VIERUNDREIßIGSTE
Als Bonita zu sich kam, war ihr erster Gedanke Luft.
Luft!
Sie drehte sich zur Seite, keuchte und hustete und versuchte ihre Lunge mit frischen Sauerstoff zu füllen. Mit ihren Unterarmen stützte sie sich von dem kalten Untergrund ab und sah sich um. Warum bin ich nicht Tod? Lani!
Panisch sah sie sich um und suchte nach der Frau in Schwarz. „Gut geschlafen Bonnie?", flüsterte eine Stimme. Mit zittrigen Beinen rappelte das Mädchen sich auf, drehte sich in alle Richtungen und schlug ungeschickt um sich. Sie traf nichts, ihre Hand fuhr durch die Luft und schnitt sie durch, wie als würde man eine Butter in Scheiben schneiden. Um sie herum herrschte dichter Nebel, sodass sie kaum mehr als ihre Hand vor dem Gesicht erkannte.
„Komm doch her du Feigling!", schrie Bonnie aufgebracht, ein immer leiser werdendes Echo wiederholte ihren Satz.
„Wäre ich ein Feigling, hätte ich dich erledigt als du noch nicht bei Sinnen warst!", kam knurrend eine Antwort zurück.
Eine merkwürdige Angst erfüllte Bonnie, wie ein eisiger Klumpen breitete sie sich im ganzen Körper aus. „Bin ich Tod?", flüsterte sie. Als Antwort erhielt sie ein kaltes und raues Lachen.
„Du bist anders Bonnie... Hanahara sagte es mir schon bevor ich dich kennenlernte und erstaunlicherweise hatte er Recht", abfällig schnaubte Lani, „So oft hat er es schon früher behauptet und dieses Mal muss ich ihm zustimmen."
Noch immer sah Bonita sich um. Sie erkannte keine Person in dem Nebel, sondern spürte nur die unheimliche und böse Anwesenheit. „Weißt du was das Beste ist? Du bist nicht wie anderen genau nicht zu deinem Todesort gegangen, warst nicht unter Freunden und hast schon gar nicht einfach aufgegeben.
Es war so ein Spaß dir zu zusehen und dennoch sind wir hier. Ich schon zum tausendsten Mal, du zum ersten und zum letzten Mal. Am Ende stirbt halt eben auch die tapferste Seele..."
Plötzlich bemerkte Bonita die Nässe unter ihren Füßen. Langsam sogen sich ihre Schuhe und Socken mit dem Wasser voll und immer weiter stieg der Wasserpegel. Ohh Gott nein!
„Lani zeig dich doch! Gib mir die Chance, mich zu beweisen."
Stille, nichts als eisernes Schweigen von Lani aus. Mittlerweile stand ihr das Wasser beinahe bis zu den Knien. Sie musste doch Spiele lieben, sonst würde sie etwas nicht abziehen, oder?"
„Ich fordere dich heraus!", schrie sie verzweifelt. Plötzlich schien es, als würde alles um sie still stehen, das Wasser, der Nebel und selbst sie. „Nun gut", ertönte eine leise Stimme, sanft hauchte Lani Bonnie diese Worte in ihr Ohr, „Etwas Spaß kann nicht schaden."
In dem dunklen Raum erschien schlagartig Licht. Ein Fenster, eine große Öffnung befand sich weit über ihr. „Das ist unfair!", rief sie entrüstet, „Dahin kann ich doch nicht kommen." Endlich sah Bonnie etwas in dem Nebel. Zwei leuchtende Augen starrten sie an und funkelten böse.
„Ich weiß."
Das Wasser begann wieder zu steigen, noch schneller als zuvor. Nein, nein, nein! Sie konnte nicht schwimmen, alle theoretischen Praktiken entfielen aus ihrem Gedächtnis und die vollgesaugten und schweren Klamotten zogen sie nach unten, klebten an ihrem Körper fest.
„Lani!"
Keine Antwort.
„Lani!!!"
Eisige Stille, unaufhaltsam stieg der Wasserspiegel weiter an.
„Es sind nur Träume!", die Stimme von Matti drängte sich in ihren Kopf, „Nur Träume, hörst du?"
Bonnie begann sich auszuziehen, sie musste die Klamotten loswerden! Ihre dicke Winterjacke fiel bald zu Boden, sank schwerelos zum Grund, wie eine Feder durch die Luft die fiel.
