Blutroter Tod
Der Nachrichtensprecher deutete mit ernstem Blick auf die Bilder hinter ihm. Sie zeigten wackelige Aufnahmen von Blutroten Nebel, der sich im Zentrum mehrerer Städte ausbreitete. Esmeralda verschluckte sich fast an ihren Cornflakes, als er zu sprechen begann.
"Aufgrund der derzeitigen Umstände wird der Ausnahmezustand ausgerufen. Die Bürger und Bürgerinnen werden gebeten, bis auf weiteres in ihren Häusern zu bleiben. Die wissenschaftlich kaum erforschte Substanz kann jederzeit auch in unseren Stadtzentren auftreten. Ausgezeichnete Wissenschaftler arbeiten zurzeit an einem Gegenmittel für die durch den Nebel ausgelöste Seuche."
Der Sprecher klang ernst, aber gefasst. Esmeralda stellte die leere Schüssel beiseite. Schaudernd dachte sie an die grässlich entstellten Opfer des Nebels. Die Haut hatte sich nach dem Einatmen rot verfärbt und war aufgeplatzt. Ihre eigenen Forschungen hatten nichts ergeben, außer dass das Immunsystem des Menschen unmöglich gegen den Nebel vorgehen konnte. Der Stoff war selbst mit den stärksten und verheerendsten Krankheiten der Menschheitsgeschichte nicht zu vergleichen.
Überlebende, die es geschafft hatten zu fliehen, erzählten von einem dissonanten Flüstern, dass aus dem Nebel gehallt war. Eine Mutter hatte geglaubt die Stimme ihrer toten Tochter gehört zu haben. Ein Mann die Stimme seiner Frau. Esmeralda vermutete dass der Nebel Halluzinationen auslöste.
Doch es gab noch eine Sache, die ihr Kopfschmerzen bereitete. Der Nebel tauchte völlig willkürlich in den verschiedensten Städten, immer im Zentrum auf. Wenn die betreffenden Orte vor dem Eintreffen der Substanz evakuiert worden waren, erschien sie an den dichtbevölkertsten Stellen der Stadt. An einem Tag wütete sie in Dublin, am nächsten in Nizza.
Esmeralda stand auf und holte ihr Handy von der Ladestation. Schnell wählte sie die Nummer ihres Vorgesetzten. Sie musste wissen, ob die Ausgangssperre auch für Forscher und Wissenschaftler galt. Die Leitung blieb tot. Besorgt wählte Esmeralda noch einmal. Wieder nichts. Ihr lief es kalt den Rücken herunter. Ein Vorzeichen des Nebels war Kommunikationsausfall.
Angst begann langsam ihren Magen hinaufzukriechen. Fahrig fuhr Esmeralda sich durch die kurzen, braunen Haare. In New York sollte sie sicher sein, oder? Jedoch wohnte sie nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Sie wandte sich wieder den Nachrichten zu. Der Sprecher teilte gerade die geschätzte Zahl an Opfern in der letzten Ausbruchsstadt Hamburg mit. Beinahe dreitausend Menschen. Plötzlich flackerte der Bildschirm und erlosch.
Esmeralda umklammerte die Silberkette um ihren Hals. "Fuck." murmelte sie. "Verdammte Scheiße." Hier, alleine in ihrer Wohnung, konnte sie die Fassade der gefassten Wissenschaftlerin fallen lassen. Hatte nicht insgeheim jeder aus ihrem Team diesen Tag gefürchtet? Esmeralda konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Mit einunddreißig Jahren fand sie sich eindeutig zu jung zum Sterben.
Ihre Hände zitterten, als sie ihre Notfalltasche unter dem Bett hervorholte. Nach den Empfehlungen der Experten sollte jeder Mensch eine solche Tasche besitzen, für den Fall dass der Nebel auftauchte. Esmeralda checkte kurz den Inhalt: Medikamente, Essen, Kleidung, Geld, Pass und Ersatzhandy. Ein nervöser Blick aus dem großen Fenster ihres Schlafzimmers verriet nichts über eine bevorstehende Katastrophe.
"Vielleicht ist es nur eine Störung." murmelte Esmeralda leise vor sich hin. "Irgendeine verdammte Störung." Sie biss sich auf die Faust, um ein Schluchzen zu ersticken. Seit den ersten Ausbrüchen hatte sie in ständiger Angst gelebt. Das Forschen an dem Nebel hatte ihr das Gefühl gegeben, von den möglichen Opfern ausgeschlossen zu sein. Doch jetzt kamen all die unterdrückten Befürchtungen wieder an die Oberfläche ihrer Gedanken. Sie konnte nicht einmal ihre Familie anrufen, um sich zu verabschieden.
