kapitel 19; trost finden

GANGDONG-GU, SEOUL

Es ist längst tiefste Nacht, bis endlich die hellen Stadtlichter von Seoul am Horizont erscheinen. Es sollte sich erleichternd anfühlen. Jimin hat sich den Moment zumindest erleichternd vorgestellt. Wie Gewinnen. Oder wie Freiheit. Aber in der Realität haben die Lichter von Seoul nichts mit einem Sieg zu tun, ihre Flucht nichts mit Gewinnen. Es fühlt sich an wie ein Verlust und die Lichter in der Ferne sehen aus wie die Kerzen auf einer Grabstätte. Wenn Jimin die Augen schließt, sieht er immer noch eine dunkle Wiese voller Mohnblumen und hört sich selbst schreien. Er kann nicht mehr rekapitulieren, wie sie es überhaupt bis hierhin geschafft haben. Objektiv betrachtet, weiß er, dass sie noch vor einigen Stunden in Daegu gewesen sind. Aber subjektiv fühlt es sich an, als wäre es schon ewig her. Ein anderes Leben.

Wenn sich Jimin zusammenreißt, dann weiß er noch das: Sie haben es mit ihrem Fluchtwagen nur bis kurz hinter den Stadtrand geschafft. Das war anders geplant gewesen, aber sie haben improvisieren müssen. Mit den Einschusslöchern und der zerstörten Scheibe wären sie unmöglich bis nach Seoul gekommen, ohne von der Polizei angehalten oder von den Jo-Pok Pa aufgespürt zu werden. Schließlich hat Wonho sicherlich nicht damit gezögert, seinem Clan zu berichten, dass Yoongi desertiert ist, Verrat begangen hat und damit die Spürhunde auf sie gehetzt. Passend dazu hatte Wonho bereits ihr Auto als Zielscheibe gekennzeichnet. Und mit einer Zielscheibe auf dem Rücken flüchtet es sich nun mal nicht besonders gut.

Also ist der SUV auf dem Schrottplatz gelandet. Das Schloss für den Zugang dafür hat Yoongi geknackt. Der wackelige Bauzaun hat ihn nicht mal ansatzweise aufhalten können. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre Jimin von seiner unangestrengten Coolness hingerissen gewesen. So war er einfach nur zerrissen. Kaputt. Alles ist wie im Film an ihm vorbeigezogen und deswegen ist es auch jetzt so schwer, die einzelnen Szenen als die Realität der letzten Stunden anzuerkennen.

Das Auto ist abgestellt worden. Ihre Taschen ausgeladen. Fingerabdrücke abgewischt. Anschließend sind sie ein paar Meter, Kilometer – Jimin weiß es nicht, die Schritte verschwimmen in einem Gefühlschaos aus Panik, Wut und Angst – zu Fuß weiter gegangen. Das Gewicht ihrer Taschen war nichts im Gegensatz zu der Last gewesen, die sie unsichtbar auf ihren Schultern getragen haben. Jimin hat bis dato nicht gewusst, dass er so stark ist. Aber es musste es sein. Und bei jedem Schritt hat er versucht, auch das Gewicht von Taehyung für ihn zu tragen. Nicht, dass es möglich gewesen wäre. Taehyung, der auch jetzt danach aussieht, als hätte er sein Herz in Daegu vergessen. Verloren. Jimin hat ihm sein Eigenes geschenkt, schon vor langer Zeit, aber manche Verluste können nicht ausgeglichen werden. Durch nichts und niemanden. Taehyungs Hand hat Jimins trotzdem gehalten und sich bei jedem Schritt gesagt, dass er für sie beide gehen muss.

Sie sind gegangen, bis sie bei einem Gebrauchtwagenhändler gelandet sind, den Jungkook über Google ausfindig gemacht hatte. Dort haben sie ein neues Auto gekauft. Nur eine Schrottkarre, egal. Jimin hat das Herz geblutet, dafür das Geld ausgeben zu müssen, das Jin ihm bei seinem Abschied übergeben hat. Sicherlich hatte auch sein Hyung damit anderes im Sinn, aber das Auto hatte nun mal Vorrang. Wie hat Jin nochmal gesagt? Das Jetzt ist immer wichtiger. Also hat Jimin bezahlt. Noch mehr bezahlt, damit nicht nach ihren Personalien gefragt und kein offizieller Kaufvertrag erstellt wurde. Die Tätowierung der Jo-Pok Pa, die Yoongis Handgelenk ziert, hat den Verkäufer schließlich von dem Deal überzeugt.. Die zwei einander zugewandten Trapeze, natürlich sind sie auch außerhalb der Stadtgrenzen von Daegu bekannt. Danach hat der Verkäufer keine weiteren Fragen gestellt, das Geld emotionslos akzeptiert und Jimin den Schlüssel und die entsprechenden Papiere ausgehändigt.

Auto wieder packen. Einsteigen. Weiterfahren. Nicht zurückblicken. Obwohl Jimin nicht einmal mehr die Umrisse von Daegu im Rückspiegel ausmachen konnte, vermied er den Blick dorthin akribisch. Taehyung saß wieder am Steuer. Nicht, dass es viele Alternativen gab. Yoongi hat das Angebot zwar gemacht (ein paar Mal sei er schon für die Kkangpae gefahren, sagte er, auch wenn's vermutlich nur gelogen war, um Taehyung eine Pause zu gönnen), aber Taehyung ignorierte ihn. Wie ein Zombie hat er seinen Platz hinter dem Lenkrad eingenommen und nur geradeaus geblickt. Er hat kein Wort gesprochen, keine Miene verzogen und den Wagen gestartet. Jungkook und Yoongi haben wieder auf der Rücksitzbank Platz genommen und Jimin auf dem Beifahrersitz. In einer Position, die sich nie hilfloser angefühlt hat.

