ELFTES (2)

Bonnie sprintete die kurze Treppe hoch, hielt sich nicht an die vorgegebenen Regeln der Schuhschachtel. Sie sollte an den Zimmern ihrer Mitbewohner nur vorbeischleichen, gewiss nicht trampeln wie ein Elefant im Porzellan.
Aber was sollte der Mist bringen? Immer schoben alle alles was Bonnie falsch tat auf ihre Pubertät, das konnte sie auch.

Wem konnte sie das alles vorjammern? Ihr Blick fiel auf die dunklen Schatten im oberen Teil ihres Zimmer, die Balken. Einige waren superbreit, bestimmt zwanzig Zentimeter in die Höhe und Breite.

Sie holte ihren Stuhl und stellte sich drauf. Mit ihren Fingerspitzen tastete sie nach Etwas. Angewidert verzog sie ihr Gesicht als sie durch ein Spinnennetz wischte. Sie schüttelte die Spinnenseide von ihrer Hand und suchte weiter.

Endlich.

Die Luke mit ihrem Tagebuch. Sie griff nach dem Buchrücken, zog das Buch etwas raus aber ließ es verschreckt wieder fallen.

Ist da etwas über meinen Handrücken gekrabbelt?!

Sie schüttelte ihren Kopf und startete den nächsten Versuch an ihr Tagebuch zu kommen. Dieses Mal gelang es ihr. Sie wischte ihre Hand und ihr Tagebuch an ihrer Hose ab und setzte sich dann an ihren Schreibtisch. Eine volle Minute saß sie vor dem Buch und plötzlich war ihr Gehirn wie leergefegt. Sie seufzte und klappte es wütend wieder zu.

Ernsthaft?!

In ihren Gedanken versunken saß Bonnie da. Sie schwieg, mit wem sollte sie reden?

Mit Papa...
Sie griff nach dem Handy in der Hosentasche und zog es raus. Obwohl in ihrem Zimmer nicht mehr als 21 Grad herrschten, schwitzten Bonitas Hände und das Handy rutschte ihr aus den Fingern. Mit einem lauten Krachen fiel es zu Boden.
Hastig kniete sie sich hinunter und betrachte einen ihrer größten Schätze. Von der Seite schien es heil zu sein. Mit ihren Fingerspitzen drehte sie ihr Handy um.
Nur der bereits bekannte Riss zeichnete sich auf dem Display ab.
Erleichtert seufzte sie. Dann tippte sie endlich die Nummer ihres Vaters ein.
Ein Klingeln, das zweite und dritte.
Ein Knacken und Rauschen folgte, er hatte abgenommen.
"Papa?", flüsterte sie. "Bienchen, was ist denn los? Ist etwas passiert? Weißt du überhaupt wie spät es ist?", die Fragen prasselten auf das Mädchen ein und trotzdem war sie unglaublich froh, die Stimme zu hören.
Sie schaute auf die Uhr, etwa zwanzig Minuten vor zehn, nicht sonderlich spät.
"Mit deiner Mutter muss ich unbedingt über deine Schlafenszeiten reden", hörte sie ihn leise Murmeln. "Etwas zwischen halb und dreiviertel zehn", antwortete sie nach einer Ewigkeit auf eine seiner Fragen. "Ich bin in Abú Dhabí Mäuschen, auf einer Arbeitsreise", sie hörte seinen leisen aber langen Seufzer, vielleicht gähnte er auch. "Abú Dhabí?", wiederholte sie seine Worte wie ein Papagei. "Genau, Abú Dhabí. Ich muss etwas erledigen, hab ich dir das gar nicht gesagt?" Bestimmt runzelte er seine Stirn, das tat er immer bei diesem Ton.
Auf diese Frage zu antworten war unnötig, natürlich hatte er nicht.
"Wie spät ist es denn in Abú Dhabí?", piepste sie. "Elf Uhr und zweiundvierzig Minuten", erklärte er ihr. Man hörte ein Rascheln, wahrscheinlich hatte er sich aufgerichtet.

"Und jetzt sag mir warum du so spät anrufst?", erkundigte er sich, "Ist etwas passiert?"
Und plötzlich wusste Bonnie ihre Antwort nicht, was sollte sie auch sagen?

Ich habe Träume in denen ich tot bin. Mein Todesdatum ist heute in zwei Monaten.

Mama hat einen neuen Freund und wird adoptieren.

Keine von ihren Möglichkeiten klang wirklich toll. Selbst:

Ich habe einen echt süßen Jungen kennengelernt, verliebe mich aber in sein Motorrad nicht in ihn.

