kapitel o9; frühling(s) erwachen

tropf

tropf

plopp

platsch

tropf

tropf

ist ein Rhythmus. Die Wassertropfgeräusche sind weg. Die Geräusche sind jetzt nur noch in seinem Kopf.

An der Wand sind Rohre. Die Rohre sind verrostet. Rostrot gefärbt. Die restliche Wand ist weiß. Große Wasserflecken befinden sich auf der Wand. Die rechte Ecke ist schwarz. In der rechten Ecke ist Schimmel.

Der Boden ist grau. Der Boden besteht aus Beton. Es gibt keinen Fußboden. Der Boden ist kalt. Er sitzt auf dem Boden und wünscht sich ein Kissen. Er wünscht sich eine Decke. Es ist kalt.

tropf

tropf

plopp

platsch

tropf

tropf

ist weg. Er hört die Wassertropfgeräusche trotzdem noch. In seinem Kopf sind sie ganz deutlich. Seine Lippen formen stumme Worte. Er singt zu dem Rhythmus, den nur er hört.

Er möchte die Augen zu machen. Er möchte schwarzsehen. Aber er muss zusehen.

Er sieht einen Mann. Ein anderer Mann sitzt auf einem Stuhl. Mit ihm sind zwei Männer in diesem Raum. Einer davon ist sein Vater. Der andere ist gefesselt. Der Mann auf dem Stuhl ist gefesselt und die Fesseln sind Seile. Um seinen Körper geschlungen und um die Stuhllehne. Da sind auch Handschellen. Die Handschellen sind an seinen Händen. Und ebenfalls an dem Stuhl. Das Metall klimpert, wenn es gegen den Stuhl kommt. Er kann das Klimpern nicht hören. Es ist ein Klimpern ohne Töne. Er sitzt in seiner Ecke und fragt sich, ob sich verrückt werden so anfühlt. Wie ein Klimpern, dass die Töne verliert.

Auf dem Stuhl sitzt ein Mann. Er ist verletzt. Er blutet.

Vor diesem Mann steht sein Vater. Er hat auch Metall an den Händen, aber es sind keine Handschellen. Es sieht aus wie Ringe. Große Ringe. Sein Vater trägt Schmuck an den Händen. Sein Vater trägt sonst nie Schmuck.

Er möchte wegsehen, schwarzsehen, nicht hinsehen. Aber er muss hinsehen.

Warum muss er hinsehen? Er weiß es nicht. Sein Vater hat zu ihm gesagt, dass er hinsehen soll. Damit er weiß, was die Kkangpae später von ihm erwarten werden. Sowas hat er gesagt. Mit diesen großen Augen voller Schwarz. Das hat er manchmal. Eigentlich sind die Augen seines Vaters braun. Nur manchmal nimmt er Medizin und dann werden sie schwarz. Ein weißes Pulver oder eine Spritze. Eine Spritze liegt noch neben ihm. Er hat Angst vor diesen Spritzen. Er möchte nicht, dass seine Augen auch schwarz werden.

Der Mann, der sein Vater ist, hält die Ringe ganz fest und schlägt damit zu. Rot fliegt durch die Luft. Die Lippe des anderen Mannes blutet jetzt. Die Nase auch. Die Schläfe auch. Das Gesicht ist rot und nicht mehr weiß. Auf dem Stuhl sitzt jetzt ein Mann mit rotem Gesicht. Die Hand seines Vaters, die mit den Ringen, ist auch rot.

Tropf

tropf

plopp

platsch

tropf

tropf

singt er sein Lied und sein Gehirn sieht weg. Seine Augen sehen zu. Der Mann vor dem Stuhl hat die Hand erhoben. Er streckt die Faust in Luft. Er droht dem Mann mit dem roten Gesicht. Sein Vater hat rote Hände und schwarze Augen. So hat er sich den Teufel vorgestellt. Sein Vater ist ein Teufel.

Der Teufel schlägt zu. Aus dem roten Gesicht wird roter Matsch. Auf dem Stuhl sitzt jetzt ein Mann mit rotem Matsch im Gesicht. Die Bewegungen haben aufgehört. Es schlägt kein Metall mehr gegen den Stuhl. Kein Klimpern. Kein Wimmern. Er hört immer noch nichts.

Nur tropf, tropf,
plopp, platsch,
tropf, tropf - komm sing mit mir.

Die Schultern seines Vaters heben und senken sich schnell. Da sind Schweißtropfen auf seiner Stirn. Sie sind durchsichtig wie Wasser. Er hat solchen Durst. Der Brustkorb von seinem Vater bebt. Er ist nun der einzige Mann im Raum.

