kapitel o6; anfänge machen
JIMIN VERBRINGT ZU viel Zeit im Serendipity. Dass er jetzt auch noch außerhalb seiner Arbeitszeit hier abhängt, ist der letzte notwendige Beweis dafür. Nach seinem Gespräch mit Taehyung, das sie irgendwann am Nachmittag geführt haben, also noch Stunden von seinem eigentlichen Schichtbeginn entfernt, ist er einfach direkt da geblieben. Nicht, dass sie sich gestritten haben oder so. Aber manchmal ist es selbst für sie beiden gut, wenn sie ein bisschen Zeit für sich haben. Manchmal braucht jeder das.
Also ist Taehyung aufgebrochen, zum Straßengrill an der Ecke, um sich eine riesige Portion Tteokbokki zum Mittag- bzw. Abendessen reinzufahren, und Jimin ist einfach sitzengeblieben. Seokjin hat ihn seltsam angesehen, aber nichts gesagt. Auch nicht dazu, als Jimin stillschweigend zu seinem Spind gelaufen ist, um die Box mit den Servietten herauszuholen und sich mit Block und Stift bewaffnet an einen freien Tisch gesetzt hat.
Ich glaube aber es sind Songtexte, hat er Taehyung gegenüber behauptet, als hätte er von irgendetwas eine Ahnung, dass das Phantom betrifft. Hat er aber nicht. Leider. Es wird Zeit das zu ändern. Wenn Jimin sein Umfeld zu Aktionismus überreden will, muss er bei sich selbst anfangen. Und bisher hat er die Servietten nur passiv bestaunt, bewundert, gesammelt, aber sich nie aktiv damit auseinandergesetzt. Nie aktiv versucht aus den Wörtern die Lieder zu formen, die er in Gedanken gehört hat.
Der Block neben ihm ist eigentlich für Bestellungen gedacht. Jetzt wird er eben zweckentfremdet. Jimin baut ein Schlachtfeld aus weißen Servietten um sich herum auf – es sind sooo viele geworden, er hat gar nicht registriert, wie lange Suga sie schon im Café hinterlässt – und stürzt sich in den Kampf.
Zuerst versucht er zu sortieren. Aber nach welchen Kategorien kann man einzelne Gedanken- und Wortfetzen sortieren, wenn man nicht weiß, in welchem Zusammenhang sie stehen? Sie sind zu unordentlich, zu chaotisch, harsch und wütend. Es besteht kein sinnlogischer Zusammenhang. Jimin atmet bewusst aus, langsam, konzentriert und... beginnt die Servietten nach Gefühlen zu ordnen. Nach den Gefühlen, die sie bei ihm auslösen, wenn er sie liest.
Als erstes bestimmt er Sehnsucht und packt die Serviette 'wenn einem nicht einmal mehr ein traum bleibt' als erstes auf den Stapel. Darauf legt er ein Exemplar, in dem Suga über einen Weg spricht, den er nicht hat (habe meinen weg verloren, ich werde ständig gedrängt, immer voran, ohne pause, es ist zu hart, ich bin verwirrt, habe meinen weg verloren).
Nach den ersten Versuchen wird es einfacher. Bald befinden sich vor Jimin verschieden große Ansammlung an Servietten. Neben Sehnsucht befindet sich Wut, rechts davon Verzweiflung, links davon Ehrgeiz, darunter Hass und nicht weit entfernt Trauer (leise), weil auch der Wut-Stapel traurig ist, aber er ist nicht leise und beides hat sich anders für Jimin angefühlt. Ganz unten befinden sich Glück und Hoffnung, aber der kleinste Stapel von allen trägt den Namen Liebe.
(Wobei – kann man eine einzige Serviette schon einen Stapel nennen? Jimin scheißt auf solche unbedeutenden Kleinigkeiten.)
Liebe gehört zu Jimins Favoriten. Erste steht in Klammern davor. (Erste) Liebe.
Es wundert ihn irgendwie nicht, dass Suga von diesem Gefühl am wenigsten zu geben hat. Ob er die Serviette geschrieben hat, nachdem Jungkook ihn im Café besucht hat?
Als Überschrift für sein Schlachtfeld aus Servietten wählt Jimin den Titel you never walk alone. Pathetisch wie er nun mal ist, schreibt er die Worte selbst in Großbuchstaben auf eine halbausgebreitete Serviette. Es ist seltsam seine Handschrift, die ordentlichen und sauberen Schriftzeichen, auf der Unterlage zu sehen, die sonst nur für Sugas krakeliges Hangul reserviert ist.
You never walk alone, wiederholt Jimin leise für sich selbst und lässt sich den Klang der Worte auf der Zunge zergehen. Sie schmecken nach dem, was er sich für Suga wünscht. Dass er den Weg nicht alleine gehen muss.
(Natürlich verschweigt Jimin vor sich selbst, dass er niemals auf diese Weise selbstlos sein könnte. Es geht nicht nur darum, dass Suga den Weg nicht allein geht. Es geht darum, dass er den Weg zusammen mit Jimin geht. Im besten Fall zusammen mit Jimin und Taehyung.)
Alles in allem werden sich auf den Servietten genug Lieder finden, um damit ein ganzes Album zu füllen. Jimin weiß, dass er zu enthusiastisch ist, fünf Schritte bereits voraus, obwohl der Anfang noch nicht mal gemacht ist. Er plant ein Album ohne mit dem Künstler zu sprechen und es ist kein großes Geheimnis, dass das Phantom vermutlich nicht beim ersten Versuch auf Jimins Vorschlag eingehen wird. Es ist nicht so, als hätte er sich ihm gegenüber bisher sonderlich kooperativ gezeigt.
Trotzdem – irgendetwas in Jimins Innerem ist während seiner flammenden Rede an Taehyung aufgewacht. Seine Worte fühlten sich so an, als hätte er sie gar nicht an seinen Freund gerichtet, sondern mit sich selbst gesprochen. Sich selbst das gesagt, was er viel zu lange vor sich verschlossen hielt. Geheimnisse, die wir vor uns selbst haben, sind die schlimmsten. Jimin atmet freier, seit er sich eingestanden hat, dass Dalseo-gu ein Gefängnis ist, dessen Gitterstäbe er viel zu lange nicht sehen wollte. Er will mehr.
