Kapitel 59 - Ally

Eher missmutig betrat Ally die Rezeption des Hotels, denn es war schon heute Morgen viel zu heiß. Als erstes stellte sie den Ventilator ein, der zumindest ein klein wenig Abkühlung brachte. 

„Oh, hi! Da bist du ja. Hast du was von Vincenzo gehört?", hörte sie die Stimme ihres Kollegen Jamie, der gerade aus dem hinteren Büro kam. Verwirrt sah Ally ihn an. 

„Nein, ich habe ihn auch am Freitag nicht gesehen", sagte sie und erinnerte sich daran, dass ihr Chef den ganzen Tag nicht aufgetaucht war. Jamie, ein Kerl Mitte dreißig mit braunem Haar kam mit verschränkten Armen zu ihr. 

„Seit Freitag ist er schon verschwunden?", fragte er, eindeutig besorgt. Ally durchfuhr ein Schock. 

„Verschwunden? Du meinst, er war auch das ganze Wochenende nicht hier?", fragte sie, was Jamie den Kopf schütteln ließ. 

„Nein, ich hatte beide Tage Nachtschicht und auch in der Tagschicht war er nicht hier", sagte er, legte einen Finger ans Kinn, als würde er nachdenken und griff schließlich nach seinem Handy, das neben dem Computer an der Rezeption lag. 

„Ich rufe ihn an", sagte er und auf einmal fühlte Ally sich schlecht, dass sie nicht schon am Freitag auf diese Idee gekommen war. Hinterher war ihm etwas passiert. Ihr Herz klopfte auf einmal schneller, denn auch wenn Vincenzo so durchaus seine Macken hatte, war er ihr doch irgendwie ans Herz gewachsen. Ängstlich sah sie zu Jamie, der sich das Handy fest ans Ohr presste und angestrengt lauschte. Ally hörte das Tuten, so laut war sein Handy eingestellt. Je länger es tutete, desto nervöser wurde sie. Als schließlich nach einer Ewigkeit eine monotone Computerstimme mitteilte, dass der gewünschte Teilnehmer zur Zeit nicht erreichbar war, überkam Ally ein mulmiges Gefühl. Jamie ließ langsam das Handy sinken und sah sie hilfesuchend an. 

„Er geht nicht dran. Sollten wir... sollten wir vielleicht mal zu ihm nach Hause fahren? Ich meine... es ist ungewöhnlich, dass er mehrere Tage nicht auftaucht, findest du nicht?", fragte er und wie automatisiert nickte Ally. Sorge breitete sich in ihr aus, gleichzeitig fühlte sie sich wie gelähmt. Was sollten sie nur tun, wenn Vincenzo wirklich etwas zugestoßen war? 

„Komm, wir machen hier alles dicht und fahren zu ihm. Druckst einen Zettel aus, den wir in die Tür hängen können?", fragte er und sofort setzte Ally sich an den Computer. Hoffentlich klärte sich alles und Vincenzo genehmigte sich nur eine Auszeit und hatte bloß vergessen, ihnen Bescheid zu geben.

Wahnsinnig langsam kam der Zettel aus dem Drucker und kaum dass er draußen war, riss Ally ihn heraus und klebte ihn mit Tesafilm an die Tür. 

„Komm", sagte sie, schnappte sich ihre Handtasche und hetzte zu ihrem Auto. Jamie folgte ihr und stieg ohne zu fragen auf der Beifahrerseite ein. 

„Du fährst Richtung El Paso", navigierte er sie und sie gehorchte. Die ganze Fahrt über herrschte angespanntes Schweigen, nur Jamies Wegbeschreibungen durchbrachen die Stille. 

„Hier vorn ist es, das Haus da", sagte Jamie und Ally lenkte den Wagen nach rechts auf die Einfahrt des freistehenden, unerwartet großen Hauses. Sofort erkannte sie Vincenzos Auto, das nun vor ihrem in der Einfahrt stand. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust und eilig sprang sie aus dem Auto. Jamie folgte ihr und gemeinsam hetzten sie den kleinen Weg entlang, der zu Haustür führte. Hier gab es keine direkten Nachbarn, das nächste Haus war bestimmt eine Meile entfernt. 