Er sitzt in der Ecke, aber er ist nur ein Kind. Ein Kind mit großen Durst. Hunger hat er nicht. Sein Magen hat sich selbst verdaut. Jetzt kann er ohnehin nichts mehr essen. Ihm ist kalt. Er denkt an Dinge, die schön sind.

Aus dem Mann auf dem Stuhl ist roter Matsch geworden. Roter Matsch, an dem noch ein Körper hängt. Der Körper bewegt sich nicht. Der Körper trägt immer noch die Handschellen. Und auch die Seile. Die Seile sind mit Matsch besudelt. Sie sind jetzt rosa. Rosa ist besser als schwarz. Bevor seine Augen schwarz werden, wäre er lieber rosarot.

Sein Vater steht jetzt vor ihm. Die Metallringe an seiner Hand sind weg. Seine Hand ist rot. Die Hand von seinem Papa ist rot. Seine Augen sind noch schwarz. Er sitzt jetzt neben ihm und seufzt. Die Geräusche sind immer noch verschwunden. Dann greift sein Papa nach der Medizin und nimmt noch eine Dosis.

Die Lippen des Mannes neben ihm bewegen sich. Der Mann neben ihm sagt etwas. Er sagt: Willst du auch etwas Medizin? Die Worte bleiben ungehört. Die Welt ist stumm geworden.

tropf

tropf

plopp

platsch

tropf

tropf

ist alles, was noch übriggeblieben ist. Die Welt ist sein Lied.

⊱ ────── ⋅❅⋅ ───── ⊰

„Es gibt scheiß gute Neuigkeiten", sagt Jimin. Diesmal zögert er nicht damit, am Tisch des Phantoms Platz zu nehmen. Dafür hat er schon zu lange gewartet. Die Servietten hat er schon vor einer Stunde bereitgestellt. Die Alten und auch ein paar Neue. Kaffee hat er auch gekocht und während der Wartezeit zur Hälfte selbst getrunken. Die andere Hälfte hat er für das Phantom aufbewahrt. Zum Glück hält die Kaffeemaschine den Kaffee die ganze Nacht lang warm, auch wenn er natürlich frisch gekocht am besten schmeckt. Naja, ist jetzt halt so. Er hat schon vor einer Stunde mit Suga gerechnet. Konnte ja keiner ahnen, dass sich der stoische Einzelgänger heute noch mehr Zeit lassen wird.

"Scheiße und gut? Ist das nicht ein Paradoxon?"

"Ich hab' keine fucking Ahnung, was ein Paradoxon ist."

"Zwei Begriffe, die einander scheinbar widersprechen, aber gemeinsam eine neue Bedeutung erlangen..."

"Okay, Mister Lexikon", antwortet Jimin erschlagen und gleichzeitig unendlich glücklich darüber, dass das Phantom tatsächlich mit ihm redet. Scheinbar hat ihre letzte Begegnung im Club echt etwas gebracht. Etwas verändert. "Aber dann passt es ja. Denn die scheiß guten Neuigkeiten werden dir gleich eine neue Bedeutung verpassen."

Die katzenartigen Augen seines Gegenübers betrachten ihn interessiert. Das haben sie früher nie getan. In Jimins Brust regt sich ein Ding und streckt neugierig seine Fühler aus. Er macht eine kurze Kunstpause, bevor er mit vor Stolz geschwellter Brust sagt: „Wir haben einen Auftritt für dich."

Die Reaktion ist nicht unbedingt wie erhofft. Suga hat die Kunstpause dazu genutzt, um einen ersten Schluck von seinem lauwarmen Kaffee zu nehmen. Jetzt verschluckt er sich daran.

„Was?!", japst er.

„Einen Auftritt. Für dich", wiederholt der Kellner und erklärt damit natürlich rein gar nichts. Er grinst selbstzufrieden und schnurrt innerlich so zufrieden wie eine Katze über die Tatsache, dass sie gerade ein anständiges Gespräch miteinander führen.

„WAS? Wie? Wo?", presst Suga einzelne Fragewörter zwischen den Hustenanfällen hindurch. Abschließen tut er mit einem beinah panischen: „WANN?"

„So genau steht das noch nicht fest", führt Jimin aus und erbarmt sich nachfolgend doch noch zu einer ausführlichen Erklärung. „Aber wir haben telefoniert – mit einem Freund von uns bzw. mir. Chap ist nicht sooo begeistert von ihm, dabei ist er echt cool. Er besitzt einen Club in Seoul, aber kommt eigentlich aus der gleichen Drecksgegend wie wir, also Dalseo-gu. Entsprechend ist er in der Gegend immer noch ziemlich gut mit allen vernetzt. Wenn wir ihn mit deiner Musik überzeugen, besorgt er uns einen Auftritt."

