2 - Der Mann im Auto

Endlich hatte sie ihre Arbeit fertig geschrieben. Es wurde auch Zeit, irgendwann musste sie schließlich mal zurande kommen. Sie speicherte alles drei Mal an unterschiedlichen Stellen und schließlich noch auf einem USB-Stick. So konnte auch wirklich nichts von ihrer Abschlussarbeit verloren gehen. Trotzdem musste sie morgen noch einmal in die Bibliothek kommen und alles genau sichten und dann war es bereit zum Binden und abgeben.

Sie klappte ihren Laptop zusammen und packte ihre Sachen in die Tasche, die noch an ihrem Stuhl hing.
Sie hatte sich jeden Tag vorgenommen, nur so lange daran zu arbeiten, dass sie noch den Bus um siebzehn Uhr zwanzig bekam. Sie wollte sich am Abend etwas ausruhen, um am nächsten Tag erfrischt weiterschreiben zu können und bisher hatte das sehr gut funktioniert.

Seufzend schwang sie sich ihre Tasche über die Schulter und verließ schnellen Schrittes die Bibliothek. Sie musste sich beeilen, wenn sie den Bus erwischen wollte. Wobei - so sehr eigentlich auch nicht. Es war erst siebzehn Uhr und sie brauchte nur zehn Minuten zur Haltestelle.
Aber irgendwie wollte sie möglichst pünktlich dort sein.

Seit ein paar Wochen war ihr aufgefallen, dass immer um siebzehn Uhr fünfzehn ein Mann an ihr vorbeifuhr und sie genau musterte. Jeden einzelnen Tag.
Zuerst hatte sie gedacht, dass er etwas komisch an ihr fand, aber da war absolut nichts Ungewöhnliches an ihr. Sie konnte sich sein Starren nicht erklären, aber trotzdem fand sie es nicht mehr unangenehm.

Anfangs fand sie es schon seltsam. Er schien sogar einige Jahre älter zu sein, als sie selbst. Es kam ihr so vor, als würde er versuchen, sich ihr Äußeres für später einzuprägen, wenn er in Ruhe zuhause war.
Er hatte sie so durchdringend angesehen, dass ihr richtig unbehaglich zu mute wurde.

Aber nach einigen Tagen wurde sein Gesichtsausdruck weicher und hin und wieder sah sie ihn aus dem Augenwinkel lächeln, wenn er an ihr vorüber fuhr. Auf merkwürdige Art und Weise wandelte sich ab dem Tag ihr Empfinden gegenüber seines Starrens.

Sie genoss seine Blicke regelrecht und fühlte sich auf schräge Art begehrenswert. Sein Lächeln schmeichelte ihr. Sie wollte ihn gern genauer ansehen, hatte aber Sorge, wenn er es bemerkte, dass er nicht weiter Ausschau nach ihr hielt, weil ihn das abschreckte.

Es war verrückt, dass sie sich so viele Gedanken um den Mann machte. Wer weiß, ob er sie nicht vielleicht auch nur so anstarrte, weil er sie in den nächsten Wald bringen und abstechen wollte.

Trotzdem gefiel es ihr, dass er ihr so viel Aufmerksamkeit schenkte und sie hatte die kleine Hoffnung, dass er sich genauso beeilte wie sie, nur um sie zu sehen.
Jetzt stand sie bereits an der Bushaltestelle und wartete darauf, dass es Viertel nach fünf wurde. Sie genoss die warme Sonne auf dem Gesicht und versuchte nicht allzu auffällig Ausschau nach seinem großen Wagen zu halten.

Dann schließlich konnte sie den grauen Lack seines Wagens in der Sonne blitzen sehen und sie stellte sich ein wenig gerader hin, um ihr Gesicht in Richtung Sonne zu drehen. Vollkommen verrückt, wie du dich einem total Fremden präsentierst, wie ein Stück frisches Fleisch!

Sie bemerkte, dass sein Wagen noch langsamer wurde, als er knapp vor ihr war. Und genau da hob sie, ohne darüber nachzudenken, den Blick.
Als sein Blick daraufhin den ihren traf und sie seinen geschockten Gesichtsausdruck wahrnahm, musste sie unwillkürlich schmunzeln. Das Schmunzeln wandelte sich angesichts seiner geweiteten Augen letztlich sogar in ein echtes Lächeln.

Dass er sich ertappt fühlte, amüsiert sie. Aber so hatte sie wenigstens einen richtigen Blick auf ihn. Sie hatte ihn zwar schon auf Mitte dreißig geschätzt, aber irgendwie wirkte er jünger. Was auch daran gelegen haben könnte, dass ihr Blick ihn augenscheinlich ziemlich aus dem Konzept gebracht hatte.