Nach beinahe zwei Stunden hat sein Kopf geraucht (und sein Magen lauter geknurrt als die Kaffeemaschine macht, wenn sie die Bohnen zerkleinert. Es war etwas unangenehm gewesen). Er hat die Servietten wieder feinsäuberlich verpackt, seine eigenen Notizen und Abschriften dazu gelegt, im Hinterzimmer verstaut und sich für seinen Schichtbeginn umgezogen.
Nur, dass er seitdem eigentlich nur am Tresen sitzt und die neusten Kreationen seines Chefs, Kim Seokjin, probiert. Es ist genau die Ablenkung, die sein überanstrengtes Gehirn gebraucht hat.
„Ist das gut?"
Auf Jimins Teller ist eine bunte Mischung aus Bungeo-ppang und Sandwiches angeordnet.
„Ich weiß nicht, ob wir uns mehr auf die amerikanische Küche oder die koreanischen Traditionen konzentrieren sollten...", gibt Jin ernsthaft zu bedenken, während er die Köstlichkeiten mit überkritischem Blick begutachtet und zweifelnd zwischen zwei einzelnen Fingerspitzen wendet.
„Sandwiches sind auch koreanisch", antwortet Jimin mit zwei herzhaften Bissen, „und sind mit einfachen Handgriffen leichter zu variieren. Bungeo-ppang gibt's an jeder Ecke und schmeckt da besser... Ich bin für die Sandwiches... AU!"
Jin hat ihn mit seiner freien Hand einen leichten Schlag gegen den Hinterkopf gegeben.
„Soll das etwa heißen, meine Bungeo-ppang schmecken nicht? Du undankbarer Kostverächter!"
„Das soll nur heißen, dass es woanders bessere gibt... Sieh' der Realität ins Auge."
„Ich denke nicht, dass ich dich dafür bezahle, dass du meine Kochkünste beleidigst!"
„Hey, ich versuch' nur ehrlich zu sein! Und außerdem... nimm's locker. Dafür sind die Sandwiches der Shit." Jimin probiert gerade die dritte Sorte und kann sich nicht entscheiden, welche ihm am besten schmeckt.
„Der Shit?", nuschelt Jin kopfschütteln in seinen nicht vorhandenen Bart und zweifelt nicht einmal subtil an Jimins Bewertungsfähigkeit. "Ich sollte vielleicht besser noch eine unabhängige Instanz um Rat fragen..."
"Du willst die Bungeo-ppang eh nur auf die Speisekarte aufnehmen, weil sie süß aussehen."
"Oi", plustert Jin gespielt schockiert die Wangen auf, "was ist verkehrt an Essen, das süß aussieht?!"
"Nichts ist verkehrt daran. Aber es sollte trotzdem schmecken."
Diesmal weicht Jimin den Schlag auf seinen Hinterkopf aus, bevor er ihn treffen kann. Wesentlich versöhnlicher hängt er seiner Aussage dann noch an: "Du kannst morgen früh Jongin fragen. Er löst mich ab."
Kim Jongin ist der Dritte in ihrem Kellner Trio. Jisso, Jongin und Jimin bilden die heiligen drei J's ab, die das Serendipity am Laufen halten. Böse Zungen behaupten, dass Jin nur Angestellte einstellt, ungeachtet deren Qualifizierung und Talent, deren Vorname mit dem gleichen Buchstaben beginnt wie sein eigener. Jin bleibt von diesen Spekulationen unberührt und gibt an, dass es lediglich ein glücklicher Zufall war. Ha. Dad Joke. Was anderes sollte man auch von ihrem Boss erwarten?
„Apropos Ablöse", erinnert sich Jimin mit einem Blick auf die Uhr. "Es ist mittlerweile spät geworden. Solltest du nicht langsam gehen?"
„Ich muss heute länger bleiben."
Was an dieser Stelle nur noch einen einzigen Grund haben kann, weil alle anderen Arbeiten erledigt sind.
„Ah... Das Schutzgeld?", schlussfolgert Jimin deswegen. „Ist es schon wieder so weit?"
„Ein Monat geht schnell vorbei", antwortet Jin. Er gibt sich extra viel Mühe dabei, älter zu klingen als er eigentlich ist.
„Du weißt, dass ich das auch übernehmen kann?" Es ist kein neuer Vorschlag des Jüngeren und er bringt ihn bestimmt schon zum hundertsten Mal, aber wie immer lehnt Jin dankend ab. Das liegt nicht an dem fehlendem Vertrauen zu ihm, sondern schlicht an den Wesenszügen der Kkangpae.
Jin führt aus: "Ich weiß... aber... mittlerweile versuchen sie fast monatlich die Gebühren anzuheben. Eine wirklich unangenehme Entwicklung. Ich geh' davon aus, dass sie heute wieder irgendeine absurde Forderung haben werden. Ich muss es selbst ausdiskutieren."
"Und du denkst wirklich, du bist mir in Sachen Charme überlegen?", kontert Jimin spaßeshalber, bevor die wirklich wichtigen Informationen in seinem Kopf ankommen. „Monatlich?", fragt er dann und ist ernsthaft schockiert. "Die passen die Scheiße jetzt schon monatlich an?!"
"Ich bin World Wide Handsome, natürlich bin ich dir in Sachen Charme überlegen", reagiert Jin selbstbewusst, der den Spitznamen, der ihm in irgendeiner Spelunke in Thailand verpasst wurde, mit viel zu viel Stolz trägt. Auf den restlichen Teil von Jimins Aussage möchte er scheinbar nicht eingehen. Es dauert einen Moment, bis er unter Jimins bohrenden Blick einknickt und mit verkniffenen Gesichtsausdruck antwortet: "Beinahe monatlich."
Als würde das irgendwas Besser machen.
Gut zu wissen, dass die Schutzgelder momentan stärker ansteigen als die Inflationsrate. Einmal mehr wird Jimin klar, wie privilegiert sie eigentlich dank Wonho sind, dass er solche Unannehmlichkeiten von ihm und Taehyung fernhält. Ihre Schutzgeldzahlungen wurden seit Jahren nicht erhöht.