„Mit welcher Musik?!", stellt Suga eine berechtigte Frage. Aber der Unglaube in seiner Stimme ist dabei so passiv-aggressiv, dass er Jimin quasi mit jeder Silbe verbal eine runterhaut. Bitter. Vielleicht hat sich doch nicht so viel in ihrem Verhältnis geändert. Außerdem hat Jimin jetzt schon keine Lust mehr darauf, jeden erst von ihrer Sache überzeugen zu müssen. Sieht denn wirklich niemand, wie verdammt großartig das alles werden kann? (Doch, antwortet sein Gehirn auf die unausgesprochene Frage, Jungkook ist genauso begeistert wie du. Vielleicht solltest du mehr Zeit mit ihm verbringen und ihm eine faire Chance geben. – Ach, halt doch die Fresse, empfiehlt Jimin seinem aufmüpfigen Gehirn und beendet damit die unerwünschte Konversation. Muss ja keiner wissen, dass er sich im Nachhinein für seinen peinlichen Auftritt im Club schämt. Und das nicht, weil er so besoffen war. Sondern weil er wegen seiner grundlosen Eifersucht Yoongis Freund so beschissen behandelt hat.)

„Na – mit deiner Musik", antwortet Jimin schließlich kurz und knapp, zu sehr in die innere Auseinandersetzung mit seinem Gehirn vertieft.

„Es gibt keine meine Musik? Wtf?"

„Doch. Natürlich gibt es sie", Jimin weist mit einer Handbewegung auf die Servietten hin, die er feinsäuberlich in verschiedenen kleinen Stapeln sortiert hat. Einige davon möchte er heute Nacht mit Suga durchgehen. Alle werden sie vermutlich nicht schaffen, aber sie müssen halt irgendwo einen Anfang machen.

„Es gibt sie hier und –", Jimin tippt sich an die Schläfe, „hier drin auch. In deinem Kopf ist sie ja bestimmt auch? Also existiert sie an mindestens drei Orten. Du siehst - es gibt deine Musik schon. Wir müssen nur noch dafür sorgen, dass auch alle anderen Loser sie hören können. Was das angeht, können wir gleich gerne über unsere Vorstellungen sprechen."

„Und wie genau willst du das anstellen?"

„Eine Sprachnachricht", erklärt Jimin euphorisch, immer noch vollkommen high von dem Gedanken, dass er Hoseok tatsächlich überzeugen konnte. „Als erstes reicht eine Sprachnachricht. Danach sehen wir weiter."

„Wie... professionell", entgegnet Yoongi und wenn Ironie eine eigene Stimmlage hätte, dann wäre es seine.

„Das kommt später", antwortet Jimin leichtherzig. „Die Professionalität eignen wir uns schon noch an."

„Wenn du das sagst..."

„Hey. Du hast dem hier zugestimmt, also wäre ein ganz kleines bisschen mehr Begeisterung echt nice."

"Yay", sagt Suga so trocken wie die Sahara nach einer sechsmonatigen Dürreperiode. Sandkörner knirschen. Ein Heuballen rollt plötzlich durchs Café.

"Was war das?", fragt Jimin perplex.

"Ein ganz kleines bisschen Begeisterung."

"Du bist unmöglich."

"Hey. Du hast dem hier zugestimmt..."

„Scheinbar wusste ich nicht, was ich hier zugestimmt habe."

"Wir können auch-"

"Vergiss es", unterbricht Jimin, bevor Suga den Gedankengang überhaupt bis zum Ende denken kann. Der lockere Umgangston zwischen ihnen macht ihn ganz duselig. Das Ding in Jimins Brust kriecht weiter neugierig voran. Es ist anscheinend eine Schnecke. Sie kriecht irgendwo unter dem verrotteten Herbstlaub hervor, schüttelt sich in Slowmotion und macht sich scheinbar bereit für den Frühling. Jimin betrachtet sie nur mit einem kleinen bisschen Ekel und fragt sich, was das soll.

"Okay, okay", winkt Suga ab. Mit einem zufriedenen Seitenblick stellt Jimin fest, dass die Hände von ihm (Yoongi, denkt er langsam, darf ich dich auch Yoongi nennen?) heute nicht ganz so stark zittern wie noch die letzten Nächte. Gleich ist nur, dass er sich an seiner Kaffeetasse festhält wie andere sich an einer Rettungsweste. Der Rest seiner Körperhaltung drückt immerhin nicht Flucht, Abwehr oder vollkommene Panik aus. Spontan beschließt Jimin, das als ein positives Zeichen zu werten. Es ist gut, wenn sich das Phantom in seiner Gegenwart entspannen kann. Jimin greift beherzt nach dem ersten Stapel Servietten.

Es ist der bereits betitelte Anteil der Schriftstücke von Suga. Jimins Favorit liegt ganz oben.

