kapitel o3, familie haben
DER WASSERHAHN IN ihrem Badezimmer tropft immer noch. Jimin starrt ihn aggressiv an, während er gleichzeitig versucht das Klopfen an der Badezimmertür zu ignorieren. Contenance. Er benötigt dringend etwas mehr Contenance. Wenn dieser verfickte scheiß Drecks-Hurensohn von einem Wasserhahn mal die scheiß Fresse halten würde bzw sein scheiß Dreckswasser halten würde – sagt man das überhaupt? Wie beleidigt man adäquat einen Wasserhahn? Aber WHATEVER, wenn dieser Hurensohn nur endlich mal dieses behinderte Tropfen einstellen würde, dann... Contenance. Jimin atmet tief ein und aus. Und kämmt sich die Haare.
„Chip? Wir haben noch dreizehn Minuten, bis deine Schicht anfängt. Das weißt du, Baby?", fragt Taehyung einfühlsam, während er sich mit der Schulter leicht gegen die geschlossene Badtür lehnt. Jimin hört den dumpfen Aufprall durch die geschlossene Tür. Natürlich. Die Wände hier bestehen aus Pappmaschee. Was für eine euphemistische Scheiße. Sein perfekter Freund ist selbstverständlich bereits angezogen für die Arbeit. Er trägt sogar schon seine Schuhe.
Jimin entweicht ein Schnaufen.
„DIE BITCH KAM GESTERN ZWEI STUNDEN ZU SPÄT, DA DARF ICH JA AUCH MAL FÜNF MINUTEN ZU SPÄT KOMMEN!", dringt seine wütende Stimme aus dem Badezimmer. Er weiß, dass er genauso gestresst klingt, wie er sich fühlt.
„Es geht nicht darum, dass du es nicht darfst, aber du hasst es, zu spät zu kommen", antwortet Taehyung in seiner sanftesten Stimme, während ein amüsiertes Lächeln seine Mundwinkel umspielt. Als die Badtür allerdings mit einem energischen Rucken geöffnet wird, unterdrückt er es lieber schnell und sieht stattdessen ernsthaft betroffen aus, während Jimin ihn wütend anfunkelt.
„Das Wasserhahn tropft immer noch", entgegnet er statt einer Antwort und schon ist er an Taehyung vorbeigerauscht und ins Schlafzimmer verschwunden, um sich dort seine Arbeitskleidung überzuwerfen. „Außerdem ist es unhöflich zu spät zu kommen!", macht Jimin seinem Ärger weiter Luft.
„Kein Mensch hier scherrt sich um Höflichkeit", ruft Taehyung ihm hinterher.
„ICH SCHON!"
„Ich weiß und -", will Taehyung erwidern, aber wird von dem Wirbelsturm namens Partner unterbrochen, der bereits eine Minute später das Schlafzimmer wieder verlässt, sich mit einer Hand das Oberteil glattstreicht und mit der anderen Hand an seiner Skinnyjeans zerrt, damit sie nach oben rutscht, und dann schon neben ihm steht, um sich seine Schuhe überzustreifen.
„Und?", fragt Jimin so, als wäre es ganz normal sich vier Kleidungsstücke gleichzeitig korrekt anzuziehen. Seine leichteste Übung.
„Und dafür liebe ich dich", ergänzt Taehyung seine vorherige Aussage und grinst seinem Partner nun doch mit seinem charakteristischen Lächeln entgegen. „Brauchst du 'ne helfende Hand?!"
„Vier davon reichen heute nicht, hast du meine Augenringe gesehen? What the fuck. Aber ja, ich liebe dich auch und jetzt hör' auf zu trödeln und komm!"
Obwohl Jimin seinem Freund kaum einen direkten Blick schenkt, sondern nur frech grinst, funkeln seine Augen vor aufrichtiger Zuneigung. Niemand würde jemals daran zweifeln können, dass Jimin seine Liebesbekundungen nicht genauso meint, wie er sie sagt. Warum auch? Taehyung ist seine ganze Welt. Als sich sein Freund jedoch zu ihm herunterbeugen will, um dem Moment noch etwas mehr körperliche Würdigung zu zollen und vielleicht ein paar heiße Küsse auszutauschen, dreht sich Jimin entschieden weg.