„Aber kann man da nichts machen?", überlegt Jimin laut (und anschließend leise für sich, ob er mit Wonho darüber sprechen sollte oder ob das zu viel verlangt ist. Eigentlich ist ihm ziemlich klar, dass er es sich nicht trauen sollte, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen, aber das Gefühl von Ungerechtigkeit lässt ihn beinah ohnmächtig zurück).
„Natürlich kann man da was machen", antwortet Jin und zwingt einen leichteren Ausdruck auf sein Gesicht. „Ich bezirze sie mit meinem phantastischen Aussehen, meiner Eloquenz und meinem unvergleichlichen Verhandlungsgeschick, bis sie vergessen, wofür genau sie überhaupt hergekommen sind. Du siehst – es ist also unentbehrlich, dass ich selbst anwesend bin."
„Okay, Boss-Hyung", gibt sich Jimin mit einem gezwungenen Lächeln geschlagen, „Aber wenn ich irgendwas tun kann, dann...?" Er lässt den Satz offen im Raum verklingen. Jin weiß auch so, was er damit sagen will.
„Sollte es jemals etwas geben, werde ich mich bei dir melden. Und für den Anfang..."
„Ja?!", entgegnet Jimin erwartungsvoll und kann die Spur Hoffnung nicht aus seiner Stimme vertreiben. Er ist von einem omnipräsenten Tatendrang gepackt, der sich scheinbar nicht nur auf Suga beschränkt.
„... kannst du damit anfangen die Tische abzuwischen! Tisch 13 ist schon seit einer halben Stunde leer und das dreckige Geschirr steht immer noch darauf rum. Was ist das für eine Arbeitseinstellung?" Jin wirft mit dem Geschirrtuch nach Jimin, um seine Aussage zu untermalen.
Der fängt es mit einer Hand und diesmal einem ehrlichen Lächeln auf den Lippen. Geht auf das unausgesprochene Angebot von Jin ein, um die schwere Stimmung in der Luft aufzuheben.
„Mein Boss-Hyung hat mich abgelenkt", versucht er sich lahm zu verteidigen.
„Dann wird dein Boss-Hyung nun dringend damit aufhören und dich mit Arbeitsaufträgen bombardieren! Los, mein kleiner Kellner! Tisch 13 macht den Anfang."
„Aye, aye Captain!", salutiert Jimin spaßeshalber und begibt sich zu seiner Einsatzstelle.
„Ich heiße JIN!!"
"Und ich heiße JIMIN", entgegnet er so laut, dass seine Stimme beinah den Klang des magischen Glöckchens über der Tür übertönt, welches das Eintreten eines neuen Kunden ankündigt. Die Gestalt bleibt mitten im Türrahmen stehen und sieht sich verdutzt um
Der neue Gast räuspert sich, bevor er sich im perfekten 90-Grad-Winkel höflich verbeugt und dabei souverän verlauten lässt: "Mein Name ist Namjoon. Ich bin erfreut Sie kennenzulernen."
Als er aufblickt, begegnet er zunächst Jimins Blick.
"Hallo Jimin-ah", lächelt er, etwas verwirrt, aber trotzdem selbstbewusst, "auch wenn wir uns schon kennen - es ist schön, dich zu sehen."
Es ist schon eine Weile her, seit sie sich das letzte Mal begegnet sind. Seitdem sind Namjoons Schultern lächerlich breit und sein Bizeps tatsächlich noch etwas ausgeprägter geworden. Seine Gestalt ist... beeindruckend. Holy Shit. Ernsthaft, die Kkangpae sollten ihm das Fitnessstudio verbieten, schießt es Jimin durch den Kopf. Und außerdem: Hat Taehyung nicht erzählt, er würde jetzt nur noch Bürotätigkeiten übernehmen? Bei welchen Bürotätigkeiten bekommt man bitte solche Oberschenkel?
"Hallo Namjoon-ssi", erwidert er die Begrüßung mit einer höflichen Verbeugung. Kurz darauf passieren mehrere Dinge gleichzeitig: Namjoon blickt zur zweiten Person im Raum. Sprich, er sieht Jin an. Dessen Gesichtsfarbe wechselt unmittelbar in einen beängstigend roten Farbton, Namjoon imitiert die Farbe auf den eigenen Gesichtszügen und bevor irgendjemand noch etwas zu diesem Schlamassel sagen kann, tritt Jin den überstürzten Rückzug in die Küche an.
Was zur Hölle war das? Jimin weiß nicht, ob er weinen oder lachen soll.
Weinen, entscheidet er sich, als er Namjoons nächste Worte vernimmt. Eindeutig weinen wegen so viel blauäugiger Blindness.
„Taehyung hätte mich echt mal vorwarnen können, dass man sich hier beim Eintritt vorstellen muss", echauffiert sich Namjoon gerade, dem es ernsthaft Leid zu tun scheint, dass er die andere Person im Raum verscheucht hat. „Dein armer Kollege muss mich jetzt für komplett unhöflich halten, dabei hat er mich so nett begrüßt."
"Dieser arme Kollege ist mein Chef", erklärt Jimin, "und es ist alles gut. Er ist selbst unhöflich as fuck."
"SPRACHE!", tönt Jins Stimme aus der Küche und verrät sich damit selbst, dass er dem Gespräch weiterhin aufmerksam lauscht.
"Dein Vorgesetzter hat Recht", tadelt auch Namjoon ihn und das ist der einzige Grund dafür, dass Jimin sich tatsächlich für seine Formulierung entschuldigt. Etwas, dass ihm vor Jin niemals in den Sinn gekommen wäre.
"Entschuldige bitte, Namjoon-ssi. Es freut mich dich zu sehen, auch wenn ich nicht mit deinem Besuch gerechnet habe. Was führt dich her? Taehyung ist heute wieder im Interlude."
