kapitel o1; servietten beschreiben

DAEGU, DALSEO-GU (schon immer)

Nichts verkauft sich besser als Glück
hat sich Jin zumindest gedacht (wie so viele andere vor ihm auch) und sein Café bei der Eröffnung Serendipity getauft. Der glückliche Zufall.

Das muss doch ordentlich Kohle geben
hat auch Jimin gedacht und glücklich lächelnd den Arbeitsvertrag unterschrieben.

Er kann bis heute nicht verstehen, wie er seinem Chef diese Scheiße auch nur für einen Moment glauben konnte. Hat er aber. Und jetzt hat er den Schlammassel.

Am schlimmsten ist die kleine goldene Glocke über der Eingangstür. Jin hat sie aus seinem bisher einzigen Urlaub, er war damals in Thailand, mitgebracht. Natürlich hatte er nach dem gesamten Urlaubstrip keine Kohle mehr für ein richtiges Souvenir, aber seine Träume waren ohnehin schon immer größer als seine finanziellen Ressourcen gewesen. Deswegen war es nicht verwunderlich, dass ihm ein zwielichtiger Verkäufer auf dem Trödelmarkt das Glöckchen trotzdem aufschwatzen konnte. Ihm wurde versprochen, dass das Geräusch der Glocke Glück bringen und sein Geschäft segnen wird. Also hat Jin seine restlichen Bath dafür auf den Tisch geknallt und GEKAUFT geschrien. Natürlich in der felsenfesten Überzeugung, dass mit seiner Rückkehr alles anders werden wird. Jeder Kunde, der sein Café mit dem Klang des Glöckchens betreten wird, wird es glücklicher wieder verlassen, als er es betreten hat. Und deswegen werden sie wieder kommen und wieder kommen und wieder kommen, bis er es sich leisten kann, das Café in Dalseo-gu endlich in einen besseren Stadtteil zu verlegen. Jung-gu vielleicht sogar. Hauptsache an einen Ort, an dem es nicht nur zu viel Kriminalität und zu wenig Hygienevorschriften gibt.

Damit ein herzliches Hallo. Willkommen in Dalseo-gu, dem Schandfleck Daegus.

Und tja. Jins Plan hätte vielleicht aufgehen können...
... ist er aber nicht.

(Hängt ganz eventuell mit der wenig zahlungsfähigen Kundschaft zusammen, die das Glück zwar wollen, es sich aber ganz eindeutig nicht leisten können. Merke dir also für deine zukünftigen Pläne eines Lebens in Selbstständigkeit: Kenne deine Zielgruppe!!
Jin kannte sie nicht.)

Der Tripp nach Thailand ist mittlerweile fünf Jahre her. Das Café steht natürlich immer noch in den dreckigsten Gassen der ganzen Stadt. Dieser scheiß Aberglaube hat einen Scheiß gebracht.

Also arbeitet Jimin immer noch hier. An einem Ort, den er irgendwann früher mal verlassen wollte, aber das ist mittlerweile so lange her, dass er sich kaum noch daran erinnern kann. Außerdem ist er zwar kein verdammter Kunde, sondern nur ein unterbezahlter Barista, aber er betritt den Schuppen hier trotzdem quasi täglich und war noch kein einziges Mal am Feierabend glücklicher als bei Arbeitsantritt. Das sollte Ausdruck genug für das absolute Versagen des Aberglaubens sein. Ist es aber nicht. Oder zumindest reicht es nicht aus, damit Jin dieses Kackteil endlich mal abnimmt.
Mittlerweile ist das Einzige, was das Glöckchen wirklich verlässlich tut, an Jimins Nerven zu zerren. Und das gewaltig.

„Jimin? Du überstehst den Rest der Nacht allein?", fragt der Besitzer des Serendipitys mit dem unumstößlichen Glauben an die Magie des Glöckchens. Wäre er nicht sein Chef und die beiden nicht schon jahrelang auf eine verquere Art miteinander befreundet, hätte Jimin das Scheißteil schon lange unauffällig in den Mülltonnen im Hinterhof entsorgt.

„Wie immer, Boss", antwortet Jimin gelangweilt. Er hängt mit dem Oberkörper über dem Tresen, die Arme dahinter lang heruntergestreckt und sein Handy in der Hand, während er Project Makeover zockt. Er schafft dieses Level einfach nicht und das ist echt so ärgerlich, weil ihm nur noch fünfzig Münzen fehlen, um das Outfit seines derzeitigen Projektes fertigzustellen. Zum Glück hat er eben dreißig Minuten Endlos-Leben freigeschaltet. In der Zeit wird er alles geben, um das Dreckslevel endlich zu bestehen. Vorausgesetzt, er wird von keinem Kunden unterbrochen. Es ist schon beinah Mitternacht und obwohl das Café 24/7 geöffnet hat, verirren sich um diese Uhrzeit kaum noch Kunden in das unauffällige Geschäft.