„Nope. Keine Zeit mehr. Lass uns gehen."
„Spielverderber."
„Wir können im Café noch ein bisschen rummachen."
„Auf der Theke?"
„IM MITARBEITERBEREICH", korrigiert Jimin nachdrücklich. Sein Chef ist zwar verständnisvoll, aber ob er so verständnisvoll ist...?!
„Sag ich doch: Spielverderber", entgegnet Taehyung entschieden und zieht die Tür hinter sich zu. Schlüssel, Handy und Portemonnaie hat er in jeweils zweifacher Ausführung dabei und gibt nun im Treppenhaus die Dinge, die Jimin gehören, an ihn weiter. Die Selbstverständlichkeit mit der Jimin seine Eigentümer in der eigenen Jeanshose verstaut, lässt darauf schließen, dass er gar nicht mehr versucht, selbst an seinen Kram zu denken.
Das Treppenhaus ist ein ekelhaftes Sammelsurium jeglicher Flüssigkeiten, die der menschliche Körper zu bieten hat, in verschiedenen Stadien des Zerfalls. Kein Mensch würde ihn freiwillig betreten. Jimin und Taehyung joggen die Stufen lässig nebeneinander herunter. Der ganz normale Wahnsinn. Die frischen Flecken unterscheiden sich kaum von denen letzter Woche. Ein Einheitsbrei. Im wahrsten Sinne des Wortes. Außerdem ist der Aufzug in ihrem Gebäude schon so lange defekt, dass sie sich beide relativ sicher sind, dass er niemals wirklich funktioniert hat. Die Aufzugtüren sind sicher nur so etwas wie ein Relikt aus den „guten, alten Zeiten", die niemals wirklich existiert haben.
„Können wir denn bei dir an der Arbeit auf der Theke rummachen?", setzt Jimin das Thema fort, nachdem sie das Gebäude verlassen haben. An der frischen Luft, die voller Smog ist, redet es sich gleich viel leichter.
„Wenn ich nicht gerade am Arbeiten bin?", schlägt Taehyung nachdenklich vor. Seine Stirn ist krausgezogen und die Augen in konzentrierter Manier verzogen, als würde er tatsächlich über diese Option nachdenken müssen. „Wenn ich nicht arbeite, sollte es gehen."
Jimin lacht nur und erklärt daraufhin feierlich: „Dann wirst du gefeuert. Und auf dem Nachhauseweg werden wir verprügelt."
Sein Freund übergeht den zweiten Teil. Zu viel Ernsthaftigkeit. Stattdessen sagt er nur: „Die feuern mich nicht. Ich bin viel zu unverzichtbar."
„Eingebildet bist du, aber das wars dann auch."
Sie bewegen sich in einem leichten Lautschritt fort. Die Uhr zeigt an, dass noch exakt vier Minuten zur Verfügung stehen, bis die Schicht von Jimin beginnt. Normalerweise brauchen sie etwa eine Viertelstunde für den Weg, aber dabei schlendern sie auch und unterhalten sich und machen die ein oder andere Pause für einen verstohlenen Kuss in einer dunklen Ecke. Davon ist jetzt nichts zu spüren und nachdem Taehyung eben schon so abgeblitzt ist, probiert es jetzt nicht nochmal. Lieber abwarten, bis sich Jimin wieder etwas entspannt hat. Und außerdem, wenn sie so weiterlaufen, kann sich Taehyung fast einreden, dass sie tatsächlich rechtzeitig im Café ankommen könnten.
„Die würden mich trotzdem nicht feuern", besteht Taehyung selbstsicher auf seine vorherige Antwort und genießt den amüsierten Blick, den ihm sein Freund zuwirft.
„Aber nur weil sie Angst vor deinem großen Bruder haben."
„Na und? Für irgendwas muss es gut sein, einen großen Bruder zu haben."
„Muss es nicht unbedingt. Es gibt auch große Brüder, die absolut unnötig sind. Aber in deinem Fall... joa, ein Superhirn als großen Bruder zu haben, das hat sicher den ein oder anderen Vorteil", antwortet Jimin Taehyung zugewandt, bevor er den Blick auf seine Uhr lenkt und seinen Schritt tatsächlich noch etwas beschleunigt.
