1 - Ein verheißungsvolles Ende
Das Schneegestöber hatte so weit aufgehört, dass sie wenigstens ein bisschen was sehen konnte. Allerdings war es inzwischen vollständig dunkel und das gelbe Licht der Straßenlaternen strahlte von den weißen Massen nur mäßig zurück.
Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her. Sie wusste nämlich nicht, was sie noch sagen sollte. Was sollte sie denn schon zu jemandem sagen, den sie ewig nicht gesehen und für den sie früher wie auch immer geschwärmt hatte?
Durch den Schnee umgab sie zusätzlich eine seltsam gedämpfte Stille. Kein Geräusch war zu hören, abgesehen von dem Knirschen unter ihren Schuhsohlen. Die Straße war unter einer dicken weißen Decke vergraben und sie konnte nicht ein einziges fahrendes Auto ausmachen.
„Vielleicht ist Fahren doch keine Option", räumte sie nach einem kurzen Stück des Weges ein.
Aber er schüttelte den Kopf. „Ach was, ich glaube, wir kriegen dich schon irgendwie nachhause. Und wenn nicht, kommst du mit zu uns. Ness würde sich sicher freuen."
Sie dachte kurz darüber nach. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee. Sie hatte Vanessa seit mindestens fünf Monaten nicht mehr gesehen und bei dem Gedanken daran, mit Nico zu ihm nachhause zu fahren, löste ein Kribbeln auf ihrer Haut und eine Wärme in ihrem Bauch aus, die sie schon lange nicht mehr in dem Ausmaß gespürt hatte.
Sie glaubte sogar, dass ihre kurzen Beziehungen und katastrophalen Dates immer daneben gingen, weil sie alle Männer an ihrer kindlichen Vorstellung von ihm gemessen hatte. Sie war sich dessen nur nie bewusst gewesen - bis heute.
„Aber nur wenn es wirklich keine Umstände macht. Schließlich war es reiner Zufall, dass wir uns getroffen haben", sagte sie und versuchte nicht zu strahlend zu lächeln. Sie befürchtete, dass es ihn sonst abschreckte.
„Melli, es hat auch keine Umstände gemacht, dass du und meine süße kleine Schwester mir jedes Wochenende meine hart erkämpften geheimen Süßigkeiten-Bestände geplündert habt. Da wird ein Abend bei uns zuhause schon niemanden stören. Außerdem muss ich zugeben, dass ich gar nicht so zufällig hier bin."
Nach seinen Worten sah sie ihn forschend an und überlegte, was das bedeuten sollte. Sie glaubte sogar, dass seine Wangen sich ein wenig röteten, war sich aber nicht sicher, ob es vielleicht einfach nur die Kälte war.
Dann fiel ihr ein, dass sie Vanessa geschrieben hatte, wie sie im Moment versuchte mit Internet Dating an einen akzeptablen Mann zu geraten. Das muss ungefähr eine Woche her gewesen sein. Sie hatte es sich gemerkt, denn sie schrieben nicht besonders oft. Aber diesmal schien es gepasst zu haben und so hatte sie wohl Vanessa kurz vor Nicos Ankunft von ihrem Vorhaben für heute Nachmittag berichtet.
„Hat dir Vanessa erzählt, dass ich heute hier bin?", fragte sie vorsichtig, um sich zu vergewissern, dass es so gelaufen war.
Er nickte, ohne sie anzusehen. Jetzt war sie sich sicher, dass er nicht wegen der Kälte rot anlief.
„Ja, hat sie und ich - also ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht. Bei diesen Typen aus dem Internet weiß man schließlich nie."
Dreizehn Jahre hatten sie sich nicht gesehen und nichts voneinander gehört und trotzdem machte er sich Sorgen um sie.
Sie versuchte ihr Lächeln dieses Mal nicht hinter ihrem Schal zu verstecken, denn auch er hatte ein scheues Schmunzeln aufgesetzt.