„In der Küche befindet sich schon der frische Kuchen und die Muffins für morgen. Wenn jemand ein Sandwich möchte, musst du es noch belegen... Es ist ansonsten nichts mehr vorbereitet. Vielleicht kannst du später für die Frühschicht vorarbeiten, wenn nichts los ist. Gegen 7 Uhr kommt deine Ablöse, ja?"

„Mhm..."

„Und spiel' nicht die ganze Zeit mit deinem Handy. Dafür bezahl' ich dich nicht."

„Ich weiß nicht, ob man das überhaupt Bezahlung nennen kann, was du mir da seit Jahren anbietest...", kontert Jimin abgelenkt. Wenn er konzentriert gewesen wäre, hätte er es so sicher nicht verpackt. Er weiß ja eigentlich, wie empfindlich sein Vorgesetzter auf solche Aussagen reagiert und deswegen bereut er die Worte schon in dem Moment, als sie seinen Mund verlassen. Sie wirken außerdem viel härter, als sie sollten. Aber das mit dem spaßigen Tonfall hatte er wohl noch nie so richtig drauf. Dafür kann Jimin umso besser fluchen. Und flirten. Hashtag: Kenne deine Stärken. Oder hieß das nicht, Hashtag: kenne deine Limits? Wie auch immer.

„Ich weiß das Jimin und du weißt hoffentlich auch, dass ich dir mehr bezahlen würde, wenn es irgendwie ginge und-"

„Lass gut sein, ja? Wir hatten das doch schon und ist schon gut." Jimin hebt nun doch den Blick von seinem Bildschirm (das Level hat er schon wieder verkackt, alter, wie unfähig kann man sein) und sucht den Augenkontakt zu seinem Chef. Der wirkt, wie erwartet, ernsthaft zerknirscht (Jin nimmt sich sowas direkt zu Herzen), dabei wollte Jimin mit seinem beiläufigen Kommentar wirklich keine handfeste Kritik äußern.

„Ist ja nicht so, als würde ich wo anders mehr verdienen", beeilt er sich deswegen schnell nachzusetzen, „und ich mach den Job gerne. Ich arbeite gerne für dich, Boss. Du bist der Beste."

„Das sagst du nur, weil ich dich kostenlos von den Muffins essen lasse", erwidert Jin mit einem sanften Lächeln, genauso schnell zu beruhigen wie zu beunruhigen. Immerhin das.

„Das hat vielleicht einen nicht unerheblichen Anteil daran", gibt Jimin nonchalant zu und nutzt damit die Chance, wieder in seichtere Gewässer der Unterhaltung abzutauchen.

„Iss' nicht zu viele und verschenk' keine an Kunden, ja? Wir sind nicht die Wohlfahrt", rügt ihn sein Chef zum Abschied milde.

„Zählt Taehyung als Kunde?"

„Der gehört schon zum Inventar", lacht sein Vorgesetzter. „Kommt er dich später wieder abholen?"

„Ja, wie immer. Nach seiner Schicht in der Bar, aber er wird dann noch 'ne Weile auf mich warten müssen. Wir gehen dann zusammen nach Hause."

„Muss Liebe schön sein..."

„Ist sie, Boss, aber irgendwann klappt's bei dir auch schon noch."

„Und wann soll das sein? Irgendwann? Ich warte schon ungefähr so lange darauf, wie ich darauf warte, dass du aufhörst mich Boss zu nennen. Ich bin dein Hyung!"

Jimin grinst amüsiert, während er einen neuen Versuch mit dem Level startet. „Okay, Boss-Hyung", sagt er und betont die Wortverbindung extra exzessiv. „Irgendwann wird genau der Tag sein, an dem jemand das Café betritt und von deinen breiten Schultern so verzaubert wird, dass er jegliches Feingefühl verliert. Und dann passiert: Serendipity! Er lässt seine Tasse fallen, verbrüht sich an dem heißen Kaffee und während du noch heroisch mit Handfeger und Kehrschaufel zur Rettung eilst, begegnen sich eure Blicke. Die Zeit gefriert, während du dich zu den Scherben herunterbeugst, gleichzeitig mit dem Fremden und dann BAM! Zwischen den Scherben findet ihr euer Glück!"