„Das hier sind die Servietten, die ich bereits gesichtet und alles darauf ordentlich abgeschrieben habe. Ich weiß nicht, ob jede Serviette ein Lied ergibt oder ob wir aus jeder was machen können, aber die hier waren alle ziemlich vielversprechend. Das hier...", Jimin greift nach der obersten, „ist bislang mein Liebling... Wie du siehst, habe ich allen versucht einen Titel zu geben. Sie habe ich First Love genannt. Wollen wir vielleicht damit anfangen?"

Jimin schiebt ihm das Stück Papier entgegen, damit Suga sich selbst ein Bild davon machen kann. Es dauert keine drei Sekunden, bis er ihm die Serviette kommentarlos zurückgibt.

„Nein", entscheidet Suga einsilbig. „Nicht damit."

„Okayyy... Dann vielleicht damit?"

Diesmal ist es die Lie-Serviette, die er Suga hinlegt und wieder dauert es nur einen Bruchteil der Zeit, bis sein Gegenüber die angebotene Wahl ablehnt. Diesmal mit einem entschiedenen Kopfschütteln.

Nachdem Versuch drei und vier ähnlich schiefgehen und nur auf stumme Ablehnung treffen, beginnt Jimin langsam zu resignieren.

„Mit irgendwas müssen wir anfangen", erklärt er eindrücklich. „Wenn du mit meinen Vorschlägen nicht einverstanden bist, dann such' dir bitte - und so wahr mir Gott helfe - selbst etwas aus."

Deswegen greift er jetzt zu einem Stapel, der bisher unberührt an der Seitenkante des Tisches lag. Jimin teilt ihn einmal in der Mitte und schiebt die Hälfte davon Suga zu. Alle Servietten gehören zu der Sorte, die Jimin seit Beginn seiner Idee noch nicht ausführlich durchgelesen und abgeschrieben hat. Die eine Hälfte kann nun also Suga durchsehen, während sich Jimin mit der anderen beschäftigt.

Eine Weile arbeiten sie so schweigend nebeneinander her. Es ist seltsam friedlich. Jimin widmet sich seiner vorherigen Arbeit und schreibt die Zeilen feinsäuberlich ab, die ihm undeutlich über die Serviette verschmiert begegnen. Ab und an fragt er seinen Gegenüber nach einem Wort, wenn er das entsprechende Hangul-Zeichen nicht lesen kann. Allein das Gefühl dies tun zu können, erfüllt ihn mit prickelnder Euphorie. Die Schnecke in seinem Inneren kriecht zufrieden von den ersten Sonnenstrahlen des Frühlings zurück in ihr Zuhause.

Suga hat sich zunächst recht lustlos durch seinen Stapel gequält. Eine Serviette nach der anderen in die Hand genommen und keine davon mit sonderlich viel Inbrunst betrachtet.

Als Jimin bemerkt, dass seine Kaffeetasse leer ist, steht er kommentarlos auf, um neuen Kaffee aufzusetzen. Er kehrt mit aufgewärmten Bungeo-ppang in der einen Hand und dem frischen Heißgetränk in der anderen Hand zurück an den Tisch. Beides serviert er Suga schweigend und erhält als Reaktion einen fragenden Blick. Mit einem Schulterzucken weist Jimin auf das koreanische Gebäck: „Die hat mein Chef gemacht. Er will sie neu in unser Angebot aufnehmen, ist aber zutiefst beleidigt von meiner Aussage, dass es woanders noch bessere gibt... Deswegen macht er den Scheiß jetzt jeden Abend... und solange es noch nicht offiziell auf der Karte steht, dürfen wir Angestellten alles kostenlos essen. Bedien' dich also..."

Suga lässt sich nicht lange bitten und greift hungrig nach dem Teller mit dem Gebäck.

Der erste Bissen ist klein und zögerlich. Der zweite erfolgt dann schon wesentlich beherzter. "Wow?", ist seine fragende Reaktion, "die sind hervorragend?"

"Ich weiß", grinst Jimin verschmitzt, "aber sag's ihm nicht. Sonst sind sie nicht mehr kostenlos." Der Schalk glänzt bei dieser Aussage sicher in seinen Augen. Taehyung wäre stolz auf ihn.