„Mhm. Ich weiß, ich hab' ihn vorhin noch angerufen. Ich bin auch nicht wegen ihm hier, sondern leider aus anderen Gründen. Aber vielleicht machst du mir erstmal einen Kaffee, bevor wir dazu kommen? Hast du ein wenig Zeit für mich?"
„Für dich habe ich immer Zeit", entgegnet Jimin charmant und schenkt dem älteren Bruder seines Freundes eines von dem Lächeln, dass selbst alteingesessene Heteros an ihrer Sexualität zweifeln lässt. Namjoon könnte es nicht weniger interessieren. Er starrt lieber interessiert auf die geschlossene Tür, welche in die Küche führt.
"Was macht er darin?", fragt Namjoon ungewohnt neugierig und deutet mit einem Kopfnicken in seine Blickrichtung.
Lauschen, ist Jimins erster Impuls einer Antwort, den er sich aber lieber erspart, wenn er heute nicht mit der Kündigung nach Hause gehen will. Stattdessen entscheidet er sich für etwas Ungefährliches. "Kochen vermutlich", überlegt er. "Oder aufräumen. Er ist viel beschäftigt..."
"Schade...", nuschelt Namjoon so leise, dass Jimin es beinah überhört hätte.
So, so...
Mit einer Geste bedeutet er ihrem Gast direkt am Tresen Platz zu nehmen. „Kaffee?", wechselt er das Thema. "Schwarz?" So trinkt Taehyung ihn am Liebsten.
„Lieber Milchkaffee."
„Möchtest du auch etwas essen? Wir haben noch Muffins und Kuchen."
Bei diesem Vorschlag lächelt ihn Namjoon mit großen Augen entgegen. „Essen klingt hervorragend", sagt er inbrünstig. "Aber lieber nichts Süßes. Ich achte momentan auf eine ausgewogene Ernährung. Für das Training und so."
Mit Blick auf die prominenten Oberarmmuskeln kann Jimin bestätigen, dass seine Bemühungen wohl von vollstem Erfolg gekrönt sind.
"Also habt ihr vielleicht etwas Herzhaftes? Auch wenn Kuchen ziemlich verlockend klingt, geht es wohl kaum als vollwertige Mahlzeit durch."
„Ich guck gleich in der Küche nach...", antwortet Jimin. Er hat Namjoon den Rücken zugekehrt, damit er mit der großen Kaffeemaschine hantieren kann, um den gewünschten Milchkaffee zuzubereiten. Dabei kommt ihm die rettende Idee (in gleich zweifacher Hinsicht).
Während die Kaffeemaschine extra laut rattert, steckt Jimin seinen Kopf durch die Zwischentür, die zur Küche führt. „Boss-Hyung!", sagt er begeistert. „Du wolltest doch eine unabhängige Meinung zu deinen Sandwiches und den Bungeo-ppang? Zufällig habe ich den perfekten Kandidaten gefunden. Hast du noch was?"
„Bestimmt...", antwortet Jin gedehnt. Er steht direkt hinter der Tür, eindeutig gerade erst einen Schritt zurückgesprungen, damit die Flügeltüren ihn nicht im Gesicht erwischen und seine Hand ist an die Brust gepresst. Wenn Jimin es nicht besser wüsste, würde er Jins Gesichtsausdruck als verzückt bezeichnen.
„Geht's dir gut?", fragt Jimin sogleich, dem der Anblick doch etwas suspekt vorkommt.
„Ja, ja...", antwortet Jin, aber wieder viel zu leise, beinah atemlos und komplett gedankenversunken.
„Kommst du dann gleich wieder raus? Mit dem Essen?"
„Mhm."
Jimin gibt sich mit der unbefriedigenden Antwort trotzdem zufrieden, um ihren neuen Kunden nicht allzu lange warten zu lassen. Die Kaffeemaschine verkündet bereits mit einem Piepsen, dass sie ihren Auftrag erledigt hat.
„Herzlichen Glückwunsch", betont Jimin glücklich und versucht gleichzeitig die awkwarde Situation in der Küche zu vergessen. Parallel serviert er Namjoon seinen Milchkaffee. „Sie haben den heutigen Jackpot gewonnen. Boss-Hyung hat neue Rezepte ausprobiert, Bunggeo-ppang und Sandwiches, und wir benötigen eine dritte, unabhängige Meinung, welches der Rezepte in unser Angebot aufgenommen wird. Du darfst daher kostenlos probieren."
„Kostenloses Essen?", rückversichert sich Namjoon. "Langsam verstehe ich, warum Taehyung so viel hier rumhängt..."
„Sagen wir mal so.... das hat vermutlich nur bedingt etwas mit unserem kulinarischen Angebot zu tun..."
„Kann ich mir kaum vorstellen", zwinkert Namjoon ihm zu und nimmt übertrieben vorsichtig einen kleinen Schluck von seinem Getränk. "Zumindest der Milchkaffee ist hervorragend."
„Natürlich ist er das. Boss-Hyung achtet akribisch auf die Qualität unserer Bohnen. Wir beziehen sie aus einem kleinen Dorf in Thailand. Der Boss ist damals extra hingeflogen, um den Auftrag an Land zu ziehen", erzählt Jimin stolz. Er würde es seinem Chef vielleicht niemals so offen ins Gesicht sagen, aber... in seinem Herzen ist wirklich ein großer Platz für seinen Hyung reserviert. Er gehört ebenfalls zu den Personen, denen Jimin einiges zu verdanken hat.
„Wow", entgegnet Namjoon ernsthaft beeindruckt und sieht danach aus, als würde er liebend gern noch mehr Geschichten über Jimins Chef lauschen will. Er fragt deswegen auch weiter: „Verreist dein Chef viel?"
„Nope. Das war bislang seine einzige Reise außerhalb von Korea", grinst Jimin, der die Absicht dahinter viel zu leicht durchschaut hat.
„Immerhin. Die meisten von uns haben noch nicht einmal diese Stadt jemals verlassen..."
Jimin nickt bestätigend und kann die schlechte Stimmung beinahe körperlich spüren, die mit dieser Aussage einhergeht. Wenn du in Dalseo-gu aufgewachsen bist, gibt es einfach kein „außerhalb" für dich. Es gibt dieses Stadtviertel und wenn du Glück hast, dann vielleicht noch den Rest von Daegu. Mehr existiert nicht, weil dir ohnehin eingetrichtert wird, dass da draußen nichts auf dich wartet.
