Kapitel 19 - Holly

Holly ertappte sich dabei, wie sie Winston nachsah, bis er in seinem Zimmer verschwunden war. 

Ally räusperte sich und eilig richtete sie den Blick auf sie. Ihr Gesichtsausdruck war eindeutig enttäuscht, doch eilig setzte sie ein Lächeln auf. 

„Gib endlich zu, dass du ihn magst", sagte sie leise, doch Holly schüttelte den Kopf. Selbst wenn sie sich zu Winston hingezogen fühlte, waren ihre Gefühle noch lange nicht so ausgeprägt, dass sie es mehr als das bezeichnen würde. Außerdem würde das sicherlich Probleme mit sich bringen, wenn sie und Ally in den gleichen Typen verliebt waren. 

Ally seufzte, erhob sich und streckte die Arme über den Kopf. 

„Das war heute ganz schön anstrengend", sagte sie und erleichtert atmete Holly auf, dass sie von allein das Thema wechselte. 

„Du hast doch gar nichts gemacht, außer zuzusehen", beschwerte Holly sich nicht ganz ernst gemeint und grinste. 

Ally ließ die Arme wieder fallen, legte den Kopf schief und sah sie an. 

„Ich bin mit dir durch die Hitze da draußen gelatscht, das war anstrengend. Und das auch noch an meinem freien Tag", sagte sie, lächelte aber. 

Holly wusste, dass sie sie gern begleitet hatte. 

Ally schlenderte zum Sofa, offensichtlich hatte sie genau wie Winston heute keine Lust, ihren Teller zumindest in die Spüle zu räumen. Holly griff nach den drei leeren Tellern, stellte sie ineinander und brachte sie zur Spüle. 

„Jetzt brauchen wir nur noch eine Arbeit für dich", rief Ally und erst da wurde Holly bewusst, dass sie danach heute gar nicht gesucht hatte. 

„Stimmt. Ich... ich sollte mich darum morgen wirklich bemühen", sagte sie und spürte, wie sie augenblicklich nervös wurde. 

„Das kriegst du schon hin", sagte Ally, während sie herzhaft gähnte. Holly nickte, mehr um sich selbst Mut zuzusprechen, dann gesellte sie sich zu Ally auf das Sofa. Sofort rutschte Ally ein Stück zur Seite, damit sie Platz hatte. 

„Hast du noch Lust, einen Film zu sehen?", fragte sie, doch Holly schüttelte den Kopf. Tatsächlich war sie ziemlich müde und wollte auf einmal dringend in ihr Bett. 

„Heute nicht, ich bin todmüde", sagte sie und sah entschuldigend zu Ally. Zuerst sah sie ein wenig enttäuscht aus, aber dann nickte sie. 

„Okay, dann sehen wir uns morgen", sagte sie und lächelte. 

„Gute Nacht", sagte Holly noch, dann verzog sie sich in ihr Zimmer. Kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete sie tief durch, während sie sich mit dem Rücken an die Tür lehnte. 

Das hier war nun ihr Zimmer. In ihrem neuen Leben. 

Sie spürte, wie ein aufgeregtes Kribbeln durch ihren Körper fuhr, denn auch wenn sie hier von Null anfangen musste, gefiel es ihr. Sie mochte Ally und Winston, auch wenn sie gerade dabei war, in ein Gefühlschaos zu schlittern. Aber was wollte sie mehr? Sie hatte Freunde, die sie mochten und ein Dach über den Kopf. Fehlte nur noch ein Job, der einigermaßen okay war, dann hatte sie doch alles, was sie brauchte. 

Seufzend wanderte sie durch ihr noch ein wenig unpersönliches Zimmer und ließ sich auf ihrem neuen Bett nieder. Erst da fiel ihr auf, dass sie noch gar keine Bettwäsche hatte und sie blöderweise auch keine besorgt hatte. 

Missmutig strich sie über die blanke Matratze. Der Stoff unter ihrer Hand fühlte sich weich an und sie beschloss, morgen ein paar Dinge wie Bettwäsche und Handtücher zu kaufen. 

Mühsam erhob sie sich wieder und ging zu ihrem Koffer, der geöffnet in einer Ecke auf dem Boden lag. Sie kramte ein wenig darin herum, bis sie zwei Strickjacken fand, von der sie eine als Decke und eine als Kissen benutzen konnte. 

Sie kuschelte sich ins Bett und schloss die Augen. 

Gedämpft drangen Stimmen aus dem Fernseher, den Ally anscheinend im Wohnzimmer eingeschaltet hatte bis zu ihr ins Zimmer, allerdings so leise, dass sie nichts verstehen konnte. 

Auf einmal riss sie ein ungewohntes Geräusch aus ihrem erfolglosen Versuch zu schlafen. 

Es dauerte einen Moment lang, bis sie es einordnen konnte, aber als sie begriff, dass es ihr Handy war, das vibrierte, sprang sie aus dem Bett. 

Sie griff nach ihrem Rucksack, der neben dem Bett auf dem Boden stand und kramte darin herum, bis sie es endlich fand. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals, denn es gab nur einen Menschen, der die Nummer zu diesem Handy hatte. 

Als sie den Namen auf dem Display las, wurde ihre Vermutung bestätigt. Eilig nahm sie das Gespräch an. 