Eventuell möchte Suga darauf etwas erwidern. Zumindest legt er den angebissenen Karpfen beiseite und öffnet seine Lippen nur einen Spalt breit. Jimin spitzt erwartungsvoll die Ohren. Er lehnt sich seinem Gast sogar ein Stück entgegen, um auch die leisesten Nuancen zu hören. Doch es passiert... nichts.
Sie sehen sich einfach nur tief in die Augen. Es ist mitten in der Nacht. So spät, dass es schon fast wieder früh ist. Sie beide sind übermüdet. Erschöpft davon, die letzten zwei Stunden nur auf Servietten gestarrt zu haben. Zählt das schon als Entschuldigung dafür, um jetzt in den Augen des jeweiligen Gegenübers zu versinken? Einen Moment lang. Dann zwei. Manche Menschen sprechen davon, dass sie Sterne in den Augen von anderen sehen, vielleicht sogar ganze Galaxien. Jungkooks Augen zum Beispiel haben unter dem Stroboskoplicht der Diskokugel geleuchtet wie die Milchstraße. In den Augen von Suga sind keine Sterne zu sehen. Sie sind tiefbraun und etwas schwimmt darin herum. Jimin lehnt sich noch ein Stück näher über den Tisch hinweg, um genauer hinsehen zu können. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass Suga ihm entgegenkommt.

Sie sind sich jetzt ganz nah. Jimin spürt den Atem seines Gegenübers geisterhaft über seine Gesichtshaut streifen. Gänsehaut entsteht da, wo sie ihn berührt. Die Fühler der Schnecke wagen sich noch einmal aus dem Schneckenhaus hervor. Die Augen des Phantoms erinnern Jimin an eine Süßigkeit. Aus der Nähe kann er sie besser erkennen. Sie schwimmen nicht, aber sie schimmern wie die Oberfläche von einem See aus flüssigen Karamell. Und auf der Oberfläche brechen sich Töne wie Sonnenstrahlen. Was Jimin sieht sind Melodien. Die Schnecke beginnt zu summen und plötzlich macht es klick. Sugas Augen erinnern Jimin an Musik.

Klingggggg

Dieses beschissene Glöckchen.
Nicht nur er erschreckt sich. Suga zuckt zusammen. Die Fühler verschwinden wieder im Schneckenhaus. Jimin könnte vor Frust laut aufschreien, aber für jetzt gibt er sich mit einem genervten Schnauben zufrieden.
Ein Läuten über der Tür unterbricht den Moment zwischen ihnen, oder... was auch immer das genau war. Jimins Atem geht mühsam und er fühlt Wörter schwer auf seiner Zunge liegen, die er besser wieder runterschlucken sollte. Er räuspert sich und alles Ungesagte rutscht nur zähflüssig wieder seinen Rachen hinab. Dann erinnert sich der Kellner daran, dass er tatsächlich nicht nur zum Vergnügen hier ist.

„Ich geh' dann mal kurz... arbeiten und so...", sagt er etwas unbeholfen und wendet sich der Theke zu, um den unangenehmen Moment zu überspielen. Suga nickt nur.

Während Jimin die neuen Gäste betreut, beobachtet er über ihre Schultern hinweg, dass Suga seinen Stift zückt. Er schreibt auf eine Serviette, eine andere Serviette als Vorlage benutzend. Zumindest schielt er immer wieder unauffällig darauf. Er sieht aus, als würde er abschreiben, aber zumindest hat sich endlich so etwas wie Tatendrang in ihn geschlichen, der nicht erst von Jimin befeuert werden musste. Also, wenn das kein Fortschritt ist, was ist es dann?

Summa summarum haben sie damit in der heutigen Nacht schon mehr Fortschritte gemacht als je zuvor.

Jimin serviert den Latte Macchiato und den Milchkaffee to go. Gott sei Dank. Es beruhigt ihn zu wissen, dass er noch einige Minuten allein mit Suga wird verbringen können. Und wenn sie still nebeneinandersitzen und arbeiten... Irgendwie... verbindet das ja trotzdem.

⊱ ────── ⋅❅⋅ ───── ⊰

Fünf Nächte später sind sie immer noch nicht ganz fertig mit der Sichtung der Servietten.

Dafür gibt es nun so viele Stapel, dass sie die Nebentische miteinbeziehen, um weiterhin ein Ordnungssystem aufrechtzuerhalten, das wirklich nur sie beide verstehen können und niemand sonst.

Trotzdem steht Suga mehr oder weniger hilflos zwischen zwei Tischen und sucht scheinbar nach etwas, das es hier nicht zu geben scheint.

Von der frühlingshaften Atmosphäre der letzten Abende ist heute nichts mehr zu spüren. Die Temperaturen sind um beinah zehn Grad gefallen. Es ist wieder eiskalt in fucking Daegu. Aber vermutlich ist das nicht der Grund dafür, dass Suga mal wieder absolut beschissen aussieht. Um es freundlich auszudrücken. Sein Pullover ist voller Flecken, er ist kalkweiß im Gesicht und das Zittern seiner Hände hat nicht mal nach der zweiten Tasse Kaffee nachgelassen. Außerdem... stinkt er. Nach dieser Kupfer-Metall-Mischung, die Jimin schon öfter an ihm wahrgenommen hat und nicht mehr als ein Epitom für Gewalt ist. Eine Dusche könnte Suga also dringend gebrauchen. Die kann Jimin ihm hier nicht bieten. Als er eben den Wasserhahn aufgedreht hat, um ein Tuch zu befeuchten mit dem sich Suga zumindest ein bisschen sauber machen kann, ist der nur zusammengezuckt. Das tropfende Geräusch hat keine Ahnung was ausgelöst. Seitdem ist er hektisch von Serviettenstapel zu Serviettenstapel gelaufen.