„Du hast eine blühende Fantasie, Park Jimin", entgegnet sein Vorgesetzter, aber aus seiner Tonlage spricht nichts anderes als Wärme und die leise Hoffnung, dass die Vorstellung vielleicht irgendwann real werden könnte.

„Wenn man sonst nichts hat, Kim Seokjin, dann doch immerhin das. Immerhin muss ich mir meinen Job ja auch irgendwie schön denken." Shit. Hoffentlich bekommt sein Chef die Aussage nicht wieder in den falschen Hals. Erst denken, dann reden, Jimin!!

Sein Vorgesetzter überhört zum Glück geflissentlich den letzten Teil seiner Aussage und reagiert nur auf den ersten Part: „Du weißt ja doch wie ich heiße!"

„Sollte man meinen nach all' den Jahren, oder?"

„Bei dir meine ich gar nichts mehr. Aber du darfst mich auch bei der vollen Schönheit meines ganzen Namens nennen, wenn das für dich einfacher zu merken ist als Hyung..."

„Okay, Boss-Hyung", wiederholt Jimin noch einmal. „Und jetzt mach' dich vom Acker. Wir haben schon spät und du hast schon lange Feierabend."

„Als Besitzer hat man nie wirklich Feierabend", aber bevor ihn sein Vorgesetzter noch einmal über diesen Umstand belehren kann, fällt ihm Jimin noch einmal ins Wort.

„Jaja, ich weiß, du bist immer im Dienst. Immer erreichbar, du musst einspringen, wenn einer deiner Mitarbeiter sich krankmeldet, Besorgungen erledigen, den ganzen Papierkram... bla, bla, bla. Ich weiß und ich weiß, dass du jetzt nichts davon tun musst, weil du Feierabend hast und dieser Mitarbeiter nicht plant sich heute noch krankzumelden. Gute Nacht, HYUNG!"

„Oh, du musst es wirklich ernst meinen, wenn du plötzlich sogar höflich bist. Heute noch was vor?"

„Ich muss dieses Level schaffen. Und ich habe noch exakt 21 Minuten endlose Leben...", murmelt Jimin, schon wieder voll in das Spiel auf seinem Handy vertieft.

„Okay", lacht Jin, „Dann will ich dich mal nicht weiter bei deiner wichtigen Mission stören. Ruf' an, wenn irgendwas ist, ja? Ansonsten bis morgen!"

„Es ist nie irgendwas. Also bis morgen!", verabschiedet sich Jimin und blickt erst auf, als er das vermaledeite Klingeln der Glocke über der Tür hört. Ob Jin jeden Tag glücklicher nach Hause geht, als er gekommen ist? Oder klappt der Zauber bei ihm auch nicht, weil er kein Kunde ist?

⊱ ────── ⋅❅⋅ ───── ⊰

Der nächste Kunde findet sein Glück jedenfalls auch nicht in dem Geräusch der Glocke über der Tür und auch nicht in ihrem gesamten Café. Vielleicht hat er sein Glück noch nie gesehen oder gefunden. Zumindest sieht er danach aus.

Für Jimin ist seine Ankunft trotzdem das Highlight der Nacht (und das obwohl er das Level in Project Makeover endlich noch gerockt hat). Der Höhepunkt der Nacht (einer jeden Nacht) kommt immer genau in den Momenten zwischen viel zu spät und viel zu früh. In der Stunde, in der du dich in einem Viertel wie ihrem eigentlich nicht mehr nach draußen trauen solltest, weil um diese Uhrzeit auf den Straßen nur noch Geister unterwegs sind. Zu viele davon sind Monster und du solltest einen Teufel tun, ihnen auch noch freiwillig zu begegnen.

Was sagt das also über Jimins Gast aus? Ist er eines dieser Monster?

Heute läutet die Glocke über der Tür etwa um halb fünf und kündigt seine Ankunft an.

Jimin kann nicht mal eine genaue Uhrzeit ausmachen (mit seinem Betreten geht irgendwie das Zeitgefühl verloren) und obwohl sie nie viel oder lange miteinander sprechen, liegt seine ganze Aufmerksamkeit trotzdem nur auf ihm. Dem Phantom.

Er ist wie immer komplett in die Farbe schwarz gehüllt. Von seinem Hoodie bis zu seinen Schuhen trägt er die Farbe wie ein abgeblätterter Schutzschild, der kaum noch seinen eigentlichen Zweck erfüllt. Alles, was man jetzt noch tun kann, ist sich dahinter zu verstecken.