Klang bemitleidenswert. All das konnte sie ihren Vater nicht sagen und ihre Probleme lösen, könnte es aus Abú Dhabí nicht. Wo war eigentlich dieses Abú Dhabí?
Afrika? Diesen Teil der Welt hatten sie vor zwei Jahren in Geografie gehabt und eigentlich...
"Bienchen?", störte sie ihr Vater beim Grübeln, aber eigentlich konnte sie es ihm nicht übel nehmen.
"Ist nur so viel los im Moment, super stressig", erwiderte das Mädchen. "Schule?", fragte er. Sie schüttelte ihren Kopf, obwohl er sie nicht sehen konnte. "Nein", antwortete sie, "Wir haben ja jetzt Ferien" "Ferien?", Ihr Vater klang ehrlich verblüfft, hatte seine Neue, die Amrei, nicht auch Kinder? "Ja, Schule beginnt übermorgen.", während sie das sagte, ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Nur beim Gedanken an Schule wurde ihr schlecht und ihre Beine verwandelten sich in Wackelpudding. Sie wollte nicht, warum auch.
Sie hatte nichts gegen Schule an sich. Sie liebte es zu lernen, in den meisten Fächern zumindest, aber ihre Mitschüler...
Sie waren nicht gemein sondern eher gedankenlos, neutral und gleichgültig ihr gegenüber.
Sie spürte wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete und sich die Panik leise und langsam über sie legte. "Schule", murmelte ihr Vater abwesend und müde. Dann eine Pause, er gähnte.
"Ich werde den Hof renovieren, also dieses Bauernhofhaus", versuchte sie wieder ein Gespräch zu starten und von ihrer aufsteigenden Panikattacke abzulenken. "Das Haus ohne Hof? Ohne Tiere und Scheune?", er lachte ein wenig. "Genau das", stimmte sie ihm zu und nickte obwohl sie wusste das diese Gestikulation völlig unnötig war. "Ich finde es schön und im Keller sind nich all deine Sachen, auch das Haus", diese Information wusste sie nur dank der nächtlichen Störung der Jugendlichen, "Das Holz ist noch in Takt, wie neu. Hab ich erst letztens geprüft." Es stimmte. Noch an dem Tag als sie die ganze erste Etage geputzt hatten, sie und Nolan. Sie, Nolan und Noemi, die hübsche und nette Fremde. Eine eventuelle Partnerin von Nolan.
Selbst dieser Gedanke tat ihr nicht weh, sie war nicht verliebt. Warum auch immer. Es war ja nicht so, dass sie es nicht wollte! Jeder wollte Liebe und Zuneigung.
Genau wie meine Mama...
"Sicher?" Jetzt hob er seine Augenbraue. Obwohl sie ihn das letzte Mal vor mehr als neun Monaten gesehen hatte, kannte sie ihn. Sie konnte ihn lesen wie ein offenes Buch. "Ja, ganz sicher", erwiderte sie stolz.
Scheinbar war Nolan ein Holzexperte. Ganze fünfzehn Minuten hatte er dieses Holz studiert, bis er mit zufriedener Miene verkündete: "Dieses Holz ist total in Ordnung und funktionsfähig. Für einige Jahre" Bei diesem Anblick hatten beide Mädchen lachen müssen. "Dann viel Spaß", sagte ihr Vater. Es herrschte wieder Stille.
Warum ist das Gespräch heute so unangenehm?!
"Hab ich dir das Geld geschickt?", wechselte er das Thema.
Nein hast du nicht, seit drei Wochen nicht mehr. Sowieso sind die dreißig Euro Taschengeld pro Woche viel zu viel.
"Nein", sagte sie knapp. "Mach ich morgen Bienchen. Wie viel? Neunzig? Dann machen wir die hundert daraus. Wäre alles geklärt? Ich würde gerne schlafen, muss morgen aufstehen" Das Telefonat widmete sich langsam dem Ende. "Alles klar", wisperte sie.
Mit Geld kannst du mich nicht kaufen...
"Können wir uns treffen wenn du wieder da bist?", wollte sie noch wissen. "Sicher Biene, aber jetzt muss ich schlafen. Und Kleine?" "Ja?", meinte sie weil er eine Pause einlegte. "Ruf mich bitte nicht mehr so spät an, wenn es nicht wichtig ist." Er schmunzelte.
Das war wichtig, wollte sie sagen, antwortete aber nur mit einem knappen: "Okay" "Gute Nacht", verabschiedete er sich und bevor sie antworten konnte, wurde die Verbindungen unterbrochen. Also eigentlich hatte er aufgelegt und das war viel schlimmer.

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