gut zurecht gekommen war, zählte sie immer zu den unscheinbaren Menschen. Sie sprach nicht viel, wenn sie Leute noch nicht gut kannte und auch wenn heute Ally und Winston die meiste Zeit herumgealbert hatten, kam es ihr vor, als hätte sie einen Meilenstein geschafft. So als wäre es ihr gelungen, endlich so frei zu sein und so locker mit Menschen umzugehen, wie sie es sich immer vornahm, aber dann doch nie schaffte. 

Lag es daran, dass sie nun Holly und nicht mehr Rebecca war? Ein Schnauben entfuhr ihr, denn selbst mit neuem Namen und neuem Lebenslauf war sie noch immer dieselbe. 

Missmutig über ihre überschwänglichen Gedanken drehte sie sich auf die Seite und zog die Knie an. Wahrscheinlich war sie heute einfach nur ein wenig aufgekratzt gewesen, das war alles. Morgen würde sicherlich alles wieder normal sein. Sie war wie immer die schüchterne, kleine, unscheinbare junge Frau, die sie immer gewesen war. Denn auch wenn sie sich immer etwas anderes gewünscht hatte, fühlte sie sich in dieser Rolle wohl. 

Holly atmete tief durch und versuchte so, die Selbstzweifel und die Verwirrung zu vertreiben. Allerdings gelang es ihr nicht wirklich, denn immer und immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Winston und Ally. Die Freundschaft der beiden schien wirklich besonders zu sein und auch wenn Ally offensichtlich mehr für Winston empfand, als er für sie, beneidete sie sie. 

Schon immer hatte sie sich eine solche Freundschaft erträumt, in der sie locker und gelöst und ganz sie selbst sein konnte. Zwar hatte sie als Rebecca auch Freunde gehabt, aber nie wirklich enge. 

Vielleicht war das ja ihre Chance, endlich so zu sein, wie ihre Fantasie es sich immer ausgemalt hatte. Sie würde morgen den Mietvertrag unterschreiben, sich ein paar Möbel besorgen und anschließend einen Job suchen. War doch ganz einfach, so ein neues Leben. 

Holly spürte, wie sie schließlich doch die Müdigkeit überwältigte und unerwartet plötzlich fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

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Holly wachte von einem ziemlich penetranten Klopfen an ihrer Zimmertür auf. Verwirrt sah sie sich um und es dauerte einen Moment lang bis sie begriff, dass sie nicht in ihrem Zimmer in ihrem Elternhaus war, sondern in einem Hotelzimmer. In Texas, am anderen Ende des Landes. 

Noch immer klopfte es und ihr dämmerte allmählich, dass sie aufstehen und die Tür öffnen müsste, wenn sie wollte, dass es aufhörte. Mühsam strampelte sie das dünne Laken, das sie als Decke benutzt hatte, beiseite und erhob sich. Eilig griff sie nach ihrer Brille, die neben ihrem Bett auf dem kleinen Beistelltischchen lag und setzte sie auf. Sofort war die Welt etwas klarer. 

„Ich komme ja schon", rief sie und endlich hörte der Besucher auf zu klopfen. Sie griff nach ihrer Strickjacke, die natürlich viel zu heiß war, aber zumindest ein wenig ihre Blöße bedecken würde, immerhin trug sie nur ein Top und eine kurze Schlafhose. 

Sie ging zur Tür und öffnete sie einen winzigen Spalt, durch den sie gerade so hinausblicken konnte. Die Sonne, die schon jetzt unbarmherzig vom Himmel strahlte, blendete sie, doch sie erkannte deutlich Allys rote Haare. 

„Guten Morgen! Wie hast du geschlafen?", fragte Ally, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie noch ziemlich verschlafen aussehen musste. 

„Gut", brummte sie und als sich ihre Augen endlich an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie Ally an. Sie grinste übers ganze Gesicht, als wäre sie froh, sie zu sehen. 

„Ich wollte auch nur noch einmal fragen, ob du es dir nicht anders überlegt hast. Mit dem Zimmer meine ich", plapperte sie drauf los und klang dabei nervös wie ein kleines Kind an Weihnachten. Holly gähnte und rieb sich den Schlaf aus den Augen, bevor sie antwortete. 

„Nein, ich habe es mir nicht anders überlegt. Ich würde gern bei euch einziehen. Wenn es für euch okay ist", sagte sie matt, was Ally mit einem aufgeregten Quietschen kommentierte. 

„Fantastisch! Ich komme dich nach meiner Schicht abholen", verkündete sie, doch bevor Holly noch etwas sagen konnte, wurde Ally von der wütenden Stimme ihres Chefs gerufen. Unsanft zuckte sie zusammen und riss den Blick herum. 

„Ja!", schrie sie ihrem Chef zu, wandte sich dann aber noch einmal Holly zu. 

„Ich muss los. Wir sehen uns später! Und... vielleicht steigst du mal unter die Dusche, du siehst noch ganz verschlafen aus", sagte sie, machte auf dem Absatz kehrt und lief eilig zurück in Richtung der Rezeption. 