Die Löcher in seiner Skinnyjeans sind wieder etwas größer geworden und Jimin ist sich ziemlich sicher, dass es die gleiche ist, die er auch sonst immer trägt. Die Kapuze seine Hoodies hat er sich so tief in die Stirn gezogen, dass man kaum noch etwas von seinem Gesicht sehen kann. Generell ist ihm das Kleidungsstück viel zu groß und obwohl der Pullover vermutlich dickgefüttert ist, ersetzt er wohl kaum den Luxus einer richtigen Jacke. Aber das Wort Luxus ist dem Phantom ohnehin im Gesamten fremd. Kein Wunder, sonst würde er sich sicher nicht Nacht für Nacht in das Serendipity verirren.

Auf dem Hoodie sind heute trotz der dunklen Farbe deutlich einige große Flecken zu erkennen. Seine Haut ist schneeweiß, die Finger lang und dürr. Sie streichen gerade ein paar verirrte Haarsträhnen zurück unter die Kapuze. Anders als Taehyungs schwarzbraune Locken, sehen seine Haare nicht warm und weich aus. Sie sind fettig und verklebt. Vielleicht von der gleichen Flüssigkeit, die auch auf seinem Pullover gelandet ist. Neugierig ist Jimin schon, was es ist, aber in Dalseo-gu lernst du schnell, dass es besser ist, keine Fragen zu stellen.

Jimin nimmt sich ein oder zwei Momente, um das Phantom zu beobachten. Er wüsste gerne seinen Namen, aber jegliche Konversationsversuche sind bislang abgeblockt wurden, also muss er sich mit diesem Synonym zufriedengeben. Es gibt nur wenig Dinge, die Jimin bisher über ihn in Erfahrung bringen konnte. Dazu gehören die folgenden:
Das Phantom spricht nicht, niemals, erscheint immer allein und kommt zu den unmöglichsten Uhrzeiten in das Café. Sie sehen sich nur, wenn Jimin die Nachtschicht übernimmt. Was wohl irgendwie zum Glück fast jede Nacht der Fall ist, damit er zu den gleichen Uhrzeiten arbeiten kann wie sein Freund es tut. Das häufige Sehen hat ihn und das Phantom trotzdem nicht näher zueinander gebracht. Sie sind sich so fremd, wie man einander nur sein kann. Das Einzige, was Jimin mit ihm verbindet, ist eine skurrile Faszination, für die er selbst keine Erklärung findet.

Das schäbige Aussehen des Unbekannten sollte ihn eigentlich abschrecken, tut es aber nicht. Jimin hat schon Schlimmeres gesehen, schon Schlimmeres erlebt. Das ist in Dalseo-gu unumgänglich. In ganz Daegu ist es der flächenmäßig kleinste, aber dafür am dicht besiedelste Stadtteil. Taehyung und Jimin leben in einem kleinen, heruntergekommenen Armenviertel – das Café ist nur ein paar Querstraßen weit davon entfernt. Alles hier ist so eng aneinander gequetscht, dass sich auch Elend und Kriminalität freundschaftlich die Hand reichen. Unter diesen Voraussetzungen sieht man dann so einiges, wenn man denn hinsieht. Jimin tut es nicht mehr.

Nur das Phantom sieht er noch an. Einer der wenigen elenden Anblicke, die er sich noch voll und ganz gönnt. Warum auch immer. Jimin sollte langsam mal seinem verdammten Job nachkommen und dem Kunden etwas zu trinken bringen. Das Phantom zittert bereits am ganzen Körper, obwohl er sich sichtlich Mühe gibt, das Gefühl zu unterdrücken. Vor Kälte? Oder Unwohlsein? Hat er Angst? Jimin kann nicht damit aufhören, sich Fragen zu stellen, auf die er nie eine Antwort finden wird. Er kann die Aura nicht begreifen, die den Unbekannten umgibt.

Die Kanne mit frisch aufgebrühten, schwarzen Kaffee ist bereits in Jimins Hand. Der Moment der Beobachtung ist jetzt vorbei. Mittlerweile muss der Fremde nicht einmal mehr eine Bestellung aufgeben. Das haben sie sich bereits vor Wochen abgewöhnt. Er bestellt ohnehin immer das Gleiche. Jede Nacht und ohne Ausnahme.