Ihre Handys haben sie ausgeschaltet, die SIM-Karten unterwegs zerbrochen und aus dem Fenster geschmissen. Yoongi hat es gefordert, damit sie nicht darüber geortet werden können. Jimin hat zustimmend genickt und die Aufgabe für ihn und Taehyung ausgeführt.

Vorher hat er noch ein letztes Mal den Chat mit Jin aufgerufen.

Wir sind da, wo es Hoffnung gibt, ist seine letzte Nachricht an seinen Chef, damit die Chance besteht, dass er sie finden kann, wenn es denn sein muss. Jimin kann nicht einschätzen, wie sicher es für Jin in Dalseo-gu sein wird. Ohne Namjoon. Er hat seinen Chef (Ex-Chef, korrigiert er sich gedanklich) bereits über die Schießerei und dessen Ausgang informiert. Die letzten Nachrichten in ihrem Chatverlauf sind auch ohne SIM-Karte nachzulesen. Jimin tut es jetzt nur, damit er eine Beschäftigung hat. Die Grablichter Seouls erträgt er nicht. Er hat gewusst, dass sie viel opfern müssen, um es bis hierhin zu schaffen. Er hat nur nicht gewusst, wie viel es wirklich sein wird.

[Jimin]
Es ist nicht gut gelaufen, Hyung

[Boss-Hyung]
Was ist passiert???

[Jimin]
Zu viel

[Boss-Hyung]
???

[Boss-Hyung]
Wo seid ihr?

[Boss-Hyung]
Geht es euch gut?

[Jimin]
Wir fahren aus der Stadt raus

[Jimin]
Es gab eine... Schießerei

[Boss-Hyung]
WHAT?

[Boss-Hyung]
Scheiße

[Boss-Hyung]
Jimin

[Boss-Hyung]
Alles okay???

[Jimin]
Nichts ist okay

[Jimin]
Namjoon

[Jimin]
Ich glaub...

[Jimin]
Hyung

[Jimin]
Ich glaub, es hat ihn erwischt

[Jimin]
Ich weiß es nicht

[Jimin]
Da war so viel Blut

[Jimin]
Hyung, es tut mir so leid

[Jimin]
Du musst auf dich aufpassen

[Jimin]
Bitte, pass auf dich auf, ich weiß nicht, ob sie dich jetzt auch befragen werden

[Jimin]
Hyung???

Doch es kam keine weitere Reaktion und Jimin konnte nicht länger auf sie warten. Bevor er die SIM-Karte wegwarf, schrieb er noch:

[Jimin]
Wir sind da, wo es Hoffnung gibt

Und das ist der aktuelle Stand. Es sollte ihn nicht wundern, dass keine weitere Antwort gekommen ist, sobald Namjoons Name gefallen ist. Jimin hätte sein Handy auch vergessen, wenn ihn die gleiche Nachricht mit Taehyungs Name ereilt hätte. Oder mit Yoongis. Manche Dinge passieren und berauben dadurch allem anderen ihre Bedeutung. Die Welt bleibt dann für einen kurzen Moment stehen, der sich bis zur Unendlichkeit ausdehnen kann. Nach manchen Verlusten fängt sie nie wieder an sich zu drehen.

Jimin stellt sich vor, wie Jin Krankenhaus für Krankenhaus nach dem Mann absucht, der ihm in den letzten Monaten vielleicht auch neue Träume geschenkt hat. Es ist eine traurige Vorstellung. Herzzerreißend. So sehr, dass Jimin es nicht übers Herz bringt, dem Mann, nach dem Jin sucht, auch noch das Gesicht von Namjoon zu geben. Die roten Mohnblumen blühen weiterhin am Rande seines peripheren Sichtfeldes. Er dreht den Kopf nicht. Weigert sich und will nicht sehen, was dort auf ihn wartet.

Solange keine Gewissheit herrscht, existiert noch Hoffnung. Jimin möchte sich an diese Hoffnung klammern. In seiner letzten Nachricht referiert er aber natürlich nicht nur an das generelle Prinzip von Hoffnung, sondern an eine ganz bestimmte Person. Vermutlich wird Jin die Anspielung verstehen. Es ist zwar schon eine Weile her, dass er mit Hoseok Kontakt hatte (damals müssten er und Jimin noch ein Paar gewesen sein), aber Jin hat im letzten Gespräch bewiesen, dass er immer viel mehr wahrnimmt, als Jimin ihm zugetraut hat. Jetzt muss er darauf vertrauen, dass Jin sich auch an mehr erinnern kann, als Jimin ihm vielleicht zutraut. Einen genaueren Hinweis kann er in seiner Nachricht nicht geben, sollten die Jo-Pok Pa tatsächlich auf die Idee kommen, Jin bezüglich ihres Aufenthaltsortes zu interviewen und sein Handy zu überprüfen.

