2 - Die Schwester
Er hatte den ganzen Tag an nichts anderes gedacht als an ihr bezauberndes strahlendes Lächeln. Dieses Bild hatte sich regelrecht in sein Gehirn eingebrannt. In jeder freien Minute sah er ihr Gesicht vor sich und ohrfeigte sich innerlich selbst dafür, dass er nicht gestern schon angehalten hatte.
Frau Selzers Worte schwirrten ihm durch den Kopf, verspotteten ihn sogar fast schon höhnisch.
Denken Sie daran einer Frau, die sie anlächelt, ruhig mal Ihre Nummer zu geben.
Darauf hätte er auch selbst kommen können, aber anscheinend hatte er zu viel Angst gehabt, dass sie ihn für zu alt, zu hässlich oder einfach generell abstoßend fand. Schließlich starrte er sie seit Wochen aus seinem Auto heraus an. Er hatte sich schlicht weg nicht getraut, sie einfach anzusprechen.
Stattdessen ist er jeden Tag an dieser Bushaltestelle vorbeigefahren, wie ein irrer Axtmörder, der sein nächstes Opfer auskundschaftete. Sie musste ja denken, er wäre total verrückt. Aber warum hätte sie dann lächeln sollen? Vielleicht um ihm zu zeigen, dass sie keine Angst vor ihm hatte.
Aber dafür war es ein zu strahlendes sattes Lächeln gewesen. Es hatte einfach zu ehrlich ausgesehen, um als eine Art Drohung zu fungieren.
Nachdem er sich also bei dem zweiten Meeting heute noch weniger konzentrieren konnte, als bei dem ersten, hatte er sich endlich dazu entschlossen, ihr seine Nummer aufzuschreiben.
Es hatte vier Anläufe gebraucht bis er halbwegs mit dem kleinen Zettel und seiner Handschrift darauf zufrieden war. Jedes Mal waren ihm entweder die Zahlen zu klein, die Buchstaben seines Namens zu krumm oder er verschmierte in seiner Hektik den Kugelschreiber auf dem Papier. Zettel Nummer vier war dann in seinen Augen halbwegs annehmbar.
Aber in seiner Mittagspause entschied er, dass er es noch ein fünftes Mal versuchen sollte und nahm sich fest vor, diesen Zettel dann auch zu benutzen.
Es ist nur deine dämliche Handynummer, keine Liebesbekundung. Sonst fällt es dir auch nicht schwer irgendwelche Frauen anzusprechen und sogar abzuschleppen.
Aber bei ihr war es etwas anderes. Sie war jetzt schon so viel besonderer als alle Frauen, die er zuvor kennengelernt hatte, dabei hatte er noch nicht ein Wort mit ihr gewechselt.
Ein nervöses Kribbeln stieg in ihm auf, je später es wurde und er schrak regelrecht zusammen, als sein Handy auf seinem Schreibtisch neben ihm zu klingeln begann.
„Ja?", nahm er das Gespräch an, ohne darauf zu achten, wer eigentlich anrief.
„Chris? Hier ist deine Lieblingsschwester", hörte er Luisas Stimme an seinem Ohr.
„Ich hab nur die eine", entgegnete er zuckersüß. Er ahnte schon, dass das Gespräch auf einen Gefallen hinauslaufen würde.
„Ach, du machst auch immer alles kaputt. Jedenfalls wollte ich fragen, ob du die kleine Prinzessin und mich um sechzehn Uhr dreißig abholen könntest. Wir haben heute kein Auto und müssen zum Kinderarzt."
Die kleine Prinzessin war seine Nichte. Mit ihren drei Jahren war sie schon ziemlich gerissen und wusste genau, was sie sagen musste, um alles von ihren Eltern oder ihrem Onkel zu bekommen.
„Luisa, ich arbeite eigentlich bis siebzehn Uhr", antwortete er ohne Umschweife.
Er fragte sich ständig, warum sie so etwas nicht einfach ein paar Tage eher ankündigte. Dann konnte er sich darauf auch einstellen.
Seine Schwester war um einiges jünger als er. Wahrscheinlich war die Frau von der Bushaltestelle etwa in ihrem Alter.
Die Frau von der Bushaltestelle!, schoss es ihm durch den Kopf. Wenn er Luisa und die Kleine zum Arzt brachte, würde er zwar dort entlangkommen, aber er konnte ihr wohl kaum, seine Nummer geben, wenn er die beiden im Auto hatte.
Verdammt, Luisa. Jetzt machst du alles kaputt.
Er seufzte und ergab sich in sein Schicksal. Schließlich blieb ihm vermutlich auch nichts anderes übrig.
„Na schön, ich bin um sechzehn Uhr dreißig da. Aber seid bitte pünktlich. Ich möchte nicht warten müssen." Vielleicht hatte er so wenigstens die Chance, die junge Frau zu sehen, auch wenn er nicht halten konnte.
