Kapitel 34 - Holly
Holly warf einen besorgten Blick zu Ally, als sie sich noch einen Becher füllte. Sie selbst hatte nach einem Becher aufgehört und auch Winston hatte eine schon eine ganze Weile nur Cola getrunken, während Ally zusehends angetrunkener wurde.
„Mach mal langsam, Ally", sagte Winston, der offensichtlich genau den gleichen Gedanken hatte wie sie. Ally streckte trotzig ihr Kinn vor, schraubte aber den Deckel auf die Whiskey-Flasche und schob sie ein Stück von sich weg.
„Ich habe Hunger", jammerte sie, was Winston seufzen ließ.
„Ich hole die Cracker aus dem Auto", sagte er, griff nach dem Autoschlüssel, der neben der Lampe hing und verließ das Zelt. Kaum dass er draußen war, seufzte Ally herzzerreißend.
„Er sieht wahnsinnig scharf aus von hinten, oder?", fragte sie verträumt, was Winston augenblicklich lachen ließ.
„Ich kann dich hören", rief er, was Holly grinsen ließ. Dennoch nickte sie, legte aber einen Finger an die Lippen, damit Ally ihre Zustimmung nicht direkt herausposaunte.
Ein wenig nervös beobachtete sie Ally, die in tiefen Zügen aus ihrem Becher trank. Keine Sekunde später kam Winston wieder ins Zelt und warf die Crackerpackung in Allys Schoß, die sich sofort darüber hermachte. Sie schmatzte und reichte die Packung an Holly weiter, die sich ebenfalls ein paar herausnahm. Sie hielt Winston die Cracker hin, doch er schüttelte den Kopf. Kein Wunder, immerhin hatte er die Hälfte bereits im Auto verdrückt.
„Wir sind gar nicht mehr weit von New Mexico entfernt", sagte Ally auf einmal und starrte erst sie, dann Winston an, als wäre das eine bahnbrechende Erkenntnis.
„Stimmt", gab Holly zurück, auch wenn sie keine Ahnung hatte, warum Ally das sagte. Da bemerkte Holly Winstons argwöhnischen und zugleich besorgten Blick, den er Ally zuwarf.
„Ich war schon mal in New Mexico", fuhr sie fort, was Holly lachen ließ. Allerdings war sie die Einzige und auf einmal bemerkte sie die bedrückte Stimmung. Sofort bildete sich ein Kloß in ihrem Hals, denn ganz offensichtlich musste Ally mit New Mexico negative Erinnerungen verbinden.
„Ally", mahnte Winston und als Holly den Blick zu ihm wandte, wurde ihr klar, dass er Bescheid wusste. Irgendetwas musste in New Mexico passiert sein, dass Ally traurig stimmte. Holly schluckte schwer, denn sie wusste nicht so recht, ob sie Ally danach fragen sollte. Aber anscheinend bedrückte es sie und wollte es loswerden.
„Was war denn in New Mexico?", fragte sie, bevor sie länger darüber nachdenken konnte. Allerdings spürte sie augenblicklich den strafenden Blick von Winston, den sie erschrocken erwiderte. Ally seufzte, fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und hob den Blick.
„Danach habe ich Winston kennengelernt", berichtete sie und Holly bemerkte, dass Winston unruhig hin und her rutschte.
„Ally, bist du dir sicher, dass du jetzt darüber reden willst?", fragte er, wie es schien wirklich in Sorge.
„Es macht mir nichts mehr aus, Win", fuhr sie ihn beinahe schnippisch an, trank aber noch einmal einen großen Schluck.
„Außerdem sollte Holly als meine Freundin es wissen. Ich habe keine Geheimnisse vor ihr", sagte sie trotzig, leerte ihren Becher und warf ihn in seine Richtung.
„Gut, wie du willst, aber... ich höre mir das nicht noch einmal an", sagte er und verschwand ohne ein weiteres Wort nach draußen.