Holly fühlte sich ein wenig überrumpelt von Ally, gleichzeitig brachte sie ihre aufgewühlte, fröhliche Art ein wenig zum Schmunzeln. Ally war so anders als sie selbst und doch schien sie sie zu mögen. 

Hollys Lippen zuckten zu einem Lächeln, doch dann holte sie sich zurück ins Hier und Jetzt. Ally hatte recht, sie sollte dringend duschen. Sie warf die Tür unsanft ins Schloss, wandte sich um und schlurfte in Richtung Bad. Im Gehen warf sie ihre Strickjacke auf den Sessel, der in dem kleinen Zimmer in einer Ecke stand. Die warmen Klamotten, die sie sicherheitshalber einmal mitgenommen hatte, würde sie sicherlich in den nächsten Wochen nicht brauchen. 

Sie verschwand im Bad und schloss die Tür hinter sich. Das elektrische Sirren der Deckenlampe erschien ihr viel zu laut und ließ sie sich merkwürdig unbehaglich fühlen. Hoffentlich würde nachher alles mit dem Mietvertrag klappen und sie könnte dieses Hotel verlassen.

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Nachdem Holly sich fertig gemacht hatte, verließ sie ihr Zimmer und machte sich auf den Weg in Richtung der kleinen Innenstadt. Als sie an der Rezeption vorbeiging sah sie Ally, die gerade mit einem Gast im Gespräch war. Unwillkürlich legte sich ein Schmunzeln auf ihre Lippen, denn Ally schien aus irgendeinem Grund einen Narren an ihr gefressen zu haben. Nicht, dass sie sich beschwerte, sie fand es gut, dass sie schon Kontakte hatte knüpfen können, aber wie immer blieb sie misstrauisch. 

Auch wenn sie sich neu erfinden konnte, war das sicherlich gar nicht so leicht, wie man es sich vorstellte. 

Holly schlenderte über das Gelände des Hotels und verließ es schließlich durch das kleine, klapprige Tor. Obwohl es erst neun Uhr morgens war, schien die Sonne mit einer ungewohnten Kraft vom Himmel und Holly fing an zu schwitzen. 

Sie sah sich suchend um, aber außer dem Bahnhof auf der gegenüberliegenden Straßenseite war weit und breit nichts zu sehen außer die lange, gerade Straße. Links und rechts davon lag staubige, wüstenähnliche Landschaft, hin und wieder tauchte ein Kaktus oder irgendein anderes, vertrocknet wirkendes Gestrüpp auf. 

Holly entfuhr ein Seufzen. Hier war es wirklich einsam und sie fragte sich, für wen dieser Bahnhof hier mitten im Nichts sein sollte. Hier wohnte immerhin weit und breit niemand. 

Sie wandte sich nach rechts, denn in diese Richtung war Ally gestern mit dem Auto gefahren. Allerdings hatte es eine ganze Weile gedauert, bis sie in etwas Stadtähnliches gekommen waren. 

Kopfschüttelnd zog sie ihr Handy aus ihrem Rucksack und öffnete Google Maps. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis sich die Karte aufbaute, doch als ihr bewusst wurde, dass tatsächlich die Ortschaft, in der Ally und Winston wohnten, die nächste war, verabschiedete sie sich von ihrem Plan, in die Stadt zu gehen. 

Stattdessen überquerte sie die Straße und betrat die unerwartet kühle Bahnhofshalle. Sie trat an die Aushangkästen und suchte nach einer Bahnverbindung, die sie möglicherweise in eine größere Stadt bringen konnte, doch ganz offensichtlich fuhren die Züge hier nicht häufig. 

Einer fuhr drei Mal täglich nach El Paso, was jedoch knapp 100 Meilen entfernt war. Mit dem Zug würde sie auch nicht schnell in eine Stadt kommen, also wandte sie sich dem Busplan zu. Zumindest schienen hier etwas mehr Verbindungen zu existieren und ein wenig hoffnungsvoller suchte sie nach einem Namen, der laut Maps nicht allzu weit entfernt war und nach etwas mehr Zivilisation klang. Jedoch gab es in einem Umkreis von knapp 30 Meilen nur die Stadt, in der Winston und Ally lebten. 

Holly glitt mit dem Finger über den Aushang und fand schließlich eine Buslinie, die dorthin fuhr. Als sie jedoch die Abfahrtszeit sah, verließ sie der Mut. Der Bus fuhr morgens um sieben Uhr hin und abends um sieben Uhr wieder zurück. Fantastisch. 

Was hatte Mr. Bell sich nur dabei gedacht, sie in diese verlassene Gegend zu schicken, ohne ein Auto und ohne irgendeinen Kontakt? Holly kratzte sich an der Schläfe und überlegte, was sie nun tun sollte. Wie es aussah, kam sie hier ohne ein Auto nicht weg und ihr Plan, in einem Internetcafé einige Bewerbungen zu schreiben, schien aussichtslos. 

Sie trottete wieder zurück zum Hotel und als sie an der Rezeption vorbeiging, wanderte ihr Blick automatisch hinein. Ally schien sie genau in diesem Moment zu bemerken, denn sie winkte fröhlich grinsend. Holly winkte ebenfalls und entschied sich, Ally ein wenig Gesellschaft zu leisten. 

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