Jimin hat sich bei seinem Anblick so erschrocken, dass er die gemeinsame Arbeit für heute schon absagen wollte. Seltsamerweise war es Suga, der ihm mit leerem Blick darum gebeten hat, sich wieder zu ihm zu setzen und zu schreiben. Nur, dass er ihn nicht verbal um seine Gesellschaft gebeten hat. Stattdessen hat er Jimins Hand festgehalten, als dieser sich schon wieder vom Tisch entfernen wollte. Er hielt ihn fest und sah ihn an und sah gleichzeitig durch ihn hindurch und schüttelte einfach nur mit einer minimalen Bewegung seinen Kopf.

Die Berührung hat sich wie Feuer Jimins Arm hinauf gekämpft und schließlich eine warme Glut in seiner Brust entfacht. Sugas elendes Auftreten hat ihn schon immer berührt und dass er ihn heute Abend das erste Mal um seinen Beistand bittet, anstatt noch mehr Abstand zwischen sie zu bringen, lässt Jimins Herz etwas zu schnell schlagen.

Also hat Jimin sich wieder gesetzt, rückversichernd, ob er die Geste richtig verstanden hat. Aber Suga blickte ihn schon gar nicht mehr an, nur aus dem Fenster mit diesen leeren Augen, in denen heute gar nichts tanzte.

Wie immer hielt sich Suga an der Kaffeetasse fest. Die Kapuze seines Hoodies ist an irgendeinem Punkt von seinem Kopf gerutscht und offenbarte das nächste Desaster. Die einzelnen Haarsträhnen waren so verklebt, als hätte sich irgendeine Flüssigkeit darin verirrt und wäre nicht ordentlich ausgewaschen worden. Oder gar nicht ausgewaschen. Jimin blickte ihn an und stellte sich vor, mit seinen Händen durch die verklebten Partien zu fahren. Sie langsam und Strähne für Strähne voneinander zu lösen. Vielleicht sogar seine Haare anschließend zu waschen, wie er es sonst immer bei Taehyung macht. Wonach Sugas Haare wohl riechen, wenn es keinen Dreck mehr gibt, der ihren eigenen Geruch überdeckt?

Damit Jimin nicht ewig starrt, hat er irgendwann mit dem Schreiben begonnen. So wie er es auch die letzten Nächte gemacht hat. Das Notizbuch mit den Songtexten seines Gegenübers ist mittlerweile schon fast voll. Zwischendurch hat Jimin jedoch immer mal wieder eine Seite frei gelassen oder zumindest einen Abschnitt, damit auch nachträglich Notizen eingefügt werden können. Manche Texte klangen nicht abgeschlossen genug, haben sich nicht fertig angefühlt. Eigentlich fast alle. Und bei manchen hat er sogar schon damit begonnen, sie mit seinen eigenen stümperhaften Versuchen zu vervollständigen.

Minuten später tat Suga es ihm gleich und begann mit seiner Form von Arbeit. Nur, dass er heute nach den leeren Serviettenstapel griff und in Rekordgeschwindigkeit neue Wörter darauf schmierte. Von Schreiben konnte wirklich keine Rede sein. Seine Hand zitterte so stark, dass die Serviette an einigen Stellen immer wieder eingerissen ist. Immer, wenn sie zu kaputt waren, um weiter darauf zu schreiben, hat Suga nach einer neuen gegriffen und die andere achtlos auf den Boden fallen lassen. Der Boden der Serendipitys sieht deswegen heute Nacht nach einem Schlachtfeld aus. Nachdem die zehnte Serviette auf dem Boden landete, Sugas Hände weiter zitterten und Jimin unter den Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht fielen, rotbraune Spuren entdeckte, ist er aufgestanden, um den Lappen zu holen.

Jetzt steht Suga inmitten von den zerfledderten Papierleichen und sieht aus wie der letzte Überlebende der Schlacht.

„Was suchst du?", fragt Jimin, der es nicht länger mitansehen kann, wie Suga immer verzweifelter einen Serviettenstapel nach dem anderen durchsucht. Mit zitternden Händen und gleichzeitig akribisch darauf bedacht, nichts von dem durcheinander zu bringen, was sie vorher so durchdacht angeordnet haben.