Aber Jimin will, dass weiterhin die Möglichkeit besteht, dass die beiden in Kontakt bleiben können. Jin ist nun der letzte Ansprechpartner aus Daegu, dem sie vertrauen können. Wonho hingegen... Jimin möchte nicht über ihn nachdenken. Klar, sie waren nie sowas wie Freunde, höchstens Bekannte und meistens eine etwas bessere Zweckgemeinschaft. Aber dass er so weit geht, sie so verrät, ihnen in den Rücken fällt und sogar auf sie schießt? Die Enttäuschung ist bodenlos. Jimin würde den Namen Wonho am liebsten aus seinem aktiven Wortschatz streichen und alle Erinnerungen an ihn tilgen. Wenn das doch nur irgendetwas ändern könnte...

Jimin aktiviert erneut das Display seines Handys. Keine neuen Nachrichten. Wie auch? Es ist nur ein alter Reflex. Trotzdem ist es diesmal nicht nur seine Sentimentalität, die Jimin die Möglichkeit eingeräumt hat, dass Jin erneut Kontakt mit ihnen aufnehmen kann. Es geht auch um Taehyung. Denn sollte es Neuigkeiten über Namjoon geben, wird Jin sie in Erfahrung bringen. Und er wird das Sprachrohr sein, das ihnen die Nachricht überbringen muss. Wie auch immer sie lautet...

Er steckt das Handy weg und folgt seinen Gedanken. Namjoon und Tod. Die beiden Wörter in einem Satz funktionieren nicht. Nicht mal nur gedacht in seinem Kopf. Jimin weiß nicht, was ihn erwartet, wenn er dazu gezwungen wird, sie auch noch laut auszusprechen. Er kann es sich nicht vorstellen, aber wenn er seinen Blick zu Taehyung schweifen lässt, dann weiß er, dass er stark genug sein wird. Nicht für sich selbst, sondern nur stark genug für ihn.

Liebe macht uns schwach. Aber sie macht uns auch am allerstärksten. Jimin ist bereit, über sich hinauszuwachsen. Für Taehyung. Und ignoriert dabei die Tatsache, dass er das schon lange ist. Über sich hinausgewachsen. Nämlich für Yoongi. Sie wären sonst nie so weit gekommen. Die meisten Ziele erreicht man nur über Umwege. Dieses hier erfordert einige.

Auf der Rückbank sitzt Yoongi und steckt den Kopf mit Jungkook zusammen. Sie diskutieren eindeutig, aber ihre Stimmen sind so gedämpft, dass die einzelnen Worte es nicht bis hin zu Jimin schaffen. Sein Kopf lehnt an der Fensterscheibe und er beobachtet abwechselnd die näherkommenden Lichter der Stadt und seinen Freund. Taehyung sitzt nach wie vor mit versteinerter Miene auf dem Fahrersitz und umklammert das Lenkrad fest mit beiden Händen. Seine Handknöchel sind sicherlich vor Anspannung ganz farblos. Das fehlende Licht versteckt die Farbe. Alles hier drin wirkt schwarz-weiß. Kurz fragt sich Jimin, ob es sich so anfühlt, wenn man alles hinter sich zurückgelassen hat. Schwarz-weiß. Dann verwirft er den Gedanken so schnell wieder, wie er gekommen ist. In Daegu gab es auch keine Farben für sie. Was sie dort gesehen haben, war immer nur die billige Fake-Variante davon.

Als Yoongi sich vorsichtig räuspert, zuckt Jimin vor Schreck zusammen. Bei Taehyung rührt sich nichts. Er wirft ihm einen sorgenvollen Blick zu, aber richtet seine Aufmerksamkeit dann auf die tiefe Stimme von der Rücksitzbank.

„Wir sind bald... da", beginnt Yoongi vorsichtig. Jimin sieht, wie Jungkook rückversichernd seine Hand hält. Sie zittert wie Espenlaub. Es muss auch schwer für ihn sein. Jimin wäre gerne mehr für ihn da. Aber er ist zu beschäftigt damit, seine eigenen Gedanken zu ordnen und gleichzeitig zu versuchen, irgendwie für Taehyung da zu sein. Für mehr ist gerade kaum Platz. Es ist gut, dass Jungkook sie begleitet. Nicht nur, damit die Jo-Pok Pa nicht als Druckmittel verwenden können. Es ist gut, damit Yoongi jemanden hat, der auch auf ihn aufpasst.

„Ich weiß, es ist scheiße zu fragen und...", Yoongi unterbricht sich selbst, um tief Luft zu holen und nochmal neu anzufangen. „Es ist so scheiße", sagt er auch beim zweiten Anlauf. „Es tut mir so leid, Taehyung. Es tut mir so, so leid. Ich hätte nie zustimmen dürfen... Wir hätten nie... Ich hätte schneller..."

Wie er auch beginnt, alle Satzanfänge fühlen sich falsch an und er bricht sie ab, bevor sich ihre volle Bedeutung entfalten kann. Jungkook schenkt seinem Bruder einen strafenden Blick, so als würde er ihm sagen wollen: Hyung, das hatten wir gerade schon und das bringt doch nichts. Es bringt wirklich nichts. Und auch Jimins Herz zieht sich bei den Worten schmerzhaft zusammen. Taehyung reagiert nicht. Zumindest nicht verbal. Seine Hände lockern sich um das Lenkrad, nur um sich neu zu positionieren und – wie es scheint – noch fester als vorher zuzupacken.