„Hallo Mr. Bell", sagte sie, auf einmal nervös. Mr. Bell war ihre Kontaktperson im Personenschutzprogramm gewesen, der ihr auch ihren neuen Ausweis und das Flugticket und das Bahnticket übergeben hatte. 

Er hatte sie hier her geschickt. 

„Hallo Holly", sagte Mr. Bell und auch wenn sie und er sich nicht wirklich kannte, hatte es etwas seltsam Tröstliches, eine bekannte Stimme zu hören. 

„Wie geht es dir? Bist du gut in Texas angekommen?", fragte er mit seiner sanften, einfühlsamen Stimme, die sie immer an einen Vater oder Onkel erinnert hatte. 

„Ja, ich bin heute in eine WG gezogen. Meine Mitbewohner haben sich wirklich gut um mich gekümmert, sodass ich mich gut einleben konnte", sagte sie, doch da wurde ihr bewusst, dass sie erst vor wenigen Tagen hier angekommen war. 

„Das freut mich sehr für dich. Ich wollte dir nur sagen, dass es eine heiße Spur in dem Fall deiner Familie gibt", sagte er und sofort glaubte Holly, dass sie jeden Moment ohnmächtig werden würde. 

Ihre Eltern, deren Grab sie noch nicht einmal hatte besuchen können, weil irgendein Irrer versuchen würde, auch sie noch umzubringen, sobald sie wieder nach Maine kam. 

Ein unbestimmter Laut entfuhr ihrer Kehle, den Mr. Bell offensichtlich als eine Aufforderung interpretierte, weiter zu reden. 

„Die Spur führt in die dunkelsten Ecken der Drogenszene und wir sind da an einem Kerl dran. Wir vermuten, dass er der Mörder ist", sagte Mr. Bell. 

Holly landete auf einmal auf dem Boden und knallte unsanft mit der Schulter gegen ihr Bett. Ein dumpfer Aufprall war zu hören, aber ihr Körper fühlte sich wie gelähmt. 

„Sie glauben, Sie finden ihn?", fragte sie tonlos, denn auch wenn sie ihr altes Leben vergessen musste, wollte sie Gerechtigkeit für den Tod ihrer Familie. 

„Ja Holly. Wir sind ihm dicht auf den Fersen. Um so wichtiger für dich, dass du genau da bleibst, wo du bist. Rühr dich ja nicht vom Fleck und komm bloß nicht auf die Idee, Texas zu verlassen", sagte er eindringlich. 

„Ja, ich... keine Sorge, mich treibt nichts zurück", sagte sie, doch plötzlich hörte sie ein Klopfen an ihrer Zimmertür. Erschrocken zuckte sie zusammen. 

„Ich muss auflegen", sagte sie schnell, beendete das Gespräch und warf ihr Handy zurück in den Rucksack. Genau in diesem Moment wurde ihr Tür geöffnet und Ally streckte den Kopf herein. 

„Ist alles in Ordnung? Bist du hingefallen?", fragte sie besorgt und knipste die Deckenlampe an. Holly kniff geblendet von dem hellen Licht die Augen zusammen, hörte aber Allys entsetztes Keuchen. 

„Holly, was ist passiert?", fragte sie vollkommen panisch und keine zwei Sekunden später kniete sie neben ihr auf dem Boden. 

Holly wusste nicht so recht, warum sie so panisch war und suchte ihren Blick. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit und als sie Allys geschocktes Gesicht sah, wurde ihr mulmig zumute. 

Nur langsam kehrte sie in die Realität zurück und konnte die Taubheit, die Mr. Bells Worte in ihr ausgelöst hatte, vertreiben. 

Erst da spürte sie einen pochenden Schmerz in der Schulter und ihr wurde bewusst, dass Ally annehmen musste, dass sie aus dem Bett gefallen war. 

„Alles okay", sagte sie, hörte aber, wie weinerlich ihre Stimme klang. 

Mühsam rappelte sie sich auf, während Ally stützend ihren Arm hielt. 

„Was ist los?", hörte sie auf einmal Winstons Stimme, der wie aus dem Nichts im Türrahmen erschien. Vermutlich hatte er Allys Rufen gehört. 

„Nichts, ich... ich bin irgendwie aus dem Bett gefallen", sagte Holly, damit die beiden nicht in Panik ausbrachen. Mit einem Satz war auch Winston bei ihr und drückte sanft und fürsorglich ihre Schulter. 

„Schon okay. Es ist alles gut", sagte sie, schüttelte die beiden ab und kroch zurück in ihr Bett. Sie bemerkte, wie Winston und Ally einen vielsagenden Blick tauschten. 

„Ich hole dir eine Decke und ein Kissen", sagte Winston bestimmt und verschwand wieder, während Ally sich neben sie auf die Matratze setzte. 

„Was ist wirklich passiert? Es klang, als hättest du mit jemandem gesprochen", sagte Ally und musterte sie eindringlich. 

Holly durchfuhr ein Schock. Sie durfte auf keinen Fall erfahren, mit wem sie wirklich gesprochen hatte. 

„Ach, das war nur meine Schwester", winkte sie ab, sah aber an Allys musterndem Blick, dass sie ihr nicht glaubte. 

„Und... was hat sie dir gesagt, dass du aus dem Bett gefallen bist?", bohrte sie weiter, doch glücklicherweise kam Winston mit dem Bettzeug zurück, bevor sie antworten konnte. 

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