Seine dunkelblonden Haare waren nachhinten gekämmt und an seinem blauen Hemd waren zwei Knöpfe geöffnet. Sie glaubte sogar, dass er die Ärmel ein wenig hochgeschlagen hatte. Wie ein Geschäftsmann nach einem langen Tag voller Kundentermine, der einfach froh war bald aus seinen Klamotten herauszukommen.
Vielleicht konnte sie ihm ja sogar dabei helfen, ging es ihr durch den Kopf, aber schnell schüttelte sie diesen unangebrachten Gedanken ab. Sie wusste nicht mal woher das gekommen war und war fast ein wenig irritiert von sich.

Sie erschrak als der Bus vor ihr mit einem lauten Zischen zum Stehen kam. Schnell sammelte sie sich und stieg ein. Drinnen sah sie sich nach einem angemessenen Sitzplatz um und stieß dabei weiter hinten auf eine ihr sehr bekannte Person, die ihr zurückhaltend zuwinkte.

Sie ging zielstrebig auf den Platz neben ihrer Freundin zu und setzte sich, gerade als der Bus wieder anfuhr.
„Hey Lara, was machst du denn hier?", fragte sie, die mollige kleine Person neben ihr.
„Das wollte ich dich auch gerade fragen, Valentina. Ich war bei einer Freundin und du?", stellte ihre Freundin die Gegenfrage.

„Ich habe an meiner Masterarbeit weitergeschrieben und glaube, dass ich heute endlich den Abschluss dafür gefunden habe", antwortete sie, klopfte ein wenig stolz auf ihre Tasche und lächelte froh.
„Ah, okay. Und warum bist du dann so rot? Hast du in der Bibliothek einen Sonnenbrand bekommen?" Lara sah sie schmunzelnd mit hochgezogener Augenbraue an.

Sie selbst war so erschrocken von der Frage, dass sie ihre Hände an ihre Wangen legte, um ihre Wärme zu überprüfen. War sie etwa wegen des Mannes errötet? So ein Quatsch. Warum sollte ich da rot werden. Schließlich hat er mich nur angesehen.

„Oh, den Blick kenne ich. Wer ist der Mann?", fragte Lara mit einem zuckersüßen Grinsen im Gesicht.
„Ich habe absolut keine Ahnung", antwortete sie und schüttelte belustigt den Kopf, nachdem sie sah, wie ihre Freundin angesichts ihrer Antwort die Stirn in Falten legte.

„Wie kannst du keine Ahnung haben? Das verstehe ich nicht."
Daraufhin erzählte sie Lara von den täglichen Augenblicken mit dem Mann in seinem Auto und bemerkte, dass sie die meiste Zeit lächelte, bis ihre Freundin sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte.

„Das ist irgendwie creepy. Bist du sicher, dass er dich nicht entführen und deine Leiche in irgendeinem See versenken will? Ich glaube, die meisten True Crime Podcast Folgen fangen mit so einer Geschichte an und es endet immer blutig."
Die Worte ihrer Freundin stimmten sie nachdenklich. Eigentlich hatte sie das Ganze für einen harmlosen Flirt über Blickkontakt gehalten und nur aus Spaß daran gedacht. Aber was harmlos begann, konnte wirklich schnell umschwingen.

„Wahrscheinlich hast du recht. Ich muss hier raus, also wir sehen uns. Komm gut nachhause", sagte sie und stand auf, als der Bus hielt, um auszusteigen.
„Du auch und pass ja auf dich auf. Ich will nichts über dich im Internet lesen, was mit einer Straftat zu tun hat, okay?", betonte Lara und winkte ihr nochmal zu.
„Okay, mach's gut!"

Auf dem Gehweg angekommen, schwang sie sich ihre Tasche erneut über die Schulter und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg in ihre kleine Zweiraumwohnung.
Irgendwie beschlich sie jetzt das ungute Gefühl, dass sie beobachtet wurde.

Hektisch schloss sie die Haustür auf und drückte sie sogar fest hinter sich zu, um sicher zu gehen, dass ihr niemand hinein folgen konnte.
In ihrer Wohnung angekommen, war sie versucht, alle Jalousien herunterzulassen und Vorgänge zu schließen, aber das hielt sie dann doch für zu übertrieben. Schließlich war ihr bisher nur aufgefallen, dass der Mann sie an der Bushaltestelle ansah. Sein Wagen war ihr noch nie gefolgt oder sonst was.

Sein Blick war auch ziemlich erschrocken, als er bemerkt hatte, dass sie ihn gesehen hat. Und irgendwie kam er ihr gar nicht gefährlich vor, aber das waren ja meistens die schlimmsten. Zumindest sprach selten jemand in True Crime Podcasts von Mördern mit fiesen Narben, spitzgefeilten Zähnen und einem Messer im Mund.

Den ganzen Abend grübelte sie noch über Laras Worte, ehe sie beschloss, morgen einen Bus früher nachhause zu nehmen und dem Mann so hoffentlich nicht mehr zu begegnen.

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