„Give it to me", antwortet Suga. Er hat schnell durchschaut, dass Jimin den Servietten Namen gegeben hat. Er hat das System übernommen, nur dass er die Servietten nicht nach den Gefühlen benannt hat, die sie in ihm auslösen. Er pickt sich einfach die prägnanteste Zeile heraus und benutzt das als Namen. Geht auch, aber Jimin hat halt einen Hang zur Sentimentalität.

Jimin weist mit seiner Hand auf einen Tisch zwei weiter rechts von der Position, an der Suga sich gerade aufhält. Dann verlässt er die Position hinter dem Tresen und setzt sich erneut an ihren Tisch, um sich dem Notizbuch zu widmen. Mittlerweile hat er sich damit arrangiert, dass sie heute so wenig wie möglich miteinander reden. Das Schweigen ist ja auch nicht neu. Sie haben auch in den letzten Nächten oft geschwiegen. Jimin hat bemerkt, dass es Suga ein besseres Gefühl gibt und ihm selbst irgendwie auch, weil... er dann nicht immer befürchten muss, etwas Falsches zu sagen. Auf eine Weise ist das angenehm, die er vorher nicht kannte. Seine zwischenmenschlichen Beziehungen waren immer stark auf verbale Kommunikation ausgerichtet. Im Umgang mit Suga lernt Jimin nun den anderen Ebenen mehr Bedeutung zuzuweisen, beobachtet aufmerksamer und lernt seine Körpersprache zu lesen und Gesichtsausdrücke folgerichtig zu deuten. Eine eigenartige Dynamik hat sich zwischen ihnen gebildet und Jimin würde lügen, wenn er behaupten würde, dass er es nicht genießen würde.

„Die hier", entscheidet Suga plötzlich überraschend, aber dafür mit umso festerer Stimme.

„Was ist damit?", fragt Jimin und fasst sich melodramatisch an die Brust, um seine Überraschung zum Ausdruck zu bringen.

„Damit will ich anfangen."

„Mh?"

Auch wenn Jimin sich mittlerweile einredet, seinen Gegenüber schon wesentlich besser zu kennen, kann er gerade nicht leugnen, dass er total auf dem Schlauch steht.

„Die Sprachnachricht. Für deinen Freund", spricht Suga fokussiert und wirkt, trotz seines desaströsen Zustandes, gleich wie ein ganz anderer Mensch. Kein Wunder, dass Jimin gerade nicht mitkommt. Standen wir nicht eben noch kurz vor'm Zusammenbruch oder so?

„Give it to me?", fragt er um Contenance bemüht, um Suga in seinem plötzlichen Selbstbewusstsein zu bestärken.

„Ja."

Jimin blättert zu der entsprechenden Seite in seinem Notizbuch. Er findet den Text relativ gegen Ende. Hier hat er bislang nichts ergänzt und die Lyrics glänzen ihm in Sugas Rohentwurf entgegen.

Ich glaub', ich kenne das Geheimnis des Scheiterns, der Trick ist es, den Narren zu spielen, genau wie du, komm, komm - give it to me?", zitiert Jimin mit fragender Stimme, nur um sicher zu gehen, dass sie sich gerade richtig verstehen. Als keine Antwort erfolgt, vergleicht er den Text mit dem auf der Serviette, die Suga ihm weiterhin mit zitternden Händen entgegenhält und nickt einmal für sich selbst.

„Das ist also der Song, den du aufnehmen möchtest?"

„Mhm."

„HERVORRAGEND!", kann Jimin die aufrichtige Begeisterung nicht aus seiner Stimme vertreiben. Sein Herz klopft schneller bei dem Gedanken, dass sie wieder einen Schritt vorangekommen sind. Vor ein paar Nächten hat sich Suga noch gefragt, von welcher Musik Jimin spricht. Jetzt steht er vor ihm und spricht selbst von dieser Musik ohne zu Zweifeln.

Auch wenn Jimin, gerade am heutigen Abend, überhaupt nicht damit gerechnet hat – die Freude ist dafür umso größer. Tatsächlich hat Hoseok ihn schon angeschrieben und nachgefragt, wann er denn mit einer Aufnahme seine geheimnisvollen Supertalents rechnen kann. Mit einem ungenauen bald wurde er vertröstet. Aber es war nun mal genau das, was Jimin sich selbst auch immer wieder gesagt hat. Bedrängen wollte er Suga nie. Und scheinbar hat sich seine Geduld nun ausgezahlt gemacht.

Vollkommen in seiner Euphorie gefangen, bemerkt Jimin nicht, wie Suga unbeholfen vor ihm steht und seine Hände in nervöser Aufregung knetet.