„Da hast du es besser", antwortet Jimin mit einem aufmunternden Lächeln. „Ich hab' gehört, du bist in letzter Zeit viel rumgekommen."
Die Antwort besteht aus einem verlegenen Lächeln. Und außerdem: „Ja, ich bin irgendwie zur Bürokraft / Diplomat aufgestiegen, aber scheinbar hat Taehyung mich schon verpetzt. Ich versuch' die Angelegenheiten für die Kkangpae zu klären, die für die anderen zu langweilig sind. Manchmal muss ich dafür auch nach Seoul oder Illsan, um mit den anderen Clans in Verbindung zu treten. Nicht unbedingt spannend, aber immerhin kommt man ein bisschen herum."
„Bist du deswegen auch heute Abend hier?", versucht Jimin eins und eins zusammenzuzählen. „Um diplomatische Angelegenheiten zu regeln?"
„Ich wünschte, ich wäre es", schüttelt Namjoon verneinend den Kopf. „Unsere Geldeintreiber für dieses Gebiet sind leider aufgrund von... unschönen Umständen... ausgefallen. Ich bin die Vertretung, bis wir einen neuen Mann für die Stelle gefunden haben."
„Oha – fällst du etwa zurück in alte Verhaltensmuster?"
„Ungern", gibt Namjoon zu und wirkt dabei erstaunlich ernst. „Aber es gibt Dinge, die erledigt werden müssen."
Dass ob wir wollen oder nicht verklingt ungesagt zwischen ihnen im Raum. Jimin ist sich der Tatsache auch so bewusst. Es gehört wohl ebenfalls zu den Dingen in Dalseo-gu, die du irgendwann als normal annimmst, ohne sie weiter zu hinterfragen. Ist doch schließlich gängige Methode hier. Machen doch alle so. Hier zwingen sie dich dazu, Dinge zu tun, die du nicht machen willst - normal. Sie zwingen dich dazu, deine moralischen Grundsätze zu vergessen - ganz normal. Sie zwingen dich dazu, anderen Menschen Schaden zuzufügen - vollkommen normal.
Wie erkennt man falsches Verhalten, dass beinahe bis zur Unkenntlichkeit konventionalisiert wurde? Jimin zwingt sich, diese Gedanken beiseite zu schieben. Es ist nicht die richtige Zeit dafür. Er hat gerade erst verstanden, dass sein Viertel ein Gefängnis ist und alle anderen Erkenntnisse müssen sich dahinter anstellen.
Anstatt das Thema auszuführen, switchen Namjoon und er also in einige Minuten erholsamen Smalltalk. Sie umgehen die heiklen Themen und selbstverständlich ebenso die Themen, über die Namjoon ohnehin nicht sprechen darf, bis sich Jin schließlich aus seinem nicht ganz so geheimen Versteck in der Küche hervorwagt. Seine Wangen sind immer noch zartrosa verfärbt, in der rechten Hand balanciert er gekonnt eine kunstvolle Kreation seiner neuesten Köstlichkeiten. Unschwer zu erkennen, dass die Speisen wesentlich stilvoller angeordnet wurden, als noch vorhin bei Jimin.
„Wow", strahlt Namjoon über das ganze Gesicht, als der Teller vor ihm abgestellt wird. Sein Lächeln ist so breit, dass sich diese niedlichen Grübchen in sein Gesicht verirren, die jedes Herz schwach werden lassen. Schade, dass Namjoon diesen Effekt bislang nur bei Frauen ausprobiert hat. „Das ist für mich?"
Als Jin nicht reagiert, sondern weiterhin entrückt vor sich hinstarrt, nickt halt Jimin bestätigend als Ausgleich für die ausbleibende Reaktion seines Chefs. Himmel, so schüchtern hat er den noch nie erlebt. Namjoon scheint ordentlich Eindruck auf ihn zu machen. Fraglich ist jedoch, in welcher Hinsicht. Jimin vergisst manchmal, dass viele Menschen in ihrer Gegend großen Respekt vor Namjoon haben – aufgrund seines scharfsinnigen Gehirns, seiner eloquenten Zunge und seinem hohen Rang innerhalb der Reihen der Kkangpae. Jimin selbst würde vermutlich ähnlich zurückhaltend reagieren, wenn Namjoon nicht ausgerechnet der Bruder von Taehyung wäre.
„Ich muss ein ernstes Wörtchen mit meinem Bruder sprechen", verkündet Namjoon bereits nach dem ersten Bissen. Seine Augen strahlen in euphorischer Aufregung. „Das hier ist GROSSARTIG! Nichts gegen dich, Jimin, aber vielleicht bezweifle ich doch, dass du der ausschlaggebende Grund für seine hochfrequentierten Besuche hier bist..."
„Das nehme ich persönlich", antwortet Jimin und plustert seine Wangen auf, um seinem Gesichtsausdruck einen schmollenden Touch zu verleihen.
„Ich bin nur ehrlich."
„Das habe ich heute schon mal gehört", mischt sich Jin nun doch in das Gespräch ein. „Ganz schön doof, plötzlich auf der anderen Seite der Medaille zu stehen, mh?"
Die Retourkutsche nimmt er persönlich. Jimin hat vorhin wirklich nur versucht, ernsthaftes und konstruktives Feedback zu geben. Kann er doch nichts für, dass er sich dabei nicht so gewählt ausdrücken kann, wie Mr. Arm-und-Gehirn-Bizeps Kim Namjoon. Zum Glück läutet im selben Moment das Glöckchen über der Tür und verkündet die Ankunft von einer kleinen Gruppe neuer Gäste.
„Sieht aus, als müsste ich arbeiten. Ihr habt sicher viel zu besprechen. Guten Appetit, Namjoon-ssi. Boss-Hyung, ich kümmere mich um die Gäste. Klär' du ruhig ganz in Ruhe deine Angelegenheiten mit Namjoon hier..."