Obwohl sie beide wirklich wenig anderen Sport als Matratzensport betrieben, zeigt Jimin keine Anzeichen von Erschöpfung. Im Gegensatz zu seinem Partner, bei dem sich bereits die ersten Schweißtropfen auf der Stirn und sicher auch auf dem Rücken bilden und der vor leichtem Ekel das Gesicht verzieht. Er tut so, als wäre es später schlimm, obwohl im Club ohnehin niemand bemerken wird, wie Taehyung riecht.
Jimin wirft ihm einen auffordernden Blick zu und Taehyung gibt sich Mühe, zu ihm aufzuschließen.
„Als würdest du davon nicht auch profitieren."
„Davon, dass Namjoon ein Kkangpae ist? Ein Teil der Jo-Pok Pa? Natürlich profitieren wir davon, aber du findest es scheiße, also finde ich es auch scheiße. So einfach ist das."
Loyalität ist einfach. Zumindest für Jimin und Taehyung ist sie das. Der Vorteil davon, wenn Vertrauen blind funktioniert.
„Mal abgesehen davon, wie ich es finde, bin ich auf jeden Fall dankbar für die Vorteile, die es uns verschafft... Du hast Recht, er wäre wahrscheinlich der einzige Grund, warum sie mich nach so ner Aktion nicht rauskicken würden" gibt Taehyung mit einem großen Grinsen zu. Es lässt ihn für einen Moment jung und unbeschwert wirken. Dann verziehen sich seine Mundwinkel zu einer geraden Linie und Schatten fallen in seine Augen, wie sonst nur die zu langen Haare. Ganz natürlich. Als würden sie dort hingehören.
„Immerhin agiert er nur noch als Berater. Das ist schon mal viel besser als früher."
Schatten in den Augen lassen sich nicht so leicht wegstreichen wie Haarsträhnen. Taehyung versucht es trotzdem. Die Bilder, wie Jimin die Verletzungen der Kim-Brüder nach ihren Aufträgen versorgt hat, bleiben.
„Das ist es", bestätigt Jimin verständnisvoll.
„Ich bin froh, dass er nicht mehr als Geldeintreiber unterwegs ist. Jetzt kümmert er sich ja nur noch um den Papierkram und ein paar strategische Überlegungen. Sagt er zumindest immer. Ist mir halt auch egal. Solange er nicht ständig mit gebrochenen Knochen nach Hause kommt, kann ich mir einreden, dass es fast sowas wie ein normaler Bürojob ist."
„Ich kann mir Namjoon gar nicht als Geldeintreiber vorstellen...", sagt Jimin und versucht sich den großen Bruder mit dem gutmütigen Lächeln und den süßen Grübchen anders und furchteinflößend vorzustellen. Er kennt Namjoon nur mit Güte in den Augen. Selbst das vertrocknete Blut an seiner Schläfe hat den Ausdruck nie fortwaschen können, Klar, Namjoon ist großgewachsen und hat recht breite Schultern, aber trotzdem ist sein Gesamteindruck wohl nie als furchteinflößend zu beschreiben. Ehrlich gesagt, findet Jimin selbst einen Hamster gruseliger. Aber wer mag schon Nagetiere?
„Die sich wohl auch nicht", lacht Taehyung und versucht es leicht zu nehmen, „deswegen haben sie ihm den Job ja auch so schnell wieder weggenommen. Und jetzt ist es besser. Auch für uns."
„Mhm", entgegnet Jimin und für den Bruchteil eines Moments kann er den bitteren Geschmack in seinem Mund nicht vertreiben, den dieses Leben unweigerlich mit sich bringt. Er legt sich auf seine Zunge wie Worte. Er sagt: Wir können nirgendwo anders sein als hier – oder Chap?, als hätten sie diese Frage nicht in der Vergangenheit schon zu genüge diskutiert.