Vor der Tür hielt Ally inne und sah fragend zu Jamie, der genau so verunsichert wirkte wie sie selbst. Was, wenn sie gleich Vincenzos Haus verlassen vorfanden? Was sollten sie dann tun? 

Ally spürte, wie sie anfing zu zittern. Glücklicherweise übernahm Jamie die Führung und klingelte. Das schrille Geräusch bohrte sich durch ihre Trommelfelle, aber es kam keine Reaktion von drinnen. Auch das zweite Klingeln blieb unbeantwortet. 

Jamie sah sich suchend um und ging schließlich zu einem Fenster, das neben der Tür lag. Ally folgte ihm und spähte vorsichtig durch die Lücke zwischen den Gardinen. Sofort durchfuhr sie ein Schock und ein unterdrückter Schrei entfuhr ihr, denn sie konnte Vincenzos Füße sehen, die hinter dem Sofa hervorlugten. 

„Oh Gott, Jamie, er liegt da", schrie sie und schlug mit der flachen Hand gegen die Fensterscheibe. 

„Vincenzo!", rief sie und wieder war es Jamie, der handelte. 

„Ich rufe einen Krankenwagen. Schlag das Fenster ein!", sagte er, wandte sich ab und zog sein Handy aus der Hosentasche. Ally sah sich suchend nach etwas um, mit dem sie die Scheibe einschlagen konnte und entdeckte schließlich einen kleinen Hund aus Stein, der neben der Haustür stand und ein kleines Willkommen-Schild um den Hals trug. Sie schnappte ihn sich und schleuderte ihn mitten durch die Scheibe, die mit einem lauten Klirren zu Bruch ging. Trotz des Lärms rührte Vincenzo sich nicht. 

Panik breitete sich in Ally aus, denn womöglich lag er tatsächlich schon seit Freitag verletzt in seiner Wohnung. Vielleicht war er gestürzt und hatte sein Telefon nicht mehr erreichen können, um Hilfe zu holen. 

Geistesgegenwärtig griff Ally durch die zerbrochene Fensterscheibe, löste die Verriegelung des Fensters und schob es hoch. Genau in diesem Moment kam Jamie zurück, der an ihr vorbei geschickt durch das Fenster kletterte. Sie hörte, wie er mit den Sanitätern am Telefon sprach und zu Vincenzo eilte. 

Ally schluckte schwer, denn auf einmal kam ihr ein erschreckender Gedanke. Was, wenn Vincenzo tot war? Wollte sie dann wirklich auch ins Haus? Sie wurde panisch, beinahe hysterisch und musste erst einmal tief durchatmen. Allmählich beruhigte sie sich wieder und sie schaffte es, wieder rational zu denken. 

Sie kletterte etwas ungeschickter ebenfalls durchs Fenster ins Innere des Hauses. Die Glassplitter, die sich in ihre Hände und Knie bohrten, bemerkte sie gar nicht. 

Mit einem Satz war sie bei Vincenzo. Er lag auf dem Rücken, das Gesicht kreidebleich. Jamie hatte sein Ohr auf seine Brust gelegt, offensichtlich kontrollierte er, ob sein Herz noch schlug. Unwillkürlich streckte Ally die Hand nach der ihres Chefs aus. Zu ihrer Erleichterung war sie warm und sie glaubte, dass er den Händedruck kaum merklich erwiderte. 

„Er lebt! Vincenzo! Hörst du mich?", rief Jamie, während er unsanft an Vincenzos Schultern rüttelte. Allerdings schien er nicht bei Bewusstsein zu sein. 

„Er reagiert nicht", sagte Jamie in sein Handy, dann lauschte er eine ganze Weile, bevor er auflegte. 

„Geh nach draußen und wink den Krankenwagen heran, ich bleibe hier bei ihm", sagte er in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. Ally gehorchte. Sie rannte zur Haustür, drehte den Schlüssel herum und trat ins Freie. Ihr Herz raste und sie bekam weiche Knie, sodass sie beinahe hingefallen wäre, als sie zurück zur Straße rannte. Vincenzo lebte. Das war das einzige was zählte. 

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