Kapitel 31 - Holly
Recht schnell hatte Holly alles was sie für den Ausflug benötigen würde in ihren Rucksack befördert. Es war nicht viel, immerhin würden sie nur zwei Mal dort übernachten. Gerade als sie sich seufzend auf ihrem Bett niederließ, hörte sie Winston der an ihre Tür klopfte.
„Bin weg! Bis später", rief er und bevor Holly überhaupt antworten konnte, hörte sie schon die Haustür ins Schloss fallen.
Augenblicklich umfing sie die allumfassende Stille eines großen, leeren Hauses. Sie war allein hier, zumindest im Untergeschoss. Für einen Moment schloss sie die Augen und ließ sich von der Stille gefangen nehmen, bis auf einmal ein schrilles Geräusch sie zurück in die Realität holte.
Es dauerte einen Moment bis sie begriff, dass es ihr Handy war, das klingelte. Eilig griff sie unter ihr Kissen und zog es hervor. Der Name auf dem Bildschirm ließ sie augenblicklich erschauern.
„Ja?", nahm sie das Gespräch an und presste sich das Handy so fest ans Ohr, dass ihre Finger sich verkrampften.
„Holly, ich bin es, Mr. Bell", kam es vom anderen Ende der Leitung und als er nicht weitersprach, brachte sie einen erstickten Ton heraus. Erst da holte er tief Luft und sprach weiter.
„Ich habe zwei Nachrichten für dich. Die gute oder die schlechte zuerst?", fragte er sehr klischeehaft, was Holly wütend werden ließ. Immerhin wusste er doch, dass sie aufgewühlt war und wenn es schlechte Nachrichten zum Mord an ihrer Familie gab, dann wollte sie es gar nicht wissen.
„Die... schlechte?", brachte sie dennoch ohne eigentlich darüber nachgedacht zu haben hervor, aber es klang eher nach einer Frage. Mr. Bell räusperte sich.
„Die heiße Spur ist leider im Sande verlaufen. Wir treten im Moment auf der Stelle, aber ich versichere dir, dass wir alles tun, um den Mörder zu stellen", sagte er und auch wenn es eine wichtige Information war, kam Holly sich vor wie in einem schlechten Kriminalfilm. Wieso schaffte die Polizei es nicht, den Mörder zu schnappen? Er musste doch eine Spur hinterlassen haben, das perfekte Verbrechen gibt es doch nicht! Holly spürte, wie sie heftig anfing zu beben und ihr eine Träne über die Wange lief. Eilig wischte sie sie weg.
„Okay. Und die gute Nachricht?", schluchzte sie und wieder räusperte Mr. Bell sich.
„Es gibt einen neuen Opferschutzfond. Aus diesem können den Opfern von schweren Straftaten Gelder ausgezahlt werden. Mir ist klar, dass das deine Familie nicht zurückbringt, aber ich finde, du solltest es beantragen", sagte er und wieder brauchte Holly einige Sekunden, biss sie begriff, was er da sagte.
„Ich habe doch schon eine Entschädigung erhalten", sagte sie und dachte an die Geldsumme, die auf ihrem Bankkonto lag.
„Das war nur dein Startkapital für dein neues Leben. Ich habe dir einen Flyer und den Antrag per Mail zugeschickt. Bitte sieh es dir an und füll den Antrag aus", sagte er eindringlich, als wollte er unbedingt, dass sie das Geld bekam.
„Von was für einer Summe sprechen wir überhaupt?", wollte sie wissen, denn eigentlich hatte sie für eine geringe Summe keine Lust, sich länger mit diesem Thema zu beschäftigen. Zu sehr würde es sie an ihren Verlust erinnern.
„Es kommt natürlich auf die Anzahl der Anträge an, aber das werden sehr viele sein. Im Fond ist eine Gesamtsumme von 12 Millionen Dollar, die auf die Antragsteller verteilt wird. Da erst heute bekannt gegeben wurde, dass es diesen Fond gibt, ist die Chance sehr hoch, dass du eine höhere Summe bekommst, wenn du den Antrag noch heute abschickst", erklärte er und klang dabei, als wäre es ihm sehr wichtig, dass sie das Geld bekam.
„Okay, ich... ich fülle den Antrag gleich aus", sagte sie, was Mr. Bell erleichtert ausatmen ließ.
„Super. Und Holly, wie geht es dir? Kommst du einigermaßen zurecht?", fragte er und wieder einmal hatte sie das Gefühl, dass er sich wirklich um sie sorgte. Natürlich war das Quatsch, immerhin betreute er mehrere Leute wie sie, aber dennoch bereitete es ihr ein schönes Gefühl. Noch einmal holte sie tief Luft, dann berichtete sie von dem bevorstehenden Campingausflug und ihrem nicht ganz so erfolgreichem Versuch des Probearbeitens.
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Eine Stunde später setzte Holly ihre Unterschrift auf den Antrag, den Mr. Bell ihr zugeschickt hatte. Sie saß wieder in dem kleinen Internetcafé, in dem sie schon nach Stellen gesucht hatte und wieder war sie allein hier. Noch einmal kontrollierte sie, ob sie alle Angaben richtig ausgefüllt hatte, vor allem das Aktenzeichen ihrer Ermittlungsakte bei der Polizei durfte nach Mr. Bells Hinweisen in der Mail nicht fehlen, dann schob sie den Antrag in einen Briefumschlag. Sie verschloss ihn mit zitternden Fingern und erhob sich.
Sie erinnerte sich, dass ganz in der Nähe am Straßenrand ein Briefkasten gewesen war. Sie bezahlte an der kleinen Theke und verließ das Internetcafé und schlenderte in Richtung des Briefkastens. Ihre Finger umklammerten den Briefumschlag, als sei er überlebensnotwendig und sie fühlte sich merkwürdig aufgekratzt.
Krampfhaft versuchte sie nicht an ihre Familie zu denken, doch es gelang ihr nicht wirklich. Kopfschüttelnd beschleunigte sie ihre Schritte, bis sie am Briefkasten ankam. Mit heftig zitternden Fingern schob sie den Brief in den Schlitz und hörte, wie er im Innern landete, vermutlich auf einem Haufen weiterer Briefe.
Natürlich würde Geld ihre Probleme und ihren Verlust nicht verringern, aber es half ihr, sich in ihrem neuen Leben besser zurechtzufinden. Immerhin würde sie dann ihre Miete weiterhin bezahlen können, ohne sich dringend einen Job suchen zu müssen, für den sie wahrscheinlich auf lange Sicht ohnehin keinen Kopf hatte.
Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie noch gar keine Zeit gehabt hatte, um richtig zu trauern. Gleich nach dem Verbrechen war sie von Mr. Bell aufgenommen worden und nur knapp einen Monat später war sie hier in Texas aus der Bahn gestiegen und in ihr neues Leben gestolpert. War das alles wirklich erst einen Monat her? Es kam ihr vor, als läge es schon Jahre zurück. Beinahe so, als wäre es in einem anderen Leben passiert.
Holly musste über ihre eigenen Gedanken grinsen, was sich in dieser Situation irgendwie unpassend anfühlte. Noch einmal atmete sie tief durch, dann machte sie sich auf den Weg zurück nach Hause.
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