Du bist echt ein Freak, ermahnte er sich selbst.
„Ja, versprochen Bruderherz. Danke, bis später", hörte er Luisa sagen, bevor sie das Gespräch beendete.
***
Um sechzehn Uhr fünfzehn machte er also Feierabend und steckte sich den kleinen Zettel mit seiner Nummer in die Hosentasche, bevor er seine Sachen nahm, um sein Büro zu verlassen.
Bei seiner Schwester angekommen, brachte er den Kindersitz seiner Nichte an und verfrachtete die beiden in seinen Wagen. Was gar nicht so einfach war, denn Luisa wusste, dass die Kleine in seinem Auto nicht essen sollte und hatte ihr trotzdem kurz vor der Abfahrt einen Keks in die Hand gedrückt.
Schließlich hatten sie es alle unbeschadet und mit nur wenig Tränen der kleinen Prinzessin ins Auto geschafft.
Kaum, dass sie unterwegs waren, griff Luisa zielsicher in die Mittelkonsole und zog einen kleinen Zettel hervor.
„Warum hast du hier in deiner Siebte-Klasse-Schönschrift deine Handynummer drauf geschrieben?", fragte sie ihn mit hochgezogener Augenbraue.
„Das ist keine Schönschrift. So schreibe ich immer und jetzt gib mir das", grummelte er und zog ihr das Stück Papier schnell aus der Hand.
„Ach Quatsch, der war für eine Frau?", fragte sie mit breitem Grinsen im Gesicht und er stellte sich die Frage, warum ihn eigentlich jeder gleich durchschaute.
Schnaubend zuckte er mit den Schultern, während er sich weiter auf die Straße konzentrierte.
„Christoph, erzähl mir keinen Blödsinn. Deine kleine Schwester kennt dich dafür zu gut."
Das stimmte zwar, aber er würde ihr sicher nicht sagen, dass der Zettel für eine Frau an der nächsten Bushaltestelle gedacht war und er ihn ihr jetzt nicht geben konnte, weil seine Schwester und seine Nichte mit im Auto saßen.
Deshalb konzentrierte er sich einfach weiter auf die Straße und antwortete ihr nicht. Er hatte in all den Jahren gelernt, dass das die sicherste Methode war, sie ruhig zustellen.
Trotzdem wurde er nervös, als die Bushaltestelle zu sehen war und die junge Frau nicht davor stand. Vielleicht hatte er seine Chance bereits vertan und das hatte nichts mit seiner Schwester zu tun.
Er verstärkte seinen Griff um das Lenkrad und stellte fest, dass seine Fingerknöchel wieder weiß wurden. Natürlich entging Luisa diese Tatsache keinesfalls. Und als sie dann an der Haltestelle vorbei fuhren und er seinen Kopf nur ein paar Millimeter drehte, um zu erspähen ob sie nicht doch da war, bereute er es schon.
Zwar war die Frau dort, aber sie stand sehr weit hinten, so als würde sie sich vor ihm verstecken wollen.
Aber deswegen bereute er seinen Blick nicht, sondern weil seine Schwester sofort verstand, was er da tat. Sie riss den Kopf herum und versucht im Wegfahren noch einen Blick auf die Person im Schatten des Baumes zu erhaschen.
„Sag nicht, dass du dich in eine Frau verknallt hast, an der du jeden Tag einfach nur vorbeifährst?", kreischte sie. „Das ist nicht dein Ernst! War sie das?"
Er zuckte wieder mit den Schultern, denn egal was er jetzt sagte, sie würde ihm einen Strick daraus drehen. Dummerweise hielt sie sein Schweigen diesmal nicht davon ab, die ganze Zeit darüber zu sprechen, was für ein idiotischer Mann er war, dass er sie nicht einfach ansprach.
Dieses einseitige Gespräch setzte sich auch auf dem ganzen Weg zurück weiter fort und er versuchte nicht so sehr daran zu denken, für was für einen Versager seine kleine Schwester ihn in Liebesdingen hielt. Deshalb nahm er sich vor, der jungen Frau endlich diesen Zettel zu geben, und zwar gleich morgen. Morgen ganz bestimmt.
***
Sie hatte ihre ganze Energie in die Korrektur ihrer Arbeit gelegt und den Gedanken an den Mann von der Bushaltestelle erfolgreich verdrängt.
Sie war sich immer noch nicht ganz sicher, ob er nicht vollkommen harmlos war. Sein erstauntes Gesicht als sie ihn angelächelt hatte, konnte sie noch immer genau vor sich sehen.
Er schien zwar wirklich deutlich älter zu sein als sie, aber er sah verdammt gut aus. Trotzdem war sie sich nicht sicher, ob sie ihm heute nochmal begegnen wollte.