Und dann ist Jimin auch schon verschwunden, selten so flott so emsig in die Arbeit vertieft.
⊱ ────── ⋅❅⋅ ───── ⊰
Namjoon bleibt noch geschlagene zwei Stunden. Nachdem er aufgegessen hat, haben er und Jin sich in die Küche zurückgezogen, um dort mit etwas mehr Privatsphäre miteinander zu sprechen und sicher auch die Schutzgeldzahlung pflichtbewusst abzuwickeln.
Zwischenzeitlich hat Jimin etwas zu Bruch gehen gehört, aber durch das kleine Fenster in der Tür konnte er schon sehen, wie Namjoon mit seinen viel zu großen Händen hilflos vor den Scherben kniete und Jin heroisch mit Handfeger und Kehrschaufel bewaffnet zur Rettung schritt. Da niemand ernsthaft verletzt schien, hat Jimin ihnen die Privatsphäre gegönnt.
Jetzt gerade schlägt ihm sein Herz nämlich selbst bis zum Hals. Vor etwa zwei Minuten hat das Glöckchen zuletzt geläutet und die Ankunft eines Gastes angekündigt. Der Fremde, sein Phantom – Suga – sitzt nun an seinem angestammten Platz. Die Schultern sind zusammengesunken, die Hände nervös knetend unter dem Tisch verschränkt und die Kappe so weit ins Gesicht gezogen, dass nichts von seinem Gesichtsausdruck zu erkennen ist. Nicht mal die Atemmaske hat er abgenommen. Jimin ist hin und her gerissen, zwischen dem, was er tun sollte (nämlich ein höflicher und professioneller Kellner sein) und dem, was er tun möchte (Suga mit seinen Songtext-Servietten überfallen und zum gemeinsamen Musikmachen zwingen). Als Zwischenlösung hat er immerhin schon mal eine Kanne frischen Kaffee aufgesetzt, um diesen gleich zu servieren.
Mental hat er sich zwar den gesamten Abend auf genau diesen Moment vorbereitet, aber... nun ja, die Realität ist nun mal ein Arschloch. Wohingegen in seinem Kopf grenzenloser Aktionismus herrschte, konfrontiert ihn die Wirklichkeit mit so unnötigen Gefühlen wie Unsicherheit und Selbstzweifeln. Großartig. Das kann er echt nicht gebrauchen.
„Ich muss jetzt leider los, Jimin-ah", schreckt ihn Namjoons Stimme aus seinen wirren Gedanken auf. „Grüß Taehyung von mir, ja? Sag ihm, dass wir nächste Woche mal wieder Essen gehen sollten. Hyung wird ihn einladen."
„Das richte ich ihm aus. Er wird sich sicher freuen", antwortet Jimin mit freundlicher Stimme und setzt zu einer verabschiedenden Verbeugung an. Selbstverständlich verneigt er sich dabei selbst wesentlich tiefer als Namjoon es tut.
„Darf ich dich noch etwas fragen, Namjoon-ssi?", fragt Jimin einer plötzlichen Eingebung folgend, bevor sich der Ältere von ihm entfernen kann.
„Alles", wird ihm rückversichernd entgegengebracht.
Etwas unsicher tritt Jimin noch ein Stück näher an sein Gegenüber heran und senkt seine Stimme so weit es geht: „Siehst du die Person drüben am Fenster? Schwarzer Hoodie, Cap tief ins Gesicht gezogen. Sein Name ist Suga; er arbeitet scheinbar ebenfalls für die Jo-Pok Pa. Kennst du ihn?"
Namjoon folgt seinem Blick und nickt bestätigend.
„Klar", reagiert er simpel, noch nicht ganz sicher, worauf Jimin hinaus möchte.
Wenn er das nur selbst wüsste... Aber alles, was er weiß, ist nur, dass er möglichst viel über das geheimnisvolle Phantom erfahren möchte.
„Was sind seine Aufgaben... für die Kkangpae?", entscheidet er sich schließlich und schiebt eine lahme Ausrede hinterher: „Also nur... weil... er sich wohl... recht oft Ärger einhandelt. Taehyung hat ihn letztens ohnmächtig in einer Gasse gefunden und... ich möchte vermeiden, dass er den Ärger mit hierher bringt."
Sein Gegenüber scheint ihm jedoch zu glauben und nickt bedächtig. Eindeutig abwägend, was er Jimin anvertrauen kann und was nicht. Schließlich entscheidet er sich für: „Suga ist ein Laufbursche. Er erledigt kleine Aufträge für die Kkangpae. Hauptsächlich Drogen. Verkauft er hier?"
Jimin schüttelt schnell und etwas zu energisch mit dem Kopf. Er heimst sich damit einen seltsamen Seitenblick von Namjoon ein.
„Gut. Er sollte hier nicht verkaufen. Wenn du doch mal was mitbekommst, dann sag mir Bescheid, okay? Ansonsten denke ich nicht, dass du irgendetwas vor ihm zu befürchten hast. Aufgrund seiner Position gerät er gerne mal zwischen die Fronten... Aber er ist – zumindest so mein Eindruck von ihm – kein schlechter Kerl."
„Danke, Namjoon-ssi", verbeugt sich Jimin noch einmal. Namjoon ahmt seine Bewegung nach und interpretiert sie folgerichtig als letzte Verabschiedung für diesen Abend. Auch wenn dem Jüngeren noch tausend weitere Fragen auf der Zunge brennen, belässt er es erst einmal dabei, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Sein ungerechtfertigtes Interesse an Suga kann er schließlich nicht ewig hinter schlechten Ausreden verstecken und es wird ohnehin Zeit, seinen Lieblingsgast zu bedienen.
Zeit, den nächsten von hunderten Versuchen zu starten, durch eine Mauer von Schweigen zu brechen. Er macht sich selbst Mut damit, dass die Voraussetzungen noch nie besser standen als heute. Immerhin standen sie jetzt schon gemeinsam in Jimins kleinem Badezimmer und sind damit doch vom Status Fremde immerhin zu Bekannte aufgestiegen, oder nicht? ODER???
(Schnauze, Gehirn.)