Verwirrt sah Holly ihm nach und bereute, dass sie nachgefragt hatte. Ally war betrunken, da redete man manchmal über Dinge, über die man eigentlich besser nicht reden sollte. Ally schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht glauben, dass er wirklich gegangen war.
„Lass dich nicht von Bären fressen", rief sie, seufzte und wandte sich Holly zu. Sie legte sich auf die Seite, sodass sie Holly weiterhin ansehen konnte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Hollys Magengegend aus, denn Allys Blick wanderte auf einmal in die Ferne.
„Vor sechs Jahren war ich in New Mexico", setzte Ally an, noch immer einen traurigen Schimmer in ihren Augen.
„Okay", sagte Holly, damit Ally weitersprach.
„Ich... ich musste dorthin, weil... in Texas Abtreibungen verboten sind", fuhr sie fort. Holly glaubte, in Ohnmacht zu fallen. Wollte Ally ihr etwa sagen, dass sie vor sechs Jahren schwanger geworden war und abgetrieben hatte? Ein Keuchen entfuhr ihr und sie bemerkte, wie Ally sich fester an den Schlafsack klammerte.
„Ja, ich... Ich bin von meinem damaligen Freund schwanger geworden. Meine Eltern haben mich rausgeschmissen, als ich es ihnen gesagt habe. Sie meinten, ich sei nicht mehr ihre Tochter. Was hätte ich denn tun sollen?", fragte sie, auf einmal weinerlich.
Holly fühlte sich vollkommen überfordert. Sie wusste nicht, wie man am besten auf so eine Information reagierte. Wie von allein nahm sie Allys Hand und drückte sie.
„Ich... ich habe mein Baby getötet und bin schließlich bis nach hier getrampt. Kaum dass ich hier war, habe ich Winston getroffen, der anscheinend Mitleid mit mir hatte und seitdem wohne ich bei ihm", berichtete sie weiter.
„Warte mal. Wenn du sagst, das war vor sechs Jahren, wie alt warst du da?", fragte Holly, denn Ally schien nicht viel älter zu sein als sie selbst.
„17", antwortete sie und schniefte.
„Seitdem habe ich meine Eltern nicht mehr gesehen", sagte sie und drückte auf einmal ihre Hand fester.
„Das tut mir leid, dass du das durchmachen musstest", sagte Holly, auch wenn ihr das nicht im Ansatz angemessen vorkam. Sie konnte sie nicht vorstellen, wie Ally sich als siebzehnjähriges Mädchen gefühlt haben musste, verstoßen von ihren Eltern.
„Es ging mir wirklich schlecht damals und Winston hat mich aus meinem Loch wieder rausgezogen. Ohne ihn wäre ich heute sicherlich nicht mehr hier", sagte sie vollkommen emotionslos, was Holly einen Schauer über den Rücken jagte.
„Ally, das... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", brachte Holly hervor und wünschte sich, sie könnte ihrer Freundin helfen. Ally lachte leise.
„Schon okay. Es ist lange her. Ich wollte nur, dass du es weißt. Winston hörte diese Geschichte nicht gern", erwiderte sie und unwillkürlich warf Holly einen Blick zum verschlossenen Zeltausgang.
„Aber jetzt weißt du es und das war mir wichtig", sagte Ally, dann schloss sie die Augen, ihre Hand noch immer umklammert. Holly drängte mit Mühe die Tränen zurück.
Ihre Eltern waren ihr durch Gewalt genommen worden, während Allys sie aus freien Stücken verstoßen hatten. Sie beide hatten keine Chance gehabt, auch wenn sie nicht nachvollziehen konnte, wie man sein eigenes Kind fallen lassen konnte.
Holly entfuhr ein erstickter Laut und auf einmal fühlte sie sich eingeschlossen in dem kleinen Zelt. Ally rührte sich nicht mehr, auch wenn sie sich sicher war, dass sie nicht schlief. Vorsichtig entzog sie ihr ihre Hand und krabbelte nach draußen. Sie brauchte einen Moment lang frische Luft.
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