„Ich würde nirgendwo anders sein wollen – außer bei dir", antwortet Taehyung mit der größtmöglichen Ernsthaftigkeit. Jimin schluckt. Mittlerweile ist er zu spät für seine Schicht. Es ärgert ihn. Aber es ist vielleicht nur eine Wut, die andere Dinge kompensiert.
„Haha", sagt er trocken, „das meinte ich nicht und das weißt du."
„Hier werden wir wenigstens beschützt", ist Taehyungs Erklärung und er versucht nach Jimins Hand zu greifen. Eine Antwort wird nicht greifbarer, nur weil man die Frage oft genug stellt. Oder zumindest nicht diese. Es gibt keine richtige Antwort auf diese Frage. Vielleicht liegt es daran, dass es einfach nicht die richtige Frage für sie beide ist. Wenn man keine Wahl hat, muss man sich nicht mit anderen Optionen quälen.
Das sieht auch Jimin ein, wenn er es nicht gerade vergisst. Er strafft die Schultern, um zu vergessen.
„Also mich beschützt ja mein gutes Aussehen", deklariert Jimin selbstsicher und fährt sich mit einer selbstverliebten Handbewegung durch die glänzenden Haare. Er überspielt das ernste Thema einfach mit etwas eingebildeten Gepose und sein Freund steigt gerne auf die willkommene Ablenkung mit ein.
„Chip", verdreht Taehyung übertrieben die Augen, „es sind nicht alle Menschen in dich verliebt."
Als Jimin diesmal lächelt, verwandeln sich seine Augen in kleine Halbmonde. Der Anblick ist verdammt nochmal so liebenswürdig, dass Taehyung kurz überlegt, ob er seine Aussage zurückziehen muss.
„Es reicht, dass Wonho in mich verliebt ist", entgegnet Jimin breit grinsend, der Schalk aus jeder kleinsten Lachfalte hervorblitzend.
„EYYY – und was ist mit mir??"
„Du bist auch okay. Aber nicht ganz so praktisch."
„Waaaass???", fragt Taehyung nach und legt so viel Empörung in seine Stimme, wie ihm nur möglich ist. „Das bekommst du zurück!"
Jimin lacht ihn nun offen aus und legt noch einen Zahn zu, bis er nun wirklich ein gediegenes Joggingtempo an den Tag legt.
„Dann fang mich doch, wenn du kannst", ruft er über seine Schulter und läuft Taehyung schneller hinfort, als dieser seine Beine zur Reaktion zwingen kann.
⊱ ────── ⋅❅⋅ ───── ⊰
Wenn ein Tag beschissen anfängt, dann endet er auch beschissen.
Jimin kennt sich nicht mit Physik aus, aber selbst ihm ist dieses Naturgesetz bekannt.
Warum hat er also irgendwas anderes von seiner Schicht erwartet als einfach die nächste Enttäuschung? Richtig. Keine Ahnung. Außerdem versucht er immer noch zu verstehen, warum es sich überhaupt wie eine Enttäuschung anfühlt.
Aber erstmal zurück zum Anfang.
Die Arbeit heute ist irgendwie ungewöhnlich. Und das liegt nicht nur daran, dass Jimin seit Monaten das erste Mal wieder zu spät gekommen ist, seine Kollegin nicht einmal darüber gemeckert hat und Jin ihn keinen belehrenden Monolog hielt, bevor er das Café verließ. Es liegt vor allen Dingen daran, dass das Phantom bereits weit vor seiner üblichen Zeit das Serendipity betritt.
Es ist erst Mitternacht. So früh rechnet Jimin nicht mit ihm. Er schaut im ersten Moment nicht mal auf, als das Glöckchen über der Tür klingelt und dabei nicht lieblich klingt, sondern eher gedämpft. Fast schon zurückhaltend. Wie das Phantom, dass um Jimin hinter den Tresen in einem großen Bogen vorbeigeschlichen ist, um sich auf seinen Stammplatz am Fenster zu setzen. Jimin nimmt sich die Zeit, um das Level bei Project Makeover noch zu beenden (mal wieder verloren, was ist das eigentlich für ein Drecksspiel?). Erst dann blickt er auf und sucht den Laden mit seinem Blick nach der neuen Kundschaft ab.