Mit angezogenen Beinen setzte Esmeralda sich auf das Sofa. Ihr verzerrtes Spiegelbild starrte ihr aus dem dunklen Fernseher entgegen. Alle zwei Minuten checkte sie ihr Handy. Keine neuen Nachrichten oder Neuigkeiten. Immer wenn sie glaubte, einen Schrei gehört zu haben, rannte sie zum Fenster. Beim Nebel konnte man sich auf nichts außer seine Augen verlassen, da durch den Kommunikationsausfall die Warnsysteme nicht mehr funktionierten.
Plötzlich ertönte ein lautes Kreischen. Esmeralda sprang auf. "Einbildung. Bitte, bitte, bitte." flüsterte sie, während sie angestrengt lauschte. Weitere, panische Schreie folgten. Sie klangen viel zu nah. Esmeralda schnappte sich ihre Tasche und rannte zur Tür. Das Treppenhaus war voll mit panischen Menschen. Ein älterer Herr stieß eine Frau beiseite, die empört aufschrie. Die Sterlings von nebenan mühten sich mit ihren drei weinenden Kindern ab, die sich einfach nicht von der Stelle bewegen wollten. Esmeralda blickte kurz zum rettenden Ausgang. Schweren Herzens hängte sie sich ihre Tasche über die Schulter und stolperte, durch die vielen anderen Menschen behindert, die Treppe wieder hinauf.
Chloe Sterling blickte ihr dankbar entgegen. Sie hatte Liska, eines ihrer Kinder, auf den Arm genommen. "Oh mein Gott, danke!" sagte sie beinahe hysterisch. Sie strich sich mit einer knappen Bewegung die langen braunen Haare aus dem Gesicht. Esmeralda konnte die deutliche Besorgnis aus ihrer Stimme heraushören. "Kannst du George nehmen? Wir treffen uns beim Safepoint." In jeder Stadt wurden Sammelpunkte ausgemacht, an denen sich die Flüchtlinge treffen konnten.
Esmeralda nickte. "Ich versuche euch in dem ganzen Gedränge nicht zu verlieren. So wie damals an Liskas Geburtstag." Das entlockte Chloe wenigstens ein kleines Lächeln. "Ja." sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. "Das waren noch Zeiten." Esmeralda hielt George die Hand hin. Der sechsjährige Junge war klein und schlank für sein Alter. Mit seiner übergroßen Brille erinnerte er aus dem richtigen Blickwinkel an ein Insekt. Esmeralda kannte die Sterlings schon lange. Sie spielte oft mit den Kindern, oder unterhielt sich mit den Erwachsenen. Ohne zu zögern nahm George ihre Hand. Seine weit aufgerissenen braunen Augen suchten ihre. Der Junge schmiegte sich eng an sie.
Chloe lächelte ihm aufmunternd zu. Kai, Chloes Ehemann, hob Emily, die älteste im Bunde, hoch. Inzwischen war der Strom von rennenden Menschen versiegt. Esmeralda versuchte, das ungute Gefühl in der Magengegend zu verdrängen.
Mit George an der Hand folgte sie den Sterlings. Die Stille im Treppenhaus stand in starkem Kontrast zu der Geschäftigkeit auf der Straße. Menschen drängelten und schubsen sich gegenseitig, um schneller zu den Safepoints zu gelangen. Esmeralda versuchte in der Nähe der Sterlings zu bleiben, gleichzeitig auf George aufzupassen und niemanden umzurennen, was sich als beinahe unmögliches Unterfangen herausstellte. Ständig stieß sie mit anderen Menschen zusammen, oder verlor Chloe und Kai aus den Augen. Einzig und allein Emilys neongrüner Rucksack verhinderte ein aus den Augen verlieren.
Plötzlich erwischte sie ein harter Schlag gegen die Schulter. Überrascht ging Esmeralda zu Boden. Sie fing den Sturz mit ihrer linken Hand ab, die Rechte hielt immer noch Georges umklammert. Gerade wollte Esmeralda wieder aufstehen, als eine Frau voll mit Gepäck beladen über sie drüber stieg. Verzweiflung machte sich in Esmeralda breit. Sie würde durch die schiere Masse an Menschen erdrückt werden. George neben ihr fing an zu weinen. Um ihn zu schützen, schlang Esmeralda die Arme um ihn und bedeckte den Jungen mit ihrem eigenen Körper.
Immer wieder trafen sie Schläge oder Tritte. Die Menge war zu dicht gedrängt und bot Esmeralda keine Gelegenheit zum Aufstehen. Zu Georges lauten Schluchzern gesellten sich ihre stummen Tränen. Ihr Rücken schmerzte, und ihre Beine fingen vom langen auf dem Boden knien an zu bluten. Esmeralda hatte das Gefühl zu ersticken.