„Es ist alles meine Schuld", macht Yoongi weiter. Er hält den Kopf vor Scham gesenkt. Seine Stimme bebt. „Und... ich... Ich kann es nicht wieder gut machen. So sehr ich auch will... ich – ich kann nicht – ich..."

Diesmal nutzt Jungkook die Pause, die Yoongi braucht, um die nächsten Worte zu sammeln. Er unterbricht ihn und sagt: „Was Yoongi eigentlich sagen wollte, ist; wir sind jetzt gleich da. Wir wissen, es ist eine scheiß Situation und wir wollen nicht unsensibel sein, aber es muss trotzdem weitergehen. Und die Frage ist: Wissen wir, wohin wir jetzt können? Wie sieht der folgende Plan aus? Gibt es überhaupt so etwas wie einen Plan?!"

Jimin weiß, dass es jetzt an ihm ist zu antworten.

„Wir hatten nicht viel Zeit...", beginnt er vorsichtig. Es ist eine beschönigte Version von: Ich habe keine Ahnung. Ich habe absolut keine Ahnung, wie es weitergehen soll. „... um einen Plan zu machen. Ich denke, Yoongi hat dir schon alles erzählt, was wir vorher besprochen haben. Ich denke, es ist das Beste, wenn wir uns daran halten."

„Was bedeutet...?", fragt Jungkook nach.

„Was bedeutet, dass wir jetzt erst einmal zu Hoseok fahren. Schlafen. Einen Überblick gewinnen. Ich glaube" und bei diesen Worten sieht Jimin vor allen Dingen seinen Freund an, „wir brauchen alle eine Pause. Morgen sehen wir weiter."

„Wir haben nicht so viel Zeit, wir...", beginnt Jungkook, aber eine Bewegung neben ihm lässt ihn schweigen. Yoongi hat scheinbar an seiner Hand gezogen oder sie gedrückt, jetzt bedenkt er seinen jüngeren Bruder zumindest mit einem intensiven Blick. Jungkook gibt ihm nach. Er seufzt: „Okay. Morgen dann."

Die Eile, die Jungkook ausstrahlt, ist nicht unangemessen. Jimin weiß das. Sie haben sich auf den Weg nach Seoul gemacht, weil sie hier nach Schutz suchen. Die Kkangpae werden ihre Blutschulden nicht offenlassen. Auch nach Heute nicht, nachdem bereits zwei ihrer Männer bei einer internen Auseinandersetzung verletzt wurden. Es wird noch Jahre dauern, bis sie erkennen, dass ihre Konzepte und Prinzipien alt und schon lange überholt sind. Und jetzt ist da niemand mehr, der für Yoongi in den innersten Reihen Partei ergreifen kann. Namjoon hätte ihnen sicher einige Zeit erkaufen können, aber jetzt ist er.... im Krankenhaus. Im besten Fall. Und die Zeit läuft ihnen davon.

Sie brauchen den Schutz der Musikindustrie. Auch wenn Jimin noch keine Ahnung hat, wie sie den bekommen sollen.

Ich glaub' an deine Musik, hat Taehyung zu Yoongi gesagt, vor einer Zeit, die sich wie eine Ewigkeit anfühlt, dabei ist es erst heute gewesen. Auch Jimin glaubt an Yoongis Musik. Daran, dass sie diese Macht haben wird. Aber wie sollen sie erreichen, dass sie gehört wird?

⊱ ────── ⋅ ♪♫ ⋅ ───── ⊰

Kennt ihr die Redewendung? 'Geh schlafen, morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.' Ich hab' keine Ahnung, wer sich diese Scheiße ausgedacht hat.

Als Jimin am nächsten Morgen aufwacht, sieht die Welt nicht anders aus. Und das, obwohl sie es irgendwie doch tut. Jimin ist so gewohnt an den Anblick der Backsteinmauer des gegenüberliegenden Hauses, dass er die Aussicht, die Hoseoks Wohnung zu bieten hat, im ersten Moment gar nicht zuordnen kann. Dann bleibt er regungslos im Bett liegen und sieht einfach nur aus dem Fenster. Taehyung hat sich neben ihm zusammengerollt und schläft einen unruhigen Schlaf. Er zittert. Von Zeit zu Zeit entweichen ihm erstickte Laute. Jimin streicht ihm mit beruhigenden Bewegungen durch die Haare, streichelt ihm über die Wange und die Arme. Es hilft nicht. Die Albträume lassen sich nicht vertreiben. Aber immerhin wacht Taehyung nicht auf. Jimin denkt, dass es besser ist, wenn er noch eine Weile schläft. Denn auch, wenn er aufwachen würde, könnte er den Albträumen nicht entkommen.