Schließlich kamen sie an seinem Wagen an. Oder dem, worunter sich sein Wagen befand. Ein großer Haufen Schnee bedeckte ihn und als Nico die Zentralverrieglung betätigte, schien das Blinken der Scheinwerfer nur sehr schwach durch die dichte weiße Decke.
♡♡♡
Nachdem er mit ihrer Hilfe die Scheiben und Türen des Wagens halbwegs vom Schnee befreit hatte und sie sich ins Innere vor dem Schneegestöber zurückgezogen hatten, mussten sie allerdings ernüchternd feststellen, dass der Wagen sich niemals aus der Parkbucht herausmanövrieren ließ. Sie waren eingeschneit.
Trotzdem ließ er sich nicht von ihr davon abbringen, den Motor zu starten und in der Parkbucht ein paar Mal hin und her zu fahren. Aber vergebens.
Sie beobachtete ihn dabei, wie er versuchte, den Wagen auf die Straße zu bekommen, während die Räder durchdrehten. Schließlich schaltete er missmutig den Motor ab.
„Dann werden wir wohl doch zu Fuß gehen müssen", sagte er, ließ seine Hände vom Lenkrad sinken und schaute durch die Frontscheibe nach draußen. Sein Blick wirkte nicht erfreut darüber, dass er seinen Wagen an Ort und Stelle lassen musste.
Sie überlegte einen Moment, ob sie ihre Chance wirklich ergreifen wollte und ob sie den Mut dazu aufbringen konnte. Vorsichtig schielte sie zu ihm hinüber und spürte sofort, wie ihr Herz schneller in ihrer Brust schlug.
„Oder wir warten hier auf das nächste Räumfahrzeug", wisperte sie schließlich beherzt und wunderte sich fast selbst über ihre Worte.
Langsam drehte er seinen Kopf in ihre Richtung und zog dann eine Augenbraue hoch. Sie schätzte, dass er verstanden hatte, worauf sie hinauswollte.
„Melina, versprich nichts, was du nicht halten kannst", entgegnete er verschwörerisch und legte seine Hand zögerlich auf ihre. Trotzdem wand er den Blick nicht eine Sekunde von ihren Augen ab.
„Tu' ich nicht, Nico." Ihre Stimme wurde immer leise, aber sie war sich sicher, dass sie die Wahrheit sagte. Von dem Moment an, als sie ihn wiedererkannt hatte, wusste sie, dass Nico schon immer derjenige gewesen war. Schon mit acht und auch damals mit zehn als er weggezogen war, hatte sie es gewusst.
Langsam erinnerte sie sich daran, wie schmerzlich es für sie gewesen war, dass sie damals nicht nur ihre beste Freundin durch den Wegzug der Familie verloren hatte, sondern auch den Bruder ihrer besten Freundin. Der jetzt neben ihr saß und sie ansah, als hätte er damals auch schon ähnliche Gefühle gehabt.
Daraufhin lehnte er sich über die Mittelkonsole, bis kurz vor ihr Gesicht. „Für mich warst du wirklich meine Sandkastenfreundin", wisperte er und legte dann zwei Finger an ihr Kinn.
Ihre Wangen glühten und in ihrem Bauch kribbelte es. „Hätte ich das nur eher gewusst. Ich hatte dir auch immer so einen Zettel zustecken wollen, mich aber nie getraut, ihn dir in die Tasche zu schummeln."
„Und wenn ich dann Ja angekreuzt hätte? Hättest du dann vielleicht auch gesagt, dass Liebe scheiße ist?", fragte Nico schmunzeln, aber Melina schüttelte schnell mit dem Kopf. Mit ihm als ihren Sandkastenfreund, hätte sie das sicher nie gesagt.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und näherte sich ihm, bis sich ihre Lippen schließlich berührten.
Die Scheiben des Kombis beschlugen, während die dicken Flocken, die noch immer darauf fielen das Halbdunkel im Innere des Wagens und seine Passagiere für eine Weile vor der Außenwelt verbargen.
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1074 Wörter ❄️
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