Dann war es vorbei. Esmeralda holte tief Luft. Die Menge hatte sich deutlich gelichtet. Ihre Kleidung war verdreckt und jeder Zentimeter ihrer Haut schien zu schmerzen. Langsam stand sie auf und zog George mit sich. Sanft wischte sie die Tränen von seinen Wangen. "Wo sind M-Mama und Papa?" schluchzte Der Junge. Esmeralda hob ihre Tasche hoch. "Keine Sorge." sagte sie und versuchte zuversichtlich zu klingen. "Ich bringe dich zu ihnen." Doch nach zwei Schritten hielt sie inne.
"Esmeralda!" Sie drehte sich um. "Bitte... pass auf sie auf..." "Esme!" "Mein Schatz..."
Esmeralda riss vor Angst die Augen auf und stieß George hinter sich. Leise, ohne ein Geräusch, war der rote Nebel zwischen den Häusern hervorgequollen. Er hatte keine einheitliche Farbe, stattdessen zogen sich dunkelrote Fäden wie Adern durch ein helleres, dunstiges Gewaber. Ein dissonantes Flüstern ertönte leise, schwoll an und wurde wieder leiser. Esmeralda umklammerte ihre Silberkette, als der Nebel seine rauchige Finger nach ihnen ausstreckte.
George hinter ihr schluchzte laut auf. Esmeralda wollte ihn irgendwie trösten, doch sie war vor Angst wie erstarrt. Der Nebel kam immer näher. Esmeralda umklammerte mit der linken Hand ihre Silberkette. Roter Dunst umschloss sie, und das Flüstern schwoll zu einem Kreischen an. Wie ein Tier kurz vor dem Angriff zog sich der Nebel zusammen. Und zuckte laut zischend vor Esmeralda zurück.
Wieder stürzte sich der Nebel auf Esmeralda. Wieder wurde er abgewehrt. Tausende Gedanken schossen Esmeralda durch den Kopf. Bis sie die Hitze des Silbers ihrer Kette spürte. Mit zitternden Händen nahm sie das Schmuckstück ab und hielt es vor den Nebel, der sie inzwischen fast ganz umschlossen hatte. Ein hohes Kreischen ertönte und der Nebel zog sich ein paar Zentimeter zurück. Besorgt betrachtete Esmeralda das Silber. Der Umkreis, den es beschützte, war zu klein für eine große Person für sie. Deshalb waren wahrscheinlich auch die anderen Menschen gestorben, die Silberschmuck getragen hatten. Keiner zog einem kleinen Kind ein so wertvolles Schmuckstück an. Esmeralda riss die Augen auf.
Der Nebel kam wieder näher. Esmeralda wandte sich George zu. Sie hängte ihm die Kette um den Hals. "Hör mir genau zu. Wenn du jemanden siehst", erklärte sie mit zitternder Stimme. "Dann sag ihm, dass Silber gegen den Nebel hilft." Sie atmete tief durch." Hast du mich verstanden?" George nickte ängstlich. "Dann geh jetzt und finde deine Eltern." drängte Esmeralda." Na los, geh schon."
George hielt kurz inne und starrte ängstlich auf den Nebel. "Tschüss." flüsterte er schließlich leise, auf seine eigene, kindliche Art und rannte los. Sofort stürzte sich der Nebel auf das vermeintlich wehrlose Opfer. Doch er schaffte es nicht, George zu erreichen. Immer wenn er dem Jungen zu nahe kam, zuckte er wie vor einer unsichtbaren Wand zurück. Stattdessen wandte er sich mit einem hungrigen Zischen Esmeralda zu. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Welcher Teufel hatte sie geritten, damit sie diese Entscheidung traf? Angst ballte sich in ihrem Magen zusammen.
Der Nebel zog einen letzten Kreis um sein Opfer. Dann stürzte er los. Schrecklich brennender Schmerz schoss durch Esmeraldas Körper. Sie schrie und fiel auf die Knie. Ihre verzweifelten Schreie vermischten sich mit dem Geflüster aus den Tiefen des Nebels. Sie bereute es, George die Kette gegeben zu haben. Irgendwie hätte sie es schaffen können.
Ihre aufgeschürften, wunden Finger gruben sich schmerzhaft in den harten Asphalt der Straße. Bald konnte Esmeralda nicht mehr schreien, sondern nur noch kläglich wimmern. Gerade als sie dachte, dass es endlich vorbei wäre, begann ein Hustenanfall sie zu schütteln. Esmeralda würgte Blut auf die Straße.
Unkontrolliert zitternd rollte sie sich zusammen. Ihre Arme hatten sich rot verfärbt. Blutige Blasen überzogen beinahe jeden Zentimeter ihres Körpers. Sie schloss die Augen. Die Stimmen, die sie gehört hatte... "Ich bin bald bei euch." flüsterte sie rau."Bald."
Wörter: 1768
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