Jimin bewaffnet sich mit den typischen Utensilien – frische Servietten, der Kanne schwarzen Kaffee und einer neuen Tasse. Natürlich begrüßt er Suga zunächst höflich, ignoriert wissentlich den Umstand, dass kein Gruß zurück erfolgt, schenkt den Kaffee ein und dann – er nimmt seinen ganzen Mut zusammen – nimmt er gegenüber von ihm Platz.
„Hallo Suga", versucht Jimin es erneut, betont jede Silbe eindringlich und wirft seinem Gegenüber ein freundliches Lächeln zu. Eines, dass hoffentlich aussieht wie du hast nichts vor mir zu befürchten und nicht wie scheiße, ich bin ein richtiger Creep. „Wie geht es dir?"
Schweigen. Sein Gegenüber greift mit zitternden Händen (aber hey, immerhin ist es nicht so schlimm wie an anderen Tagen) nach seiner Kaffeetasse, wärmt sich daran und blickt nicht einmal auf.
"Ich weiß, dass du wahrscheinlich kein Bock auf mich hast", versucht Jimin empathisch nachzuvollziehen. Leider ist er in diesen Dingen nicht halb so gut wie Taehyung, dafür kann er in anderen Kategorien glänzen. Hartnäckigkeit zum Beispiel. „Aber an deiner Stelle, würde ich trotzdem mit mir reden, denn ich werde nicht vorher aufstehen, bis du genau das getan hast. Mit mir gesprochen, mein ich."
Nachdem daraufhin weiterhin keine Reaktion erfolgt, lässt der Kellner seinen Blick und seine Gedanken durch den Raum schweifen. Aus der Küche ertönen gedämpfte Geräusche. Scheinbar ist Jin endlich am Aufräumen. Er hofft, dass er sich mit Namjoon auf einen angemessenen Preis einigen konnte. Er wird ihn morgen danach fragen.
Danach spricht er mehr zu sich selbst als zu Suga: „Wie du siehst, ist heute Nacht mal wieder nicht sonderlich viel los... Ich habe also viiiiel Zeit, die ich mit dir verbringen kann. Oder: Du beantwortest mir ein paar Fragen und ich bin viel schneller wieder weg... Es liegt ganz bei dir."
„Was willst du von mir?", ringt sich Suga schließlich zu einer Antwort durch. Seine Stimme ist sehr leise, wird durch die Atemmaske zusätzlich gedämpft und dringt trotzdem durch Mark und Bein. Jimins Inneres vibriert.
„Zunächst einmal", erklärt er in einer beruhigenden Tonlage, „möchte ich wissen, wie es dir geht."
„Gut."
„Und jetzt noch einmal eine realistische Antwort? Wie geht es deinen Wunden? Hast du sie seit gestern noch einmal desinfizieren und frisch verbinden lassen?"
„Okay. Und ja."
Jimin seufzt und versucht es gleichzeitig positiv zu sehen. Was sind das für Antworten?! Er hat viel mehr Fragen gestellt, als er Antworten bekommen hat. Und wie passen die jetzt zueinander? Es wird deutlich, dass er sich eine neue Strategie überlegen muss, wenn er heute Abend noch vorankommen möchte. Allerdings erscheint es ihm auch nicht sonderlich ratsam, Suga mit seinem Anliegen direkt zu konfrontieren. Wahrscheinlich hat das nur zur Folge, dass er den anderen nie wieder sehen wird, weil er Jimin dann für verrückt hält.
Suga nutzt die kurze Gesprächspause, um seine Atemmaske unter sein Kinn zu klemmen und einen ersten vorsichtigen Schluck vom Kaffee zu nehmen. Seine Zunge tastet sich dabei vorsichtig als erstes heran, um die Temperatur zu überprüfen. Die Geste ist beinah obszön, die Zunge zu pink, zu feucht, zu glänzend, zu... geil? Will Suga ihn anmachen? Stop. Jimins Gehirn kompensiert scheinbar über. Sicherlich war es nicht die Intention des Phantoms, nicht jugendfreie Bilder im Kopf seines Gesprächspartners zu erzeugen. Fuck. Das war nicht mit Strategiewechsel gemeint.
„Warum bist du hier, wenn du nicht mit mir reden möchtest?", fragt Jimin nun stattdessen. „Ich mein... war es nicht irgendwie absehbar, dass ich dich ansprechen würde? Hast du nicht damit gerechnet?"
WENIGER FRAGEN, ermahnt sich Jimin selbst. Mach den dummen Fehler doch nicht gleich noch ein zweites Mal, Idiot.
Schweigen. Okay, das ist eine Chance. Korrigier' dich! Mach es besser!
(Scheiß Selbstgespräche. Wie abgefuckt kann man eigentlich sein. Kein Fragezeichen. Tatsache.)
„Also ich meine... du wärst doch nicht hier, wenn du wirklich nicht mit mir reden wollen würdest, oder?"
WOW, HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH, PARK JIMIN. Sie haben es geschafft eine einzelne Frage zu stellen.
Aber die Reaktion... bleibt aus.
Okay, Suggestivfragen scheinen auch nicht so der Bringer zu sein.
„Ich mache mir einfach Sorgen um dich. Gestern ging es dir echt schlecht und du hast nicht erzählt, was passiert ist... Ich... also wir... Taehyung und ich wollen nur helfen."
„Nicht eure Angelegenheit", entgegnet Suga barsch. Den direkten Blickkontakt meidet er weiterhin und nippt jetzt an seiner Kaffeetasse wie eine Katze. Das hat er wahrscheinlich auch vorhin schon gemacht. Was auch immer Jimins Gehirn ihm da sonst vorspielen wollte.
„Da hast du Recht. Was aber nicht bedeutet, dass wir dir nicht trotzdem helfen wollen."
„Ihr habt geholfen. Ich habe mich bedankt. Was wollt ihr noch? Geld? Ich hab' keins." So viele Wörter auf einmal hat Suga wohl noch nie ihm gegenüber über die Lippen gemacht. Persönlicher Rekord für Jimin, auch wenn er sich gewünscht hätte, dass die erste aussagekräftige Reaktion nicht unbedingt voll frustrierter Aggression stecken würde.