Er entdeckt den fremden Mann zu spät, obwohl er am gleichen Tisch wie immer sitzt. Er hält den Blick gesenkt, die Kapuze seines Hoodies weit ins Gesicht gezogen und kaut auf seinen Fingernägeln herum. Jimin sieht zweimal hin, um sich davon zu überzeugen, dass es das Phantom ist, aber ja. Der übergroße Hoodie verrät ihn. Er hatte ihn gestern schon an. Er hätte gestern schon gewaschen werden müssen. Die großen Flecken verraten, dass er zwischenzeitlich keine Waschmaschine gesehen hat, aber das macht ihn nur umso charakteristischer.
Jimin ist überrascht, aber versucht sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Ein Blick auf die Uhr bestätigt ihm, was er ohnehin schon wusste: Es ist zu früh. Frischer Kaffee läuft gerade durch (aber es ist noch nicht mal die Kanne, die er sonst für den Fremden aufsetzt). Er gibt ihm (und sich selbst vielleicht auch) deswegen ein paar weitere Augenblicke, in denen er sich auf ihr heutiges Aufeinandertreffen innerlich vorbereiten kann.
Unterdessen kramt er nach frischen Papierservietten und erinnert sich an das fragile Bild in seinem Kopf, dass schon zerbricht, wenn er nur versucht es zu beschreiben. Parallel wälzt Jimins Kopf mehrere Ideen, wie er dem Fremdem heute Abend begegnen könnte. Ob es eine Möglichkeit gibt, das Gespräch in Gang zu bringen, die er bislang noch nicht ausprobiert hat? Eigentlich ist Jimin ziemlich gut darin, andere Menschen von sich zu bezaubern und um den Finger zu wickeln. Nur am Phantom scheitert er beinah täglich. Warum ist es nur so schwer, Kontakt mit dem Fremden aufzunehmen?
Der Kellner schiebt die dunklen Gedanken von sich weg, sie bringen ihn nicht weiter, und schnappt sich stattdessen die nun volle Kaffeekanne, eine frische Tasse und eben erwähnte Servietten. Let the show beginn, murmelt er ironisch zu sich selbst. Welche Show? Höchstens eine Shitshow. Wie viele Körbe will er sich eigentlich noch abholen?
„Wie immer?", fragt er also einfach nur und greift damit auf altbekannte Methoden zurück. Das Lächeln auf seinem Gesicht formt er zuckersüß mit einer Prise Zurückhaltung und einem Hauch Flirterei. Er hofft, dass es einladend genug auf das Phantom wirkt, um sich zu einer Antwort herabzulassen. Er hat gestern danke gesagt und den angebotenen Muffin gegessen. Was wird er heute sagen?
Scheinbar nichts. Denn das Phantom nickt nur und Jimin setzt die Tasse ab, um einzuschenken. Die Servietten platziert er in der vorgesehenen Halterung.
„Sonst noch einen Wunsch?", fügt er an und fühlt sich dabei wie in einem Déjà-vu. Täglich grüßt das Murmeltier oder so. Er stellt die gleichen Fragen jeden Abend und erwartet einen anderen Ausgang. Das ist die Definition von Wahnsinn, oder? Irgendwo hat Jimin das einmal gelesen. Oder hat Taehyung ihm davon erzählt? Immer wieder das Gleiche zu tun und dabei einen anderen Ausgang zu erwarten sei wahnsinnig. Das Phantom macht ihn wahnsinnig. Na, herzlichen Dank auch.
„Einen zweiten Kaffee."
„Mhm", nickt Jimin so gedankenversunken, dass er die direkte Antwort gar nicht bemerkt. „Den bringe ich dir, sobald du ausgetrunken hast." Zwei Tassen Kaffee trinkt das Phantom doch jeden Abend. Darauf hätte er Jimin nun wirklich nicht hinweisen müssen.
„Nein, keine zweite Tasse für mich. Eine zweite Tasse für... jetzt."
WTF?! Erst jetzt bemerkt Jimin, dass er gerade keinen inneren Dialog führt, sondern der Fremde ihn tatsächlich direkt angesprochen hat. Zur Hölle – was geht jetzt ab? Eine zweite Tasse Kaffee? Die Gedanken des Kellners überschlagen sich zeitgleich in tausenden Möglichkeiten. Will das Phantom etwa... dass er ihm Gesellschaft leistet? Ist das seine Art sich für den Muffin von gestern erkenntlich zu zeigen?!