Sie konnte nicht schwimmen, aber irgendwie schaffte sie es an der Oberfläche zu bleiben. Ich muss durchhalten, nur bis zu diesem Fenster. Eben dieser Gedanke gab ihr die nötige Kraft um sich über Wasser halten zu können. So gut es ging, hielt sie ihren Mund geschlossen, längst hatte sie es aufgegeben nach Lani zu rufen. Immer näher kam sie dem Fenster und der damit verbundenen Freiheit.
Bonnie griff nach dem Fensterbrett, krallte hoffnungsvoll ihre Fingernägel in das Holz. Dann zog sie sich hoch. Mit der letzten Kraft schaffte das Mädchen es, sich über den Rand zu hieven. Laut krachend fiel ihr Körper auf einen harten und steinigen Untergrund. Der Aufprall presste Bonita die Luft aus der Lunge und beraubte sie kurz um ihr Bewusstsein, schwarz wurde ihr vor den Augen.
Bonnie blinzelte, hielt sich mit einer Hand den dumpf bebenden Kopf. Noch für einen Moment schloss sie die Augen und versuchte den aufkommenden Schmerz zu unterdrücken.
Nur Träume, nicht mehr als ein Illusion, wiederholte sie in Dauerschleife in ihren Gedanken. Sie hatte Zeit, die Zeit drängte sie nicht. Früh genug hatte sie erfahren müssen, wie relativ die Zeit in ihren Träumen sein konnte.
Wieso bin ich noch da? Verwundert sah sie sich um, ein Gang vor ihr, kein Fenster mehr hinter ihr. In weiter Ferne eine Tür, alt und verrostet und mit einer altmodischen Glocke. Mit Beinen aus Gelee erhob sie sich und näherte sich zögernd der Tür, doch anstatt das diese sich ihr näherte, schien sie immer weiter in die Ferne zu rücken.
Hilflos den Träumen ausgeliefert, fing sie an zu rennen. Schon bald machte sich das Stechen in ihrer Seite bemerkbar. Sie keuchte, sprintete aber noch schneller weiter.
Schneller, weiter!
Bonnie war erschöpft, allmählig ließ sich die Müdigkeit nicht mehr ignorieren, das Mädchen verlor die Kontrolle über ihre Beine.
Als würden sie nicht mehr ihr gehören, kreuzten sie sich unkontrolliert. Bonita fiel. Ihren Aufschrei hörte sie nicht, sofort verschluckte die sie umgebende Dunkelheit ihn und ließ ihn nicht frei.
Erschöpft blieb sie auf dem Boden liegen, die kleinen Steinchen rammten sich in ihre Handflächen und hinterließen dort deutliche Kratzspuren.
Steh auf! Jetzt aufgeben? Niemals, hörst du?!
Trotzdem blieb sie liegen. Der Tür war sie nicht einmal einen Schritt näher gekommen, sie konnte nichts tun.
Jemand rüttelte an ihrer Schulter. Sie hob ihren Kopf von dem kalten Boden und schaute in ein gespenstisch bleiches Gesicht. „Matti?", fragte Bonita ungläubig. Unmöglich! „Gib doch nicht auf Bonnie...", es hörte sich an wie Matti, aber diese Schatten im Gesicht. Spitz, mager und unmenschlich. „wenn es nicht voran geht, dreh um und suche einen anderen Weg", flüsterte er und schaute ihr tief in die Augen. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter, es fühlte sich an, als ob er ihr direkt in die Seele schauen würde. „Ich hab es dir schon gesagt, sei stark."
Nur eine Illusion, nicht mehr.
Bonnie wollte nach ihm greifen und ihn an sich ziehen, doch ihre Hand fuhr durch den Nebel und verwischte seine Körperform. Matti löste sich auf. Matti, welcher nicht Matti war... Das Mädchen drehte sich um. Das Fenster war immer noch verschwunden und hinter ihr befand sich nichts anderes als eine schwarze Wand.
In Träumen ist nichts logisch, deswegen sind es Träume.
Bonita schloss ihre Augen, atmete tief ein. Das rasende Herz in ihrer Brust ignorierte sie und trat einen Schritt vor. Der zweite Schritt folgte und kurz darauf der dritte. Die Wand löste sich auf, ließ sie durch und offenbarte wieder den Raum.
Wie ein riesiges Aquarium lag das Wasser vor ihr, ein Glanz spiegelte sich auf der Oberfläche und erst jetzt wurde Bonnie die Größe des Beckens bewusst.
Sie setzte sich an den Rand und versenkte ihre Beine in dem Wasser. Die Kälte machte ihr nichts mehr aus, viel mehr kühlte sie die Leere in ihr. „Und Matti?!", schrie sie über das Wasser hinweg, „Wie willst du das logisch erklären? Kannst du mir jetzt noch helfen?"