Er trinkt genau zwei Tassen Kaffee. Keine Milch, kein Zucker, keine süße Beilage dazu. Vielleicht liegt es daran, das Kaffee das billigste Getränk auf der Karte ist.

Jetzt, wo Jimin nähergetreten ist, kann er das Phantom sogar riechen. Er stinkt nach Dreck und Gewalt (Standard) und heute sogar nach Kupfer. Es sollte Jimin vermutlich Angst machen, aber warum fühlt sich das Gefühl in seinem Inneren dann nicht danach an?

„Guten Abend", begrüßt Jimin das Phantom höflich, „das Gleiche wie immer?"
Er fragt nur, weil er nicht weiß, was er anderes sagen soll, aber er gibt die Hoffnung nicht auf, dass ihm der Fremde irgendwann antwortet. Er möchte seine Stimme hören. Das letzte Mal ist so lange her, dass er ihren Klang schon beinahe vergessen hat. Er kann sich nur an einen tiefen Bariton erinnern, der zuvor unbekannte Seiten in ihm angestoßen hat und der Ton seitdem in seinem Inneren leise nachklingt.

Der Fremde nickt und Jimin stellt die mitgebrachte Tasse zuerst auf den Tisch. Dann gießt er ein.

„Sonst noch einen Wunsch?", erkundigt er sich noch einmal.
Die Reaktion ist bloß ein Kopfschütteln.

„Wenn doch, Sie wissen ja, wo Sie mich finden", versucht es Jimin mit einem Grinsen in seinen Worten und deutet mit einem Kopfnicken hinter den Tresen. Der Fremde beachtet ihn kaum, nickt und umklammert mit seinen zittrigen Fingern die gefüllte Kaffeetasse.

Jimin zieht sich höflich zurück und wartet so lange, bis das Zittern der Finger seines Gastes langsam nachlässt. Mit jedem Schluck wird es weniger und die zusammengezogenen Schultern beginnen sich zu entspannen. Nach etwa der Hälfte der ersten Tasse – mit der Zeit kann er die Trinkgeschwindigkeit des Unbekannten ganz gut einschätzen – greift dieser nach einem Stift. Er bewahrt diesen immer in der großen Bauchtausche seines Hoodies auf. Mit der anderen Hand grabscht er blind nach einer Papierserviette aus der dazugehörigen Haltung.

Es geht los.

Auf diesen Moment hat der Kellner gewartet.
Er verschwindet noch einmal kurz hinter der Theke, um die Papierservietten am Tisch des Phantoms aufzufüllen. Er kann nicht einschätzen, wie viele er heute davon brauchen wird. In guten Nächten sind es nur wenige, vielleicht zwei oder drei. Ordentlich zusammengefaltet neben der leeren Kaffeetasse. An anderen Abenden sind es Dutzende. Die meisten davon zusammengeknüllt auf dem Fußboden. Dann ist das Phantom nicht zufrieden mit seiner Leistung, mit seinen Worten, vielleicht sogar mit seinen Gefühlen. Dann sind alle davon auf den Servietten durchgestrichen, so dick, dass das Original kaum noch zu entziffern ist und lieblos auf den Boden geworfen wurde.

Jimin sammelt sie alle auf.
Manche Leute sammeln Briefmarken, andere Pokemonkarten. Er sammelt eben die benutzten Servietten seines Kunden. Klingt perverser, als es eigentlich ist.

Immerhin hinterlässt das Phantom das Resultat seines Schreibens immer im Café, vollkommen unabhängig vom Grad seiner Zufriedenheit. Er hat nie auch nur eine einzige Serviette mitgenommen. Jimin achtet akribisch darauf.

Wenn es mal so einfach wäre. Gefühle auf Servietten schreiben, sie zusammen knüllen und hinter sich zurücklassen.

Im Endeffekt, denkt Jimjn, ist das vielleicht auch nur eine weitere Form des Loslassens.

Selbst wenn die Worte unleserlich dahin geschmiert sind, fünfmal durchgestrichen und darübergeschrieben wurde und die Servietten unter der groben Behandlung gebrochen und gerissen sind, versucht Jimin trotzdem jede Nacht den Inhalt darauf zu entziffern. Die Worte des Phantoms haben schon zu der ein oder andere markerschütternde Erkenntnis über sich selbst geführt. Mittlerweile bedeuten sie Jimin die Welt und er schämt sich kein bisschen dafür, dass er sie deswegen so penibel aufsammelt.