„Was?", erkundigt sich Jimin deswegen wenig intelligent und versucht seinen Fehler sowie seine übersprudelnden Ideen gleich darauf mit gelassener Coolness zu überspielen. „Eine zweite Tasse Kaffee also. Klar. Bringe ich sofort. Warte kurz."
Jimin hechtet zurück hinter den Tresen und dreht sich schnell in Richtung der sauberen Tassen, um sein erhitztes Gesicht zu verbergen. Dieser Satz... das waren die meisten Worte, die der Fremde je an ihn gerichtet hat. Es fühlt sich unwirklich an. In seinen Vorstellungen hat er sich ihren ersten Dialog weniger trivial und auf jeden Fall weniger peinlich für sich selbst vorgestellt und mehr damit gerechnet, dass er den anderen durch den gezielten Einsatz seines Charmes bezirzen kann. Natürlich ohne Hintergedanken. Was könnte Jimin schon von dem Fremden wollen? Außer vielleicht seiner Stimme etwas länger zu lauschen (oder endlich herauszufinden, was es mit den Worten auf den Servietten auf sich hat).
„Auch schwarz?", erkundigt der Kellner sich jetzt, zurück am Tisch des Phantoms und immer noch mit tiefen Atemzügen darum bemüht, seine Souveränität zurückzugewinnen.
„Nein, mit Zucker. Und noch einen Muffin bitte", antwortet der Angesprochene leise.
"Aber ich trinke meinen Kaffee auch schwarz...", erwidert Jimin unüberlegt, weil ihn der Gedanke, dass das Phantom ihm zum Kaffee einladen will, nicht loslässt.
"Mit Zucker", wiederholt sein Gast lediglich. Er macht auch ohne weitere Worte deutlich, dass er bei seiner Bestellung nicht an den Kellner gedacht hat.
Okay, dann war's das also mit der Option, dass der Fremde mit ihm einen Kaffee trinken möchte. Warum fühlt sich das nur so enttäuschend an?
„Oh – erwartest du noch jemanden?", wagt sich Jimin hervor und hofft, dass sein süßes Lächeln überspielt, dass er bittere Gefühle empfindet.
„Ja..."
Wie ungewöhnlich. Dabei ist er doch sonst jede Nacht allein hier.
Jimin muss sich fest auf die Lippen beißen, um sich den Kommentar zu verkneifen. Am liebsten würde er noch tausende Anschlussfragen stellen, aber die Körpersprache des Phantoms spricht Bände darüber, dass er lieber wieder in Ruhe gelassen werden will. Jimin versucht Augenkontakt aufzubauen, um wenigstens dort noch nach ein paar Antworten zu suchen, aber sein Gast meidet seinen Blick akribisch.
„Oh", wiederholt Jimin dann schließlich, „sorry, damit habe ich nicht gerechnet. Ich bringe dir gleich noch den Zucker und den Muffen." Er hebt seine Hand vor den Mund und kichert leise. Es ist der gleiche Klang wie eine melodische Panflöte. Rattenfänger benutzen sie, um kleine Kinder zu fangen. Das Phantom bleibt vollkommen unberührt.
„Ich heiße im übrigen Jimin", sagt Jimin aus einem Impuls heraus und weil er heute nicht so schnell aufgeben will. „Es steht auch auf meinem Namensschild, falls du den Namen mal vergisst. Wir sind uns schon ein paar Mal begegnet. Ich bin eigentliche jede Nacht hier."
Innerlich hofft er auf eine weitere Reaktion des Phantoms. Im besten Fall auf einen Namen, aber er wäre auch mit allem anderen einverstanden, was das Gespräch am Laufen halten würde.
Die Antwort bleibt jedoch aus. Das Phantom hat sich bereits wieder abgewandt, vergräbt den Blick in der Kaffeetasse und macht nicht einmal den Eindruck, als hätte er Jimins Worte überhaupt vernommen.