Hoseok hat sie letzte Nacht mit einem euphorischen Lächeln empfangen. Er wohnt in einer relativ großen Wohnung am Rande von Gangdong-gu, einem Randbezirk von Seoul, im zehnten Stockwerk, in einem Gebäude, in dem sogar der Fahrstuhl funktioniert. Es ist nicht nur deswegen so ziemlich das Gegenteil von ihrer eigenen Wohnung in Dalseo-gu. Vermutlich haben sie sich alle fehl am Platz gefühlt. Wie Eindringlinge. Niemand von ihnen ist so eine gute und saubere Umgebung gewöhnt. Aber das war es nicht, was Hoseok in ihren Gesichtern gesehen haben muss, als er die Tür geöffnet hat. Es hat keine volle Sekunde gedauert, bis Hoseok erkannt hat, dass etwas schiefgelaufen sein muss. Jimin hat ihn zuerst begrüßt. Ihm die Neuigkeiten in aller Kurzform ins Ohr geflüstert: Sein Bruder... dabei auf Taehyung gewiesen und den Rest offengelassen. Weil er es immer noch nicht aussprechen kann. Und weil es nicht einmal eine Bestätigung dafür gibt. Sie haben Namjoon zwar auf dem Boden liegen sehen, aber haben sie ihn auch sterben gesehen? Vermutlich ja. Jimin will sich nichts vormachen. Aber eigentlich will er es doch. So eine beschissene Situation.

„Fuck", murmelte auch Hoseok, obwohl das Verhältnis von ihm und Taehyung nicht unbedingt das Beste war. Es hat ihn nicht davon abgehalten, Jimins Freund trotz seiner steinernen Haltung in eine feste Umarmung zu ziehen. Wundersamerweise hat Taehyung es zugelassen. Sich sogar etwas in sie hineingelehnt. Die Umarmung hat fast eine Minute lang angehalten, dann hat Hoseok ihn entlassen. Eine Armeslänge von ihm entfernt festgehalten, den Blickkontakt gesucht und genickt. Was auch immer das Nicken bedeutet hat, Taehyung hat es verstanden. Vielleicht war es die stumme Erlaubnis gewesen, dass Taehyung jetzt nicht mehr durchhalten muss. Nicht mehr stark sein muss. Dass er angekommen ist und Hoseok sich von jetzt an um alles kümmern wird. Jedenfalls ist Taehyung gleich darauf in sich zusammengesunken. Jimin hat ihn gerade so auffangen und stützen können. Sie haben sich sofort auf den Weg ins Gästezimmer gemacht. Von allen anderen haben sie nicht mehr viel mitbekommen. Jimin hat seinem Freund geholfen, sich auszuziehen, es ihm gleichgetan und sich dann unter die weiche Bettdecke verkrochen, die Hoseok bereits für sie bezogen hatte.

Im zehnten Stock hat man wirklich eine gute Aussicht. Die Vorhänge haben sie absichtlich offengelassen. Jimin kann den Han-River sehen und die Hochhäuser, die hinter ihm am Horizont in den Himmel ragen. Er hat sich nie genug dafür interessiert, um irgendeines davon identifizieren zu können, aber er versucht immer wieder den Blick auf ein bestimmtes Fenster zu fokussieren und sich vorzustellen, wie es dahinter aussieht. Es hilft ihm dabei, sich nicht allzu sehr auf die Realität und das, was sie heute erwartet, zu konzentrieren.

Irgendwann kann Jimin leises Geflüster aus dem Rest der Wohnung ausmachen. Yoongi, Jungkook und Hoseok kennen sich nicht, aber sicher haben sie die Zeit schon genutzt, um sich miteinander bekannt zu machen. Jimin steht nicht auf, um ihrer Unterhaltung beizuwohnen. Er weiß, er sollte. Aber Taehyungs gequältes Seufzen hält ihn mühelos an Ort und Stelle. Immer wieder streicht er ihm durch die Haare und wünscht sich, er könnte ihm etwas von dem Schmerz nehmen, den der Ältere empfindet.

Eine Weile lauscht Jimin dem Flüstern. Es wird mal lauter, nähert sich ihrer Tür, dann verschwindet es wieder. Jimin hört eine Kaffeemaschine mahlen. Geklimper von Geschirr. Noch mehr Geflüster. Dann fällt eine Tür ins Schloss und es wird wieder ganz ruhig in der Wohnung.

Zu dieser Zeit hat Taehyung endlich in einen ruhigen Schlaf gefunden. Die Sonne steht immer noch tief am Horizont. Es muss noch ganz früh sein. Ohne sein Handy hat Jimin die Zeit nicht mehr im Blick. Und Hoseok hat auch keinen Wecker in seinem Gästeschlafzimmer stehen. Es ist in Ordnung. Gerade bedeutet Zeit ihm ohnehin nichts. Jimin nutzt den Moment, um sich vorsichtig von Taehyung zu lösen und nun seinerseits das Badezimmer aufzusuchen. Er öffnet die Tür nur einen Spalt breit, um sich hindurchzuschieben. Dann lässt er sie sanft wieder ins Schloss gleiten. Es macht kaum ein Geräusch und er hofft, dass Taehyung nicht davon geweckt wird.

Als Jimin durch die Wohnung schleicht, begegnet er keiner Menschenseele. Er war noch nie zuvor bei Hoseok zuhause. Entsprechend sucht er sich seinen Weg ins Badezimmer. Im Wohnzimmer entdeckt er eine ausgezogene Schlafcouch, auf der die Bettdecken und Kissen bereits adäquat zusammengelegt wurden. Yoongis und Jungkooks Habseligkeiten stehen ordentlich daneben aufgereiht. Die Küche kommt als Nächstes. Ein Zettel liegt auf der Anrichte und daneben steht ein Tablett mit abgedeckten Tellern. Frühstück, erkennt Jimin, als er näherkommt.

