1 - Eine geheime Botschaft

Sie kannte den Mann ihr gegenüber zwar, aber sie hatte ihn über dreizehn Jahre nicht mehr gesehen. Alles was sie über Nico in der Zeit wusste, hatte sie nur aus zweiter Hand von seiner Schwester Vanessa und das war nicht besonders viel. Auch wenn sie nicht nur einmal nach ihm gefragt hatte. Vielleicht fühlte sie sich deshalb doch etwas unwohl in seiner Nähe. Eine komische Nervosität stieg in ihr auf, die sie schon länger nicht mehr gefühlt hatte.

„Ach, eigentlich will ich jetzt nicht über die Arbeit sprechen. Stattdessen zeig doch mal her, was du da in der Hand hast." Schnell griff er über den kleinen runden Tisch und zog das rosafarbene Buch mit der goldenen Schrift aus ihren Händen, bevor sie auch nur ansatzweise reagieren konnte.
Nico zwinkerte ihr verschmitzt zu und sie spürte, dass sich die Röte noch weiter in ihrem Gesicht ausbreitete.

Was ich nie über die Liebe wissen wollte", las er den Titel des Romans vor und runzelte die Stirn. „Ich hätte nicht gedacht, dass du sowas liest."

Er ließ seine schlanken Finger an der Stelle zwischen die Seiten gleiten, an der das Lesezeichen steckte und schlug das Buch auf.
Sie sah wie seine Augen über die ersten Sätze wanderten bevor er amüsiert den Blick hob.
Liebe ist so richtig scheiße und keiner kann mich vom Gegenteil überzeugen?", lachte er und sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. „Das hättest du sein können damals in der dritten Klasse. Erinnerst du dich noch?"

Sie brauchte nicht lange nachzudenken, denn die Geschichte wurde nicht das erste Mal aufgewärmt und sie erinnerte sich nur allzu gut. Damals hatten sich alle gegenseitig so kleine Zettelchen zugesteckt und sich ihre Liebe gestanden. Oder das was man mit etwa acht eben für Liebe gehalten hatte.

„Du warst so sauer, weil einer eurer Klassenkameraden ein extra Feld auf deinen Zettel gemalt hat, neben dem stand Wohin? und das dann angekreuzt hat. Ness und du, ihr habt den Nachmittag bei uns verbracht und als ich aus der Schule kam, hast du immer noch vor dich hin gewettert. Ich könnte schwören, dass genau das hier deine Worte waren."

Er sah sie immer noch breit grinsend an und tippte mit dem Zeigefinger auf den Satz in dem Buch, ehe er seine Stimme einige Oktaven höher verstellt und versuchte ihr achtjähriges Ich zu imitieren. „Liebe ist so scheiße! Wer braucht das schon. Ich jedenfalls nicht!" Er räusperte sich, bevor er lachend weitersprach. „Dabei hast du deine Hand so in die Hüfte gestemmt und den zerknüllten Zettel vor dir auf den Boden gefeuert. Unsere Mutter hat sich heimlich hinter der Tür gekringelt vor Lachen. Und ich war ehrlich überrascht, dass so ein kleines zartes Mädchen das Wort ‚Scheiße' kannte."

Sie war vollkommen perplex. Nico schien sich fast überhaupt nicht verändert zu haben. Er ist immer noch der gleiche, wie damals mit vierzehn. Genau das gleiche Lachen und genau die gleiche Art sie aufzuziehen. Und obwohl ihr gesamtes Gesicht inzwischen glühte, musste auch sie schmunzeln.

„Hey, der Junge hat mein kleines Herz gebrochen. Ich hoffe, das ist dir klar", verteidigte sie sich vorsichtig lächelnd. Dabei erinnerte sie sich nicht mal mehr an den Namen des Jungen.
„Oh, glaube mir, das habe ich gemerkt. So wütend wie du warst. Deine Wangen waren genauso rot wie jetzt und deinen Augen zu winzigen Schlitzen verengt. Und wie schockiert Ness neben dir stand."

Verlegen griff jetzt sie über den Tisch, zog das Buch wieder zu sich und steckte es schnell in die Tasche. Er musste nicht noch mehr Sätze vorlesen und irgendwelche alten Kamellen dazu zum Besten geben.
„Du hast aber auch einigen Mädchen die Herzen gebrochen", sagte sie verschwörerisch und entlockte ihm damit ein breites Grinsen.
„Deins vielleicht auch?", fragte er unumwunden und schockierte sie damit nochmal.
Schüchtern neigte sie den Kopf.