Sie speicherte die überarbeitete Version ihrer Arbeit und ließ dann ihren Blick zu der kleinen Anzeige in der unteren rechten Ecke des Laptops gleiten, um die Uhrzeit in Erfahrung zu bringen.
Als sie die Zahl ablas, weitete sie erschrocken die Augen. Mist, Mist, Mist!
Sie hatte die Zeit doch nur kurz aus den Augen gelassen!
In elf Minuten ging der Bus, den sie ursprünglich nehmen wollte und sie hatte noch nicht mal ihre Sachen zusammen gepackt. Na super, dass schaffe ich doch nie!
Rasend schnell stopfte sie all ihre Sachen in ihre Tasche, sah sich noch einmal um, ob sie alles hatte und verließ dann im Eiltempo die Bibliothek. Sie würde wohl morgen auch nochmal herkommen müssen, aber jetzt galt es erstmal, den Bus zu bekommen.
Sie stürmte auf die Bushaltestelle zu und stellte erleichtert fest, dass der Bus noch nicht dort stand. Ein Blick auf ihre Uhr führte jedoch zur ernüchternden Erkenntnis, dass der Bus nicht da war, weil sie ihn um vier Minuten verpasst hatte.
Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als auf den nächsten zu warten. Den Bus, den sie eigentlich nicht hatte nehmen wollen.
Sie entschied, sich dieses Mal nicht direkt an die Straße zu stellen, aber sich ganz zu verstecken machte keinen Sinn, denn so konnte der Busfahrer sie auch nicht sehen und würde eventuell noch vorbeifahren.
Deshalb versuchte sie sich möglichst weit hinten zu platzieren. Zu dumm, dass diese Bushaltestelle kein Häuschen hatte.
Sie seufzte und öffnete ihr Haar ein wenig mehr. So konnte sie vielleicht ihr Gesicht wenigstens etwas verbergen. Sie war auch selbst schuld, dass sie jetzt so ein Gefühl hatte. Was hatte sie sich auch dabei gedacht, ihn anzulächeln und ihn damit vielleicht sogar noch anzustacheln.
Gar nichts hatte sie sich gedacht. Sie hatte einfach nur in diese markanten, attraktiven Gesichtszüge mit dem leichten Schmunzeln gesehen und sich geschmeichelt gefühlt, dass er sie anscheinend gerne ansah.
Sie seufzte nochmal und ergab sich in ihr Schicksal. Sie würde ganz einfach hier stehen bleiben müssen und hoffte, dass er sie nicht aus seinem Fahrzeug heraus erschoss.
Etwa zwanzig Minuten und damit fast sechs Songs ihrer Playlist später sah sie die Straße herunter und tatsächlich war dort wieder der graue große Luxuswagen. Diesmal allerdings ging der Fahrer nicht vom Gas, sondern behielt seine Geschwindigkeit bei. Das war in den letzten Wochen selten passiert und sie wunderte sich schon ein bisschen.
Trotzdem zwang sie sich den Blick zu senken. Er sollte sie schließlich nicht sehen und schon gar nicht beim Starren erwischen. Aber irgendetwas brachte sie dazu, einen kurzen Blick ins Innere des Wagens zu werfen.
Aber der Mann war nicht allein. Neben ihm saß eine Frau. Sie musste etwa in ihrem Alter sein und sie war wirklich schön. Hinter den beiden meinte sie sogar einen Kindersitz auszumachen, in dem scheinbar ein Kleinkind saß.
Auf eigenartige Weise störte es sie, dass seine Aufmerksamkeit nicht mehr ihr galt. Offensichtlich hatte er eine Familie. Und das stimmte sie irgendwie unzufrieden. Wozu sollte er sie ansehen, wenn er eine so hübsche Frau und ein kleines Kind hatte?
Er hatte seinen Blick nicht mal annähernd in ihre Richtung gewendet.
Damit war wohl klar, dass die verstohlenen Blicke nur ein Zeitvertreib seinerseits gewesen waren. Allerdings musste sie sich dann auch keine Sorgen mehr machen, dass er sie umbringen wollte.
Sie sah dem Wagen sogar ein wenig wehmütig hinterher, als er an ihr vorbeirauschte.
Seine Blicke hatten ihr ein erhabenes Gefühl gegeben und irgendwie hatte sie jetzt wirklich keinen Grund mehr, jeden Tag hier herumzustehen. Genauso gut konnte sie den Rest ihrer Arbeit auch zuhause erledigen. Dafür musste sie nicht zwangsläufig in die Bibliothek und hier am Nachmittag darauf warten, dass er an ihr vorbeifuhr. Denn so langsam glaubte sie, dass es genau das war, was sie die letzten Tage getan hatte und ihre Abschlussarbeit war die perfekte Ausrede dafür.
Als der Bus endlich kam, stieg sie mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ein und fuhr nachhause. Sie war sich sicher, dass sie morgen um diese Zeit nicht hier stehen würde.
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