Wir kümmern uns, steht auf dem Zettel. Mehr nicht. Die Schrift kann Jimin auf den ersten Blick identifizieren. Es sind Yoongis krakeligen Hangul-Zeichen und deswegen ist es wohl nicht verwunderlich, dass er sich auf das eindeutige Mindeste reduziert hat. Mit wir scheint er augenscheinlich sich selbst, Jungkook und Hoseok zu meinen. Denn auch die beiden sind nicht zu finden.

Jimin ignoriert das Frühstück fürs Erste und setzt seine Suche nach dem Badezimmer fort. Die erste Tür ist das Schlafzimmer, anschließend stößt er auf so etwas wie ein Tanzstudio und erst hinter der letzten Tür verbirgt sich das gesuchte Zimmer. In einem anderen Zustand wäre Jimin sicher hellauf begeistert von der Wohnung. Beeindruckt davon, was sich sein Hyung in Seoul aufgebaut hat. In Daegu hat Hoseok nicht viel besser gewohnt als Taehyung und er es getan haben. Hier in der Hauptstadt hingegen hat er sich etwas errichtet und es weit gebracht. Bis in den zehnten Stock. Mit einem eigenen Tanzstudio. Aber Jimin kann sich zu keiner Emotion durchringen. Auch das ist ein Nebeneffekt der Konfrontation mit dem Tod. Er ist so dunkel, dass er mit seiner Dunkelheit alle anderen Gefühle verdeckt, bis es sich so anfühlt, als wären sie auch gestorben. Jimin seufzt. Dann zieht er sich sein T-Shirt über den Kopf und die Jeanshose aus. Er steigt unter die Dusche und stellt das Wasser an. Der Salzgehalt des Wassers in Seoul ist erstaunlich hoch.

⊱ ────── ⋅ ♪♫ ⋅ ───── ⊰

„Du bist wach", sagt Jimin milde und schließt die Tür hinter sich, obwohl niemand sonst da ist. Taehyung hat sich aufgerichtet und lehnt mit dem Rücken gegen das breite Kopfteil des Bettes. Seine Augen sind blutunterlaufen, schwarze, tiefe Schatten liegen darunter begraben und seine Gesichtsfarbe ist ungewohnt blass. Er sieht sehr verloren aus, voller Selbstzweifel und Schuldgefühlen. Sein Blick ist aus dem Fenster gerichtet, als könnte er sich dahinter selbst finden. Jimins Herz zieht sich bei dem Anblick schmerzhaft zusammen. Das Tablett mit dem Frühstück balanciert er in einer Hand und setzt es ungeschickt am Fußende des Bettes ab. Es verwundert ihn selbst, dass er dabei nichts verschüttet und er atmet leise aus. Je länger er darüber nachdenkt, desto mehr kann er Jin nur Recht geben. Er ist wirklich ein beschissener Kellner. Ein Tablett zu balancieren hat er in all den Jahren nie richtig lernen können. Liegt es nur an Jimin oder brauchen alle Menschen so lange für eine simple Erkenntnis über sich selbst? Wie lange wird Taehyung dann für die Erkenntnis brauchen, dass er nicht Schuld an dem ist, was Namjoon widerfahren ist?

Es kostet Jimin keine zwei Schritte, sich neben ihn auf die Bettkante sinken zu lassen und ihn in die Arme zu schließen. Taehyung lässt sich widerstandslos mitziehen.

„Es tut mir so leid", sagt Jimin und wiederholt damit nur die Worte von gestern Abend. Dabei presst er sein Gesicht in Taehyungs Haare. Sie riechen nach der langen Autofahrt und nach Schweiß, aber darunter liegt immer noch der Geruch von Lavendel. Von Zuhause.

„Sag das nicht", erwidert sein Freund mit schwacher Stimme.

„Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll...", gibt Jimin zu. Das Szenario hat ihn aller Worte beraubt.

„Dann sag gar nichts... Aber sag nicht, dass es dir leid tut", fordert Taehyung.

„Warum nicht?", muss Jimin fragen, weil er seinen Freund verstehen will. Momentan tut er es nicht. Warum lässt er nicht zu, dass er sich entschuldigt? Bereits Yoongis Entschuldigung im Auto hat er schweigend über sich ergehen lassen und vielleicht sogar komplett ausgeblendet.

„Weil es das real macht...", flüstert Taehyung mit einem Horror in der Stimme, den es nur in der Realität gibt. Kein Film hat so viel Angst zu bieten wie die Wirklichkeit. „Wir wissen nicht...", setzt er erneut an, „Wir wissen nicht, ob er wirklich tot ist." Er sieht danach aus, als hätte ihn diese Ungewissheit in der letzten Nacht bis in seine Träume verfolgt und ihn dort heimgesucht und gequält.

„Niemand hat es überprüft... niemand ist hingegangen... niemand hat..." – niemand hat versucht zu helfen. Jimin weiß auch so, was sein Freund sagen will. Er muss den Satz nicht vollenden. Es tut zu sehr weh, es auszusprechen.

„Wir konnten nichts tun", versichert Jimin. Er nimmt extra etwas Abstand von Taehyung, damit er ihm ins Gesicht sehen kann. Er hofft, dass die Ernsthaftigkeit in seinem Ausdruck dadurch besser transportiert wird. Es ist wichtig, dass Taehyung ihm glaubt und aufhört, sich selbst Vorwürfe zu machen. „Wenn wir ausgestiegen wären... Wenn wir länger geblieben wären... Es hätte nur den nächsten getroffen."