„Es ist eine Illusion, wenn du", machte sie seine Stimme wieder in ihrem Kopf breit. „Ja, ja, ja! Das hast du jetzt schon tausend Mal gesagt! Hast du nicht besseres? Ich bin nun mal nicht besonders intelligent, oder herausragend intuitiv. Ich kann nicht improvisieren, oder kreativ handeln." Sie beugte sich vor, Tränen fielen in das Wasser.
Auf eine Aktion folgt eine Reaktion.
Mittlerweile hatten sich ihre beiden Augen auf die Dunkelheit gewöhnt und sie erwartete, die kleinen Kreise auf der Wasseroberfläche zu sehen, doch sie blieben aus.
„In jedem Traum ist mindestens ein Fehler in der Logik. Wir nennen es den Fehler in der Matrix und den muss man ausnutzen. Wenn du aufwachen willst, mach das absolut Irreste was dir einfällt."
Sie kannte diese Worte, erst vor zwei Tagen hatte er es zu Bonnie gesagt und sie dann fest umarmt. Sie wollte ihn umarmen, ihn, Lily, Naomi und Nolan.
Für sie Bonita es keinen Ausweg mehr, sie musste Matti glauben, nicht nur weil er ihr Freund und Sitznachbar war. Ich kann nicht schwimmen, nicht tauchen oder fliegen. Irrational war ich aber schon immer, vielleicht deswegen fürchte ich mich jetzt nicht mehr.
Das Mädchen beugte sich noch ein Stück vor, hielt ihren Atem an und tauchte in das Wasser ein. Langsam sank sie immer tiefer und das letzte was sie hörte, war ein wütender Schrei, der ohrenbetäubend in ihrem Kopf widerhallte.
Ein regelmäßiges Piepen. Ein grelles Licht, welches Bonita selbst durch ihre Augenlider blendete. „Blutdruck hundertzweiundzwanzig auf neunundsiebzig." Bonnie wollte ihren Kopf drehen und ihre Augen öffnen, doch der Körper gehorchte ihr nicht. „Sie wacht auf!", rief alarmiert eine weibliche Stimme. Eine warme Hand platzierte sich Bonitas Schulter. „Hören sie mich?"
Angestrengt versuchte sie mit ihrem Kopf zu nicken. „Sie sind im Krankenhaus, keine ernsthaften Verletzungen."
Die Krankenschwester redete einfach weiter, während Bonnie mit allerletzter Kraft ihre Augen öffnete und auf die weiße Wand über ihr starrte. Wieso bin ich nicht gestorben? Ist das Eis nie eingebrochen? „Bin ich eingebrochen?", krächzte sie mit leiser Stimme. „Auf dem See? Nein, sie haben einfach ihr Bewusstsein verloren. Ach ja, die Katze haben sie gerettet", antwortete die Frau in Weiß und lächelte sie an. Die Katze... Die hätte ruhig sterben können! Hanahara, dachte sie wütend, du hast das ganze hier verursacht. Die Krankenschwester verließ den Raum. Aber ich lebe, ich habe überlebt.
„Danke Matti", flüsterte sie in den leeren Raum. Ohne dein logisches Denken, hätte ich es nicht geschafft.
„Hey Bonnie", begrüßte sie eine ihr bekannte Stimme zaghaft. „Nolan?", sie drehte ihre Kopf zur Tür. In den letzten Stunden war ihre Mutter dagewesen. Frische Blumen lagen in einer hübschen gläsernen Vase auf dem Nachttisch und gaben dem Zimmer wenigstens einen kleinen lebendigen Hauch. Im Türrahmen stand er, die schwarzen Haare hatte er erneut gekürzt und dennoch fielen sie ihm über die Augen. Hinter ihm erkannte sie auch die Gesichte ihrer anderen Freunde. „Lily, Matti, Naomi!", rief sie erfreut. Bonitas besonders dankbarer Blick galt dem Lockenschopf ganz hinten, er versteckte sich hinter den beiden Mädels und grinste ihr schräg zu.
„Du lebst", formte er mit seinen Lippen und sie nickte stolz. „Ach Bonnie, wir dachten du stirbst", sagte Lily und fiel Bonnie um den Hals. Das Mädchen hatte sich in dem Bett aufgesetzt, um mit ihren Freunden auf Augenhöhe reden zu können. Die Worte ihrer Freundin gaben ihr eine imaginäre Ohrfeige und sie zuckte kaum merklich zusammen. Verwundert rutschte Lily von ihr weg und setzte sich an den Rand des Bettes. „Alles gut?", erkundigte sie sich. „Ja...", murmelte Bonnie und rang sich ein Lächeln ab.