„Etwas von dir zu verlangen ist nicht unbedingt eine Definition von dem Begriff Hilfe."
„...hier schon."
Für einen kurzen Moment ist Jimin so geplättet von der direkten Entgegnung, dass ihm keine Erwiderung einfällt. Er ist gerade erst dabei, die negativen Seiten von Dalseo-gu und den Kkangpae zu entdecken, vor denen er so lange bewusst die Augen verschlossen gehalten hat. Den gesamten Umfang davon hat er wohl noch lange nicht begriffen.
„Vermutlich hast du Recht", stimmt er deswegen nur vage zu, „aber es ist nicht die Definition von Taehyung und mir."
Jimin wählt bewusst die Formulierung im Plural, weil er das Gefühl hat, dass sich sonst etwas zu viel von seinem Herzen in die Unterhaltung verirrt. Und er ist sich noch nicht sicher, was es da überhaupt zu suchen hat.
Die ausbleibende Reaktion gibt ihm allerdings zu verstehen, dass Suga bereits wieder das Interesse verloren hat, ihm auf seine letzte Aussage eine Antwort zu geben.
„Was ist das?", versucht er es schließlich doch auf dem direkten Weg. „Was du da auf die Servietten schreibst?"
Schweigen. Wie überraschend. Wenn möglich, verkrampft sich Sugas Körper sogar noch etwas mehr bei dieser Aussage und das Zittern wird stärker.
Jimin bleibt stur. „Sind das... Gedanken? Gedichte? Möglicherweise... Songtexte?"
„Ich gehe jetzt", erklärt Suga und setzt die Kaffeetasse unangebracht hart auf dem Tisch ab. Sie ist noch fast voll.
„Nein!", protestiert Jimin sofort, greift nach Sugas Handgelenk, als dieser im Begriff darin ist aufzustehen. „Bleib bitte... Wenn du willst, dann gehe ich jetzt... Also zumindest zurück hinter den Tresen, haha...", versucht er unsicher die Situation wieder aufzulockern. Scheinbar ist er einen Schritt zu weit gegangen.
Aber andererseits, sagt er sich selbst, kommst du vielleicht auch nie voran, wenn du nie zu weit gehst. Und alle Anzeichen sprechen dafür, dass er bisher nicht weit genug gegangen ist.
„Es ist nur... Ich würde mir wünschen, dass es Songtexte sind... Mein Kopf singt, wenn ich deine Servietten lese, weißt du? Das klingt bestimmt doof, hahaha... Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Aber... Wenn es Musik ist und... wenn nur die kleinste, klitzekleinste Möglichkeit besteht, dass du das machen willst. Musik. Und nicht das... was auch immer du sonst tust. Dann... Dann würden wir dir gerne dabei helfen. Das ist es, wobei wir dir helfen wollen."
Jimin spricht viel zu schnell, verhaspelt sich an ungefähr dreitausend Stellen, obwohl er nicht mal hundert Wörter sagt und fühlt sich dabei wie der größte Vollidiot auf Erden. Herzlichen Glückwunsch. Genauso artikuliert man wohl ein ernstgemeintes Hilfsangebot ohne wie ein Vollspast zu klingen... NICHT.
Der gedankliche Facepalm bringt jetzt leider auch nichts mehr. Er hats wohl total verkackt. Zu weit gehen, schön und gut, aber wenn man dann dabei abstürzt, hat man auch nichts gekonnt.
Suga hat sich mit seinem Körper von Jimin weggedreht. Er ist genauso unnahbar wie die Tage zuvor; ein Fremder, ein Phantom. Das Aufeinandertreffen in Jimins Wohnung hat rein gar nichts zwischen ihnen geändert. Sugas Fokus liegt nun vollkommen irgendwo außerhalb der Fensterscheibe und sein Gesichtsausdruck bleibt unter der Cap verborgen. Lediglich seine angespannte Körperhaltung verrät, dass er wohl jederzeit bereit für die sofortige Flucht ist. Aber auch das ist nichts Neues, oder? Er sieht ständig danach aus, als würde er vor etwas davonrennen und noch nicht verstanden hat, dass man im Sitzen nicht vorankommt.
Vielleicht ist es besser, dass Jimin seinen Gesichtsausdruck nicht sehen kann. Wahrscheinlich hält sein Gegenüber ihn für genauso verrückt wie er sich selbst gerade fühlt. FUCK. FUCK. DOPPELFUCK. Enttäuschung hat sich nie so bitter angefühlt. Sie quetscht sich zwischen die Sauerstoffmoleküle in der Luft und legt sich in Jimins Lungenflügeln nieder wie eine Schicht Teer. Auf eine gewisse Art ist das Einatmen von Enttäuschung wohl giftiger als Zigarettenqualm.
Jimin verbeugt sich in einem Anflug von Wiedergutmachung (wofür auch immer und gleichzeitig für alles) tiefer, als es notwendig gewesen wäre. Hoffentlich sieht Suga die Geste in der reflektierenden Fensterscheibe.
Sagen kann er nichts mehr. Er hat alles gesagt. Dann tritt er zurück hinter den Tresen und akzeptiert die Realität, in der er und Suga nie mehr sein werden als ein Gast und sein Kellner.
Eine Zukunft, in der Suga zittert und Jimin ihm Kaffee serviert, bis das Zittern aufhört. In der sie nicht miteinander sprechen und Jimin ihn nur dabei beobachten kann, wie all' die Worte, an denen sein Herz hängt, auf einer ollen Serviette versenkt werden.
Jimin versinkt in der Vorstellung eines schreibenden Fremden am Fenster. Seine Imagination ist so stark, dass es lange dauert, bis er erkennt, dass das Bild nicht nur in seinem Kopf existiert. Suga sitzt tatsächlich am Fenster und hämmert mit seinem Stift auf die Servietten ein, als hätten sie ihm persönlich seiner Träume beraubt.
Es ist ein Bild der rauen, wütenden Verzweiflung.
Und doch...
... ist es der Moment, in dem Jimin bewusst wird, dass noch nicht jede Hoffnung verloren ist.
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