„Ich hätte", Taehyung stockt und schluckt. In seinen Augen spiegelt sich ein Gefühl wider, dass man nicht mit Worten beschreiben kann. Es ist die Steigerung von Horror, das Entsetzen über sich selbst und was man in der Lage ist, zu tun. Und vielleicht liegt auch eine Spur Reue darin. „Ich hätte schießen können. Scheiße, man, ich hätte Wonho erschießen können. Ich wünschte, ich hätte ihn erschossen."

„Das hättest du nicht gekonnt."

„Doch... klar." Taehyung lacht unsicher. Eine Spur Hysterie mischt sich in seine Tonlage. „In den Spielen ist es so leicht. Zack. Kopfschuss. Aber in der Realität... Ich hab' kaum den Abzug drücken können."

„Und das ist in Ordnung", versichert ihm Jimin.

„Ich hätte es verhindern können", flüstert Taehyung erneut und in seiner Stimme hört man etwas zerbrechen. Höchstwahrscheinlich ist es sein Herz. „Aber ich dachte... Ich dachte..." Seine Worte klingen erstickt. Das erste Schluchzen entweicht seiner Kehle. „Ich dachte, Wonho wäre unser Freund." Was er eigentlich damit sagt, ist: Ich habe es ihm nicht zugetraut. Schießen ist leicht. Die Absicht dahinter nicht. Und Wonho's Absichten haben sie unterschätzt.

„Das weißt du nicht", sagt Jimin und ignoriert dabei den letzten Teil seiner Aussage. Wonho ist es nicht wert, dass er auch nur noch ein einziges Mal seinen Atem für ihn vergeudet. Zeitgleich zieht Jimin seinen Freund instinktiv wieder näher an sich heran. „Niemand weiß, ob du es wirklich hättest verhindern können. Vielleicht hättest du getroffen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wäre es trotzdem zu spät gewesen. Es wäre niemandem damit geholfen gewesen, wenn noch eine Person... gestorben wäre."

„Namjoon h-hätte es geholfen!"

„Das weißt du nicht."

„Und wir wissen nicht, ob er... o-ob e-e-er... wirklich..." Taehyungs Stimme bricht weg. Das Gewicht der Verzweiflung ist zu groß.

Jimin nickt in seine Haare und hält ihn weiterhin so fest er kann.

„Das wissen wir nicht", bestätigt er, auch wenn er nicht weiß, ob sie sich wirklich daran festhalten sollten. Es ist okay, wenn Jimin das in seinen Gedanken tut. Aber ist es auch Taehyung gegenüber in Ordnung? Man sagt, es gibt nichts Schlimmeres als falsche Hoffnung, aber ist das wirklich so? Ist falsche Hoffnung nicht besser als gar keine Hoffnung? Denn das sind ihre Optionen. Alles, was sie momentan haben. Entweder gar keine Hoffnung oder eben eine falsche. Vielleicht eine falsche.

Taehyungs Hände schlingen sich um Jimins schmalen Körper. Mit allem, was er hat, klammert er sich an ihm fest. Ersticktes Wimmern entkommt seiner Kehle und die Tränen schütteln seinen ganzen Körper so intensiv, als würden sie ihn zum Auseinanderbrechen bringen wollen. Vermutlich fühlt es sich genauso für Taehyung an. Manchmal beginnen wir zu weinen und können uns nicht vorstellen, jemals wieder damit aufzuhören. Die Tränen brennen stärker als Säure und es fühlt sich so an, als würden sie uns von innen heraus verätzen. Der Schmerz ist so intensiv, dass wir nicht mehr atmen können. Wir können nur verzweifelt immer und immer wieder nach Luft schnappen und hoffen, dass die Trauer uns nicht erstickt. Oder es doch tut? Was kann schon schlimmer sein als dieses Gefühl? Taehyung keucht und seufzt und weint, weint, weint ein Meer aus den allerschlimmsten Tränen. Jimin packt noch fester zu. Tut alles, was er kann, um Taehyung zusammenzuhalten. Presst immer wieder Küsse in seine Haare, streichelt an seinen Armen entlang und sagt nichts. Es ist einerseits wirklich erschreckend, seinen Freund so zu sehen, aber andererseits ist es wesentlich besser als die versteinerte Marmorfigur vom Vortag, die den Wagen eisern bis nach Seoul gelenkt hat und der kein Gefühl anzusehen gewesen ist. Jimin ist froh darüber, dass Taehyung die Gefühle nun rauslassen kann. Es ist der einzige Weg, sie loszuwerden.

Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis die Tränen schließlich versiegen. Bei ihnen beiden. Obwohl Jimin bereits unter der Dusche ein kleines Meer geweint hat, hat er es trotzdem geschafft, dass Taehyungs Haare unter dem Rest seiner Tränen ganz feucht geworden sind.

„Ich hab' Tee mitgebracht", flüstert Jimin schließlich heiser und räuspert sich. „Er dürfte aber mittlerweile kalt sein. Willst du trotzdem? Oder soll ich ihn nochmal warm machen?"