Der Kellner seufzt. Wäre ja auch zu schön gewesen.
Erst dann erinnert er sich daran, dass er gerade im Dienst ist und noch einen Auftrag zu erfüllen hat. Er bringt Zucker und einen Schokoladenmuffin (er geht einfach davon aus, dass das Phantom den gleichen möchte, den er ihm auch gestern Abend gebracht hat), stellt beides auf den Tisch und deutet eine höfliche Verbeugung an. „Also, wenn du noch etwas brauchst, scheu dich nicht davor, nach mir zu rufen."
Wiederum keine Reaktion des Fremden. Jimin zieht sich zurück auf seine Beobachterposition hinter dem Tresen und erkundigt sich nebenbei bei zwei, drei anderen Gästen darüber, ob noch alles in Ordnung ist. In den nächsten Minuten verlässt sein Blick kaum den Fremden. Er scheint auf jemanden zu warten. Hat den Muffin auf die andere Seite des Tisches geschoben und rührt seinen eigenen Kaffee kaum an. Außerdem schreibt er nicht wie sonst auf seine Servietten, sondern überprüft nur einmal seinen Handydisplay und blickt dann weiter abwechselnd verloren aus dem Fenster oder verloren in seinen Kaffee. Jimin ist so gespannt auf seine Begleitung. Er hat das Phantom noch nie mit einem anderen Menschen gesehen. Eigentlich hat er gedacht, dass der Fremde ein ziemlicher Einzelgänger sein muss. So verschwiegen wie er immer ist und sich gegen Jimins Annäherungsversuche wert.
Haben wir schon darüber gesprochen, dass man erst mehr sieht, wenn man hinsieht? Das tut Jimin heute ausführlich. Natürlich hervorragend getarnt hinter seinem Handydisplay und Projekt Makeover. Seit das Phantom das Café betreten hat, hat er nicht mal eine neue Runde begonnen. Stattdessen starrt er. Solange, bis ihm auffällt, dass die Aura des Phantoms, die er sonst nie greifen kann, heute seltsam ruhig wirkt, beinahe gefasst. Und in seinen Mundwinkeln liegt die Andeutung eines Lächelns verborgen, dass Jimin, wenn er nicht so genau hingesehen hätte, sicher nicht aufgefallen wäre. Was hat das zu bedeuten...?
Als das Glöckchen das nächste Mal klingelt, ist der Klang lieblicher denn je. Ein starker Kontrast zu dem dumpfen Geräusch, mit dem es das Eintreten des Phantoms angekündigt hat. Ob es kaputt ist? Das Geräusch ist so ätzend, dass sich Jimin sicher ist, dass wenn es dieses Geräusch noch öfter von sich gibt, dass Ende seiner Geduld nun endgültig erreicht ist. Dann macht er der Glocke einen kurzen Prozess. Ab auf den Sondermüll damit.
„Hey", ertönt die dunkle Stimme des Phantoms.
Jimin wendet sich augenblicklich um, aber er ist nicht gemeint.
Angesprochen ist der Neuankömmling. Der Mann, der seinen Kaffee scheinbar mit Zucker trinkt und auf Schokoladenmuffins steht. Bah. Jimin kann kaum vermeiden, dass sich seine Gesichtszüge zu einem missbilligenden Ausdruck verziehen, obwohl er eigentlich – und rein objektiv betrachtet – recht angetan von seinem neuen Gast sein müsste.
Der junge Mann, der gerade das Café betreten hat, ist der Grund dafür, warum andere Menschen an Serendipity, das Prinzip des glücklichen Zufalls, glauben. Ehrlich, es ist lächerlich, aber er ist die Verkörperung davon. Ein Epitom von Ästhetik. Er ist groß gewachsen, mit dichten, glänzenden Haaren, ausdrucksstarken Augen und wohlproportionierten Muskeln an genau den richtigen Stellen. Sie sind unter der hautengen Skinnyjeans wirklich deutlich zu sehen. Jimin kostet es jegliche Überwindung, den Blick von dem Muskelspiel an seinen Beinen abzuwenden, und dem restlichen Gesicht die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Eine schwarze Atemmaske verdeckt den Großteil der Gesichtszüge, aber es besteht kein Zweifel, dass auch diese fucking atemberaubend sein müssen. Der junge Mann ist so schön wie ein Fiebertraum. Was macht jemand wie er in ihrer Gegend? Was will jemand wie er von dem Phantom? Vom Aussehen her könnten sie sich kaum mehr unterscheiden. Er: ein Model, ein Idol vielleicht sogar. Und das Phantom? Nun ja. Was auch immer er ist.
