Grauer Schnee und Gelbe Sterne
Es schneit.
Das Mädchen mit dem geflochtenen, dreckig blonden Haar steht am Ende der Straße. Durch das kleine Loch in seinem grauen Mantel kann es seinen Zeigefinger stecken, so groß ist es geworden. Manchmal tut es es. Manchmal, weil kalte Luft hindurch dringt und in seine Haut kriecht. Manchmal einfach so.
Heute ist es gar nicht so eiskalt, wie das Mädchen erwartet hat, als es vom Fenster aus gesehen hat, dass Flocken herabrieseln. Es hat schon neun Winter hinter sich.
Neun Winter, und in jedem war es kalt und windig und grau. Neun Winter, und in jedem versteckten sich die Menschen hinter Gardinen und Vorhängen und gingen nur, wenn es unvermeidlich war nach draußen.
Nur die Kinder. Die schlüpften in ihre Schuhe und Mäntel und rannten in die weiße Welt. Nicht für lange, natürlich – sie hätten sich schließlich erkälten können.
Neun Winter – und keiner war so einsam wie dieser.
Die Straße ist eine schmutzige Narbe und die Häuser, die sich an ihren Rändern zusammendrängen, sind grauer Schorf.
Das Mädchen mit den großen, pastellblauen Augen sucht sie ab. Nach den anderen Kindern, denen vom letzten Jahr. Sie wollen schließlich zusammen spielen. Haben es sich versprochen, im letztem Winter, dem neunten Winter des Mädchens. Es ist Natalias zwölfter gewesen.
Natalia mit der blassen Haut und den hellbraunen Haaren hat sie immer beschützt, immer mit ihr gespielt. Wenn sie Fragen gehabt hat, ist es immer Natalia gewesen, die es wusste und die es erklärt hat.
Während das Mädchen so die Straße hinunter sieht und fröstelnd auf die Anderen wartet, denkt sie an Natalia. Und an den einen Moment, als sie keine Erklärung gehabt hat.
Natalias wunderschöne, sturmgraue Augen haben sich geweitet, als sie nach dem gelben Stern gefragt hat.
„Das darf ich dir nicht sagen", hat sie gesagt, und ihre Stimme hat ruhig geklungen. „Warum nicht?", hat sie nachgehakt und Natalias Hand genommen. Warm war die, ganz warm, und weich.
Aber die hat nur den Kopf geschüttelt. Sanft ihre Hände gelöst. „Tut mir leid, Martha." Und dann hat sie sich umgedreht und ist durch den Regen des Tages nach Hause gegangen. Obwohl Martha und Natalia eigentlich immer zusammen nach Hause und auch zur Schule laufen.
Aber danach ist Natalia immer schon weg gewesen, wenn Martha an der Tür geklingelt hat. Ihre Mutter hat aufgemacht, die Schürze um den Hals, die dunklen Haare hochgesteckt, den Stern auf der Bluse, ihre blauen Augen rot gerädert. Vielleicht ist sie krank, hat Martha gedacht. Auch wenn Natalias Mutter nicht krank geklungen hat, bloß müde. „Klingel hier nicht mehr, Martha", hat sie irgendwann gesagt. An diesem Tag hat Martha auf dem Schulweg das Geschäft gesehen, das Natalias Eltern betreiben, gesehen. An der Tür hing ein Schild: Geschlossen, hat Martha gelesen.
Der Schnee fällt stärker inzwischen, aber richtig kalt ist es immer noch nicht. Marthas Mantel ist trotzdem zu dünn. Sie steckt den Zeigefinger durch das Loch.
„Tu das nicht", hat Natalia gesagt. „Dann wird es größer."
Martha vergräbt ihre Hände stattdessen in den Taschen des Mantels. Die anderen Kinder sind immer noch nicht draußen. Lange wird sie nicht mehr warten. Dafür ist es zu kalt.
Außerdem ist es langweilig allein.
Der Schulweg ist schließlich auch langweilig ohne Natalia. Martha hat nicht mehr oft an der Tür geklingelt, an der der gelbe Stern prangt. Nur einmal. Da waren die Lichter hinter den Fenstern aus. Es hat keiner aufgemacht, nicht Natalia und nicht ihre Mutter und niemand sonst, und als Martha sich auf die Zehenspitzen gestellt und durch die Küchenfensterscheibe geblickt hat, war das Zimmer dunkel und leerer, als Martha es in Erinnerung gehabt hat.
Danach hat sie Natalia nicht mehr gesehen. Nicht in der Schule, nicht auf dem Weg dorthin oder zurück. Nicht auf der Straße.
Da hat sich die Straße leer angefühlt. Wie jetzt.
Leer. Nur die Flocken, die die Straßen bedecken.
Martha fängt ein paar mit der Hand auf. Sie sehen nicht aus wie sonst. Irgendwie dunkler.
Graue Schneeflocken.
Egal, denkt sie. Man kann bestimmt trotzdem Schneemänner bauen. Wenn doch nur die Anderen endlich herauskämen.
Langsam geht Martha die Straße entlang. Vielleicht sollte sie klingeln. Vorsichtig, damit sie nicht so viel Schmutz auf dem frisch gefallenen Schnee hinterlässt – den brauchen sie ja gleich – nähert sie sich der ersten Tür. Eine Holztür wie ihre, aber an ihr hängt derselbe gelbe Stern wie an Natalias. Martha klingelt. Niemand macht auf. Vielleicht sind sie nicht zuhause.
Eben die nächste Tür.
Martha klingelt an jeder, hinter der Kinder wohnen. Aber ihr wird nicht aufgemacht. Bei der letzten bleibt sie stehen, wartet länger, starrt auf den Stern. Sechs Zacken hat der.
Martha mag Sterne, aber die am Himmel sind nicht gelb, sondern weiße Lichter, und auch eher Punkte.
Einen Moment wartet sie noch.
Dann dreht Martha sich um und geht mit gesenktem Kopf nach Hause. An ihrer Tür prangt kein Stern. Kein weißer und auch kein gelber. Überhaupt keiner.
Sie hält einen Augenblick inne, bevor sie nach drinnen geht. Sieht nach oben, in den grauen Himmel, den Wolken wie Rauchfetzen bedecken.
Es schneit.
© 28. 11. 2016
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