„Du hast es falsch vorgelesen", flüstert Suga schließlich. Man merkt ihm deutlich an, wie viel Überwindung die Worte ihn gekostet haben. Er ist wirklich leichenblass. Jimin hat Angst, dass er ihm jeden Moment umkippt.

„Hab' ich das?", erwidert er rhetorisch und vergleicht noch einmal Serviette und Notizbucheintrag, um eventuelle Fehler zu lokalisieren.

„Es hat falsch geklungen..."

Das Neonlicht gepaart mit der schneeweißen Gesichtsfarbe lässt Suga unwirklich erscheinen. Wie einen Geist. Man bekommt den Eindruck, dass man ihn festhalten muss, damit er nicht verschwindet. Sich einfach in Luft auflöst. Die Flecke auf seinem schwarzen Pullover kontrastieren den Eindruck krass.

Gi-give it me", stottert Suga beinah. Seine Stimme ist so rau, dass sie sich anfühlt wie Fingernägel, die über Jimins Rücken kratzen. Die plötzliche Gänsehaut ist überall auf seinem Körper.

Schmerz, Demütigung, was immer du willst,

komm, gib' es mir.

Gib-gib es mir

Es macht mir nichts mehr aus, also was immer es ist - komm, gib' es mir."

Sugas Stimme klingt gebrochen. Vielleicht brechen deswegen auch die Wörter unter ihrem Klang. Selbst die einzelnen Silben brechen in zwei und die Fragmente übertragen sich auf die Umgebung. Sie lassen auch alles andere brechen. Selbst das Schneckenhaus in Jimins Innerem bekommt ein paar Risse ab.

Die Welt bleibt schließlich stehen, als Suga tief einatmet und zu etwas ansetzt, das vermutlich eine Strophe sein soll. Ihre Blicke begegnen sich und es ist die Reprise des Moments, den sie in der Disco miteinander geteilt haben. Pause, denkt Jimins Gehirn zusammenhangslos und ist keineswegs verwundert davon, dass es die Stimme von Suga ist, die sich zwischen seine Synapsen schiebt.

Suga wirkt so verletzlich, wie er vor Jimin steht. Ein Sinnbild von zerbrochen-sein, beinah unsichtbar unter all dem Dreck, den Flecken und dem Gestank. Aber seine Wörter sind rein, von einer unbeugsamen Stärke und Suga selbst wird immer plastischer, während er sich in einem Rap verliert, der bisher immer nur in seinem Kopf existierte:

„Ihr geht euch ständig gegenseitig an die Gurgel

Ja, genau, ihr Arschlöcher, ja

Ja, kämpft ruhig weiter

Es ist mir so egal, ob ihr weiter

Euer eigenes Grab schaufelt oder euer Leben vergeudet...

Also macht bitte so weiter

Nur - lasst mich da raus, fasst mich nicht einmal an

Euer Leben deutet auf einen baldigen Sarg, los, fight,

Wenn ihr weiterhin so schlampig mit eurem Leben seid

Einen für das Geld und zwei für die Show

Schmerz, Schläge... scheiß drauf, komm, gib-gib's mir."

Während Suga rappt, vollzieht er eine Verwandlung, die Jimin in dieser Form noch nie gesehen hat. Unsicherheit verliert sich in Sicherheit, Schatten werden von Flammen aufgelöst. Spätestens jetzt weiß Jimin, dass er die verdammt nochmal richtigste Entscheidung ever getroffen hat.

Das hier ist der Jackpot. Suga ist der heilige Gral.

Auch wenn Jimins Herz ihm beinahe aus der Brust springt und Gefühle in seinem Inneren toben, die er sonst nur in der Gegenwart von Taehyung empfindet, weiß er, dass es kein Zurück mehr gibt. Ab jetzt geht es nur noch voran. Also geht auch Jimin voran. Er will und kann sich nicht länger beherrschen, springt auf und fällt dem anderen um den Hals. Suga passt in seine Arme wie ein Puzzleteil, dem man endlich den richtigen Platz zugewiesen hat.

„Das war unglaublich, Suga-ssi", flüstert Jimin.

Es sind die Worte, die es braucht, damit Suga endgültig aufgibt. Er lässt sich in Jimins Umarmung fallen und auch wenn seine Arme sich vorsichtig um Jimins grazilen Körper schlingen, lehnt er sich mit einer solchen Intensität gegen ihn, dass Jimin beinah sicher ist, dass Sugas eigenen Beine ihn nicht mehr tragen. Was in Ordnung ist. Vollkommen in Ordnung. Von hier aus geht es nur noch gerade aus. Jimin ist bereit mehr Gewicht zu tragen, als er verkraften kann.

"Yoongi", ertönt der Satz, auf den er schon zu lange wartet. "Nenn mich bitte einfach Yoongi..."  

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