Der neue Gast bleibt kurz hinter dem Eingang stehen, um die Atemmaske abzunehmen und sich zu orientieren. Das leise gesprochene Hey des Phantoms wurde scheinbar von ihm überhört. Und fuck, Jimin hatte Recht. Seine Gesichtszüge sind die eines griechischen Gottes. Weich geschnitten, mit einer markanten Kinnlinie, einer wohl proportionierten Nase und Wangenknochen, die jeden Bildhauer um den Verstand bringen würden. Ein ernster Ausdruck umstreicht seine Lippen, aber er verstärkt nur den erhabenen Eindruck. Er scheint jemanden zu suchen, scannt kurz die wenigen Gäste, die sich um diese Uhrzeit in dem Café aufhalten, und geht dann mit fokussierten Schritten auf genau die Person zu, deren Verbindung Jimin am allerwenigstens nachvollziehen kann.
Er nimmt gegenüber des Phantoms Platz. Was zur Hölle?
Ohne eine großartige Begrüßung miteinander auszutauschen, umschließen die Hände des (neuen) Fremden die des Phantoms. Der ernste Ausdruck verschwindet nicht, als er sich über den Tisch nach vorne beugt und mit geflüsterten Worten beginnt, auf ihn einzureden.
Jimin überkommt das plötzliche Verlangen einzugreifen. Weiß der (neue) Fremde nicht, wie zurückhaltend sein Gegenüber ist? Wie sehr er mit seinem Verhalten in die persönliche Komfortzone eindringen muss? No way, dass das so von dem Phantom gewünscht ist. Er will gerade seine angestammte Position verlassen, ein Fuß bereits erhoben und heroisch auf den Tisch der Fremden zutreten, als etwas passiert, was ihn der Bewegung gefrieren lässt.
Die Mundwinkel des Phantoms verziehen sich tatsächlich zu einem Lächeln. Ein richtiges Lächeln. Er blickt von seinem Kaffee auf, umgreift nun seinerseits die Hände seines Gegenübers und weist mit einem Kopfnicken auf den Muffin hin. Die Berührungen scheinen ihm tatsächlich nicht unangenehm zu sein und als seine Begleitung sich nach vorne streckt, um ihm die Kapuze des Hoodies vom Kopf zu ziehen, lässt er es sogar zu. Er schüttelt seine Haare nur kurz aus, streift dabei mit seinem Blick Jimin und das Lächeln, dass vorher seine Lippen zierte, ist immer noch da.
Als sich ihre Augen begegnen, friert das Bild ein. Jimin hört auf zu denken, er hört auf zu atmen. Der Moment besteht nur noch aus hinsehen und herzklopfen und dunklen Augen, die unter den schwarzen Haaren bislang noch nie gefunkelt haben, aber dies genau jetzt tun. Das Gefühl ist wie eine Sternschnuppe am Nachthimmel. Es verglüht in dem Moment, in dem man es erblickt. Das Lächeln stirbt und das Phantom wendet sich zurück an seine Begleitung.
„Jimin? Machst du mir noch 'nen Cappuccino?", fragt ein Kunde nahe der Theke und die Seifenblase zerplatzt. Der Kellner muss sich kurz orientieren, nickt dann aber und zwingt das altbekannte Lächeln auf seine Lippen.
„Na klar", bestätigt er kurz. „Sonst noch etwas?" Sein Mund formt diese Frage.
Sein ganzes Inneres fragt sich hingegen, was das gerade war und was das eigentlich bedeutet. Tja. Eine genaue Antwort kann er sich nicht geben. Was bedeutet es denn, wenn dich jemand ansieht und es fühlt sich an wie ein Schlag in dein Herz?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top