Damit sein Handeln nicht ganz so gruselig und verstörend wirkt, wartet er zumindest den Moment ab, bis der Fremde die Lokalität verlassen hat. Erst dann schleicht Jimin in den Aufenthaltsraum für Mitarbeiter. In seinem Spind hat er extra dafür eine kleine Box inklusive Notizbuch hinterlegt. Manche Sätze schreibt er sich nämlich ab. Die transkribierten Botschaften bewahrt er darin auf wie einen Schatz. In der Box lagern die Originalservietten. Jimin hebt sie auf. Manchmal reichen ihm die abgeschrieben Wörter in seiner schönsten Schrift nicht. Die genuine Wut, die den Zeilen eigentlich zugrunde liegt, wird nur in ihrer Rohfassung deutlich.

Und die hämmert der Fremde nun mal auf die Papierservietten ihres Cafés.

Warum auch immer es ausgerechnet Servietten sein müssen. Jimin hat es ein paar Mal versucht und ihm einfache, weiße Blätter auf den Tisch gelegt. Sie wurden ignoriert. Das Notizbuch, in dem Jimin nun seine Abschriften aufbewahrt, war ursprünglich als Geschenk für das Phantom gedacht. Damit er immer und zu jeder Zeit schreiben kann und nicht darauf warten muss, dass er wieder in diesem gottverlassenen Café strandet. Der Fremde hat die dargebotene Geste zwar registriert, aber gleich darauf deutlich ignoriert und wieder zu dem Stapel Servietten gegriffen. Danach hat Jimin aufgegeben. Nun sorgt er nur noch dafür, dass immer genug Unterlagen vorhanden sind, um die Gedankenfetzen des Unbekannten aufzufangen. So viele davon, wie er bereit dazu ist, sie der Nacht zu übergeben.

Erst als es Zeit für die zweite Tasse Kaffee ist, begibt sich Jimin noch einmal an den Tisch des Fremden. Zwischenzeitlich sind zwei andere Kunden gekommen und wieder gegangen. Sie haben den Kellner nicht halb so sehr interessiert, wie das Phantom es tut.

Diesmal schenkt Jimin ihm kommentarlos nach. Mit einem neugierigen Blick auf das vorläufige Resultat der heutigen Nacht, bemerkt er, dass die Hangul-Zeichen heute seltsam sorgfältig zu Papier gebracht wurden. Das Phantom ist noch nicht sonderlich weit gekommen. Es scheint die erste Serviette zu sein, die seinen Gedanken heute zum Opfer fällt. Erst auf den zweiten Blick bemerkt Jimin, dass der Fremde immer noch zittert. Er benutzt die zweite Hand, um seine linke Hand beim Schreibprozess zu unterstützen. Er stabilisiert sie, damit sich das Zittern nicht zu sehr auf seine Handschrift überträgt.

Die nächste Handlung Jimins ist rein dem Übersprung geschuldet. Er hatte schon oft Mitleid mit der erbärmlichen Erscheinung des Fremden, mit seinem Auftreten, dass nie genug ist und irgendwie doch immer zu viel. Aber, gefühlt zumindest, war es noch nie so schlimm wie heute.

Der Teller klirrt leise, als Jimin ihn elegant auf den Tisch manövriert. Die silberne Gabel legt er sanft darauf ab.

„Die Muffins sind scheiße lecker", sagt Jimin leise und unbestimmt. Er traut sich nicht aufzublicken, weil er das Gefühl hat, damit eine Grenze zu überschreiten. Und das liegt nicht daran, dass er gerade etwas tut, dass ihm sein Chef heute Abend noch einmal explizit verboten hat. Was Jin nicht weiß, macht Jin nicht heiß. Innerlich zuckt Jimin nur mit den Schultern. Dann war das halt der einkalkulierte Muffin für Taehyung.

„Also... mein Chef macht sie und... er ist echt 'ne Granate in der Küche", versucht sich der Kellner weiter zu erklären. Ohne weiteres Zutun bemerkt er, wie seine Wangen heiß werden und kann sich die roten Stressflecken darauf deutlich vorstellen.

Jimin wendet sich schnell wieder ab, weil er ohnehin mit keiner Reaktion rechnet. Wie gesagt, der Fremde spricht nicht, niemals auch nur ein Wort.

„Danke...", sagt er heute.

Und da ist sie wieder.

Die Tonlage, die einen Ort in Jimin erreicht, den selbst Taehyung bisher nicht kennt. Den er selbst nicht kennt.

In Jimins Kopf entfaltet sich ein Bild.
Es ist weiß und so fragil wie die Papierservietten aus ihrem Café. 

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