FÜNFTES (2)

Sie kannte die Wege alle auswendig, jeden einzelnen Raum und jede einzelne Geheimecke. Noch vor zehn Jahren hatte sie hier beinahe jeden Tag verbracht, mit ihrem Vater verschiedenste Räume renoviert. Mit ihrer rechten Hand fuhr sie über die alten Holztüren und tapezierten Wände. Je weiter sie sich ins Innere des Bauernhauses wagte, desto lauter wurde die Musik, vermischte sich aber deutlich mit Stimmen Fremder. Nun konnte sie auch den Aufenthalt der Störenfriede identifizieren, der große Keller.
Dieser wurde früher als Weinkeller genutzt und sicherlich fanden sich dort einige gute Stücke. Zuletzt hatte sie diesen Keller betreten als sie ihre Mutter gesucht hatte. Das diese dort auf dem kalten Boden sitzen würde, mit dem Rücken gegen die Steinwand gelehnt und mit einer Flasche Wein des Jahres 1958 in der Hand, hatte die kleine elf-Jährige Bonita nicht gedacht. Es war das erste und letzte Mal das Bonita ihre Mutter so gesehen hatte.
Sie stapfte die Treppe hinunter und sammelte all ihren Mut. Der Raum war übersichtlich, es waren nicht so viele Menschen und noch sah dieser Raum nicht besonders verwüstet aus. Mit langen Schritten ging die Teenagerin zur Musikbox und schaltete sie aus. "Raus aus unserem Keller", sie schrie nicht aber ihre Stimme war laut und fest.
Etwa zwanzig oder dreißig Gesichter Wänden sich ihr zu, völlig verblüfft über ihr plötzliches Auftauchen. Alle hier schienen älter zu sein als Bonnie und somit auch um einiges furchteinflößender. "Wer bist du?!", schrie ein breitgebauter Junge mit ziemlich hässlichem Topfschnitt. "Mach die Musik an, Hure", beschimpfte sie ein anderer Bauklotz. Diese Kraftausdrücke verwunderten sie nicht groß, eigentlich hatte sie genau so etwas erwartet. "Genau Bitch, ich will tanzen", kicherte eine zierliche Brünette. "Das ist unser Haus und wenn ihr nicht sofort abhaut", bedrohlich senkte sie ihre Stimme, "Rufe ich die Polizei!" Vor ihr brach Tumult aus. Wütende Schreie und Beschimpfungen füllten den Raum und ein Echo hallte im Raum nach. "Raus hier!", jetzt schrie Bonnie und hielt ihr Handy hoch. Murrend verschwand einer nach dem anderen und sie stiegen die Treppen hoch. Ich habe es geschafft! Bonnie warf noch einen Blick auf das Chaos hinter sich und folgte den jämmerlichen Überresten der Partygäste. Einer wollte gerade in die falsche Richtung biegen, da wies Bonita Kirsch ihn zurecht. Im Moment verspürte sie nichts anderes als Stolz.

Bonnie machte noch einen Rundgang durch das Haus, zwar nicht durch den ganzen Hof aber trotzdem. Sie war sich sicher: Hier befand sich kein Partygast mehr. Schon wollte sie gehen da sah sie ein Zettel. Er klebte an einer der vielen Türen und trotzdem wusste das Mädchen genau was draufstand und was sich hinter der Tür verbarg.

nicht eintreten ohne anklopfen, nicht mal papa! Das ist mein reich und ich entscheide wer reinkommen darf!

Es war Bonnies Kinderschrift. Die E's und A's sahen beinahe identisch aus und die Groß- und Kleinschreibung wurde nicht beachtet. Die Türklinke war etwas verrostet und Bonita musste leichte Kraft ausüben um in ihre altes Zimmer zu kommen. Dann öffnete sich die Tür mit einem lauten Quietschen. Ein leeres Bettgestell, ein Tisch, gestaltet von Holzschnitzkunst, in einer der Ecken ein Schaukelsessel mit einem kleinen Tisch davor. Ein blau gelber Franzenteppich von einer
fingerdicken Schicht Staub bedeckt, schmückten den Boden aus bunten Kacheln. Bonnie setzte sich in den Sessel, Staub wirbelte auf und setzte sich wieder. Mit diesem Raum verband sie so viele Erinnerungen, Ideen und Liebe.
Vor ihr baute sich eine Szene auf. Ein großer Mann, mit buschigen Augenbrauen und kurzen roten Haaren, trotz der Kürze waren die kleinen Löckchen eindeutig zu erkennen. Vor ihm auf dem Teppich saß die jüngere Version von Bonnie und redete auf ihren Vater ein. Zwar konnte Bonnie nicht hören was sie sagte aber sie wusste es. "Musst du wirklich gehen?", hatte sie damals gefragt. Ihr Vater hatte genickt und sie auf seinen Arm gehoben. "Ja", sagte er und drückte seine Tochter an sich. "Warum?" Die kleine Bonnie machte einen Schmollmund. Ihr Vater öffnete seinen Mund und da verschwamm die Szene, immer mehr verschwanden die beiden Personen und nur ein leichter Rauchgeruch blieb. Was war das? Wieso passiert das? Bonita wusste es nicht. Warum seid ihr verschwunden? Sie kannte keine einzige Antwort auf keine Frage. Sie atmete auf. Als sie aufstand klopfte sie sich den Staub von den Hosenbeinen. 

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