„Jetzt aber wirklich genug von mir", versuchte sie schnell das Thema zu wechseln. „Vanessa hatte vor ein paar Monaten davon gesprochen, dass du sie bald mal mit nimmst, wenn du beruflich verreist?" Sie ließ es wie eine Frage klingen, damit er auf jeden Fall darauf antworten musste und etwas von ihr abließ.

„Ja, ich wollte ihr ein paar schöne Orte zeigen. Aber der schönste Ort ist immer noch zuhause", antwortete er und trank von seinem Kaffee. „Was machst du überhaupt hier? Bist du umgezogen oder nur für dieses überaus miese Date hier?"

Seine braunen Augen strahlten sie an und sie musste schlucken. Eine Welle von Emotionen über kam sie angesichts des frechen Schmunzelns. Sie erinnerte sich daran, dass sie ihm früher gern so einen albernen Zettel zu gesteckt hätte, aber sie hatte sich nicht getraut.
„Ich bin nur wegen des Dates hier, aber ich wohne auch nicht mehr so weit von hier entfernt. Trotzdem schaffen Vanessa und ich es einfach nicht, uns öfter zu sehen."

Sie trank den letzten Schluck ihres Cappuccinos und drehte dann die große Tasse auf dem kleinen Teller darunter hin und her.
„Das solltest du unbedingt ändern. Vielleicht sehen wir uns dann auch öfter." Er versuchte ihren Blick mit seinen Augen zu fangen. Sie erfüllte ihm den Wunsch und sah ihn direkt an.
Tatsächlich lächelte sie sogar angesichts der Tatsache, dass er sie gern öfter sehen würde. Auch sie war nicht abgeneigt wieder etwas mehr Zeit mit ihm und Vanessa zu verbringen.

Trotzdem fiel ihr Blick auf ihre Armbanduhr und dann nach draußen. Der Schneefall hatte immer noch nicht aufgehört und mittlerweile mussten schon mindestens fünfzehn Zentimeter Neuschnee auf den Straßen liegen. Wenn sie nicht bald aufbrach, konnte es schwierig werden, nachhause zu kommen.

Er folgte ihrem Blick und schien ihre Besorgnis zu spüren. Sofort griff er nach ihrer Rechnung. „Ich übernehme das und dann fahre ich dich, okay? Falls du ein Auto hier hast, holen wir es morgen zusammen ab. Aber ich wäre ein schlechter Lückenfüller, wenn ich dich bei dem Wetter allein nachhause fahren ließe."
Seine Bedenken, ihre Sicherheit betreffend berührten sie und auf eine eigenartige Weise hatte sie sich wohl auch gewünscht, dass sie noch ein wenig Zeit mit ihm verbringen konnte.

„Okay, aber nur wenn es dir keine Umstände macht. Und danke", sagte sie und wies auf die Rechnung in seiner Hand.
„Ach was, für meine Sandkastenfreundin mache ich das doch gern." Diesmal glaubte sie, dass sein Lächeln zögerlicher war. Nicht so ein breites Grinsen. Es fühlte sich für sie gleich viel echter an.
Er sah sie also als seine Sandkastenfreundin. Damit hatte sie nicht gerechnet und die Wärme in ihrem Gesicht bereitete sich langsam über ihren Hals aus. Sie hoffte, dass sie keine hektischen Flecken bekam, denn das passierte häufig, wenn sie gestresst war.

Der Kellner kam zum Tisch und Nico bezahlte.
Sie glaubte zu sehen, dass er ein großzügiges Trinkgeld gab, aber er hing es nicht an die große Glocke.
Sie wusste, dass er gutes Geld verdiente, denn das hatte Vanessa doch mal erwähnt, aber trotzdem wirkte er so bodenständig. Seine Kleidung sah aus, als trüge er sie schon mehrere Jahre. So verwaschen und auch ein bisschen löcherig. Fast wie früher.

Sie stand auf und legte sich ihren dicken Schal um den Hals. Ihre Handschuhe legte sie auf den Tisch und wollte gerade nach ihrer Jacke greifen, als sie feststellte, dass sie verschwunden war.
„Darf ich behilflich sein?", fragte Nico und hielt ihr die Jacke hin, sodass sie einfach hineinschlüpfen konnte.
„Danke", sagte sie heiser und war froh, dass sie ihr rotes Gesicht in ihrem großen Schal verstecken konnte, denn als seine Hände ihre Schultern streiften, wurde ihr unwillkürlich noch wärmer.

Dieser plötzlich so erwachsene Mann erneuerte Gefühle in ihr, die sie jahrelang für Kinderkram gehalten hatte.
Sie schloss den Reißverschluss ihrer Winterjacke und widmete sich dann ihren Handschuhen.
Als sie aufsah, stand Nico schon komplett angezogen vor ihr und wartete darauf, dass sie loskonnten.

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1285 Wörter ❄️

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