„Wir hatten so Angst um dich", flüsterte Naomi und drängte sich an den anderen zu Bonita vor.
„Ich wusste halt nicht, ob man deinen prophetischen Träumen glauben kann", hauchte Naomi an Bonnies Ohr, als sie sich zu ihr vorbeugte um sie zu umarmen. „Du bist einfach auf dem Eis zusammengebrochen und ich wusste nicht, was ich machen sollte. Zum Glück kam dann die Feuerwehr und hat dich runtergeholt", erzählte Nolan ihr. Bonnie nickte mehrmals und brummte laut, als würde sie ihm zuhören. Ihr Blick glitt aber zu Matti rüber. Er ging um ihr Bett herum und ließ sich auf der anderen Seite auf das Bett fallen.
„Bist du noch in Gefahr?", fragte er dann besorgt. Lily lachte laut und schallend. „In Gefahr? Sie ist ja nicht ins Wasser gefallen und der Arzt hat doch gesagt, dass die Unterkühlung nicht so schlimm ist!", rief sie ihrem Freund ins Gedächtnis. Matti meinte nicht das... Es ging ihm um ihre Träume.
„Wie Lily sagt, es kann nichts mehr passieren", versuchte das Mädchen ihn zu beruhigen, „Was sollte jetzt noch passieren?"
Lily schaute zu Matti und fixierte ihn mit ihren blauen Augen. „Sag ich doch!", murrte sie. „Ach Bonnie, ich hab dir soviel zu erzählen! Wir ziehen um!" Begeistert funkelten ihre Augen, ihre leicht gewellten Haare legten sich auf ihre Schultern und verdeckten die Sicht auf die, hinter Lily stehende Naomi. Sie hatte ihren Cousin beiseite gezogen und aufgeregt diskutierten sie im Flüsterton. „Ehrlich?", fragte Bonnie. Lily und ihre Familie lebten seit über zehn Jahren in der kleinen Wohnung und genossen hatten sie es nicht wirklich. „Ja! Und außerdem darf ich dir fast alle unsere Möbel verkaufen. Nicht kostenlos, aber echt billig! Mama will ganz von Neuem anfangen."
Matti hustete, anscheinend hatte er sich an einem Schluck Wasser verschluckt. „Wohin zieht ihr denn?!", fragte er noch halb im Hustanfall, „Ihr bleibt doch in der Stadt?" Lily nickte. „Nein keine Sorge!", wehrte sie ab, „Wir ziehen zum Kino, also muss ich jeden Tag Bus fahren." Das Mädchen mit den violetten Haaren winkte ab. „Immerhin muss das die Mehrheit an unserer Schule." Ein Stein fiel von ihrem Herzen. Vielleicht hatte sie sich mit Lily etwas auseinander gelebt, aber sie waren immer noch gute Freundinnen und das lange!
Jetzt musste sie sich keine Sorgen mehr machen. Alles war gut. Erleichtert seufzte sie, der Kampf war gewonnen.
Lily sprach weiter, redete begeistert von dem neuen kleinen Haus und blendete komplett die Umgebung aus. „Geht es noch weiter?", flüsterte ihr Banknachbar Bonnie zu. Sie schüttelte ihren Kopf. „Nein, das darf es nicht", knurrte sie leise, aber bestimmt zurück. „Und das Geschenk?" In ihrem Kopf ratterte es, welches Geschenk. Beinahe sofort wurde sie weiß wie die Wand um sie herum. „Nein, nein, nein, nein!", zischte sie, „Ich will diese Belohnung nicht." Das Leben ist das größte Geschenk für mich. „Was ist denn hier los?" Eine Krankenschwester hatte den Raum betreten und die Situation kurz analysiert. „Raus! Das Mädchen hier braucht Ruhe und Schlaf. Mit einer Unterkühlung ist nicht zu spaßen." Die Schwester ließ die Tür offen und jagte Bonnies Freunde raus, nicht einmal widersprechen durfte sie „Außerdem sind die Besuchszeiten längst vorbei", ein kleines Lächeln schlich sich auf die Lippen der Frau, „Obwohl es bemerkenswert ist, dass ihr eure Freundin besuchen wollt..."
Im Türrahmen blieb Matti stehen und drehte sich noch einmal um. „Tschüss", murmelte er, „Und sag mir Bescheid, wenn etwas los ist."
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