„Wir trinken unseren Tee fast immer kalt, Chip...", antwortet Taehyung und streckt seine Hand nach dem Tablett aus, das bisher noch unberührt auf ihrer Bettdecke steht. Grundsätzlich hat er Recht. Nur, dass meist ganz andere Aktivitäten schuld daran sind, dass sie es nicht schaffen, den morgendlich Tee noch zu trinken, während er warm ist. Jimin wertet es als ganz gutes Zeichen, dass Taehyung es schafft, eine Andeutung darauf fallen zu lassen.

Während sein Freund sich mit der Tasse in der Hand wieder aufrichtet, zieht Jimin das Tablett näher an sie heran und nimmt auf der anderen Seite von ihm Platz. Beide Rücken sind nun an das Kopfteil des Bettes gelehnt, sie halten ihre Teetassen in den Händen und sehen das erste Mal dabei durch ein Fenster, das tatsächlich eine Aussicht bietet. Welch bittere Ironie ist es, dass sich trotzdem alles so aussichtslos anfühlt.

Nach einer Weile, in der sich die beiden anschweigen, fragt Taehyung dann: „Wo sind die anderen?" Die Stille in der Wohnung hat er folgerichtig als die Abwesenheit von anderen Menschen interpretiert.

Jimin kann ihm auf seine Frage leider keine genaue Antwort geben. „Unterwegs", sagt er daher nur.

„Was machen sie?"

„Ehrlich? Ich weiß es nicht... Yoongi hat einen Zettel hinterlassen. Es steht nur darauf, dass sie sich kümmern. Hoseok ist mit ihnen weg. Ich weiß nicht genau, was sie machen."

„Mhm...", brummt Taehyung leise. „Das ist gut", entschließt er schließlich.

„Ich denke auch."

Mehr sagen sie nicht. Es ist auch nicht notwendig. Sie beobachten die Sonne, die immer weiter am Horizont emporsteigt, bis sie nicht mehr zu sehen ist. Dann beobachten sie stattdessen das Glitzern ihrer Strahlen auf dem Han-River. Nebenbei knabbern sie appetitlos an ein paar Stücken eines geschnittenen Apfels. Den Rest des liebevoll angerichteten Frühstücks ignorieren sie. Irgendwann steht Taehyung auf, um seinerseits im Bad zu verschwinden. Jimin nutzt die Zeit, um ein paar Sachen aus ihren Taschen zu räumen und Taehyung frische Kleidung ins Bad zu bringen. In der Küche sucht er in den Schränken nach Instant-Nudeln, setzt heißes Wasser auf und macht ihnen zwei Schüsseln zurecht. Das Ergebnis nimmt er wieder mit ins Schlafzimmer. Taehyung isst eine halbe Schüssel, bevor er das Essen wieder wegstellt. Jimin nickt zufrieden und isst seine Schüssel ganz. Der Tag heute gehört ihnen und der Trauer. Aber ab morgen wird es weitergehen. Zumindest für Jimin. Er hat es sich vorgenommen. Und er wird jede Stärke dafür brauchen, die er bekommen kann. Die Nudeln schmecken fad, trotz der Gewürzmischung, die er draufgeschüttet hat und die üblicherweise einfach nur komplett aus Geschmacksverstärkern besteht. Scheinbar tötet der Tod selbst die.

⊱ ────── ⋅ ♪♫ ⋅ ───── ⊰

Es ist längst Abend, bis sich die Haustür das nächste Mal öffnet und leises Stimmengeflüster durch die Wohnung dringt. Jimin blickt seinen Freund fragend an, aber der schüttelt nur den Kopf. Was in Ordnung ist. Also rappelt sich Jimin allein auf, öffnet die Tür wieder nur einen Spalt breit und schiebt sich hindurch. Die Stimmen werden dadurch nicht wirklich lauter. Die anderen geben sich wirklich Mühe, leise zu sein. Unwillkürlich wird Jimin von einem schlechten Gewissen heimgesucht. Das alles hier war ursprünglich seine Idee gewesen. Und jetzt lässt er andere an der Verwirklichung arbeiten, während er nur stumpf im Bett herumliegt und nichts tut. Es ist nicht fair. Nichts erscheint ihm mehr fair.

Jimin schleicht sich in die Küche und bleibt in der offenen Durchgangstür stehen. Eine Person bemerkt die Bewegung sofort, auch ohne, dass Jimin etwas sagen muss.

„Oh. Du bist wach." Es ist Yoongi. „Sorry. Haben wir dich geweckt?"

Die Antwort bleibt Jimin im Hals stecken. Er erkennt die Stimme. Es ist die gleiche tiefe Stimme, die immer wieder für Gänsehaut auf seinem Körper gesorgt hat. Es ist auch das gleiche Gesicht. Die gleichen, dunklen Augen, die immer von Schatten durchzogen sind. Und trotzdem steht vor ihm ein völlig anderer Mensch.

Yoongis Haare leuchten strahlend in mintgrün. Es ist ein vollkommener Kontrast zu dem vorherigen schwarz, das immer ein wenig fettig, strähnig und dreckig war, sodass Jimin zweimal hingucken muss. Blinzeln. Es fühlt sich an, als wäre er eben doch eingeschlafen und würde noch träumen.

„Ja... ich weiß. Es ist... ungewohnt", interpretiert Yoongi sein Schweigen richtig und fährt sich mit einer unsicheren Geste durch die Haare, bringt sie so durcheinander. An den Seiten offenbart er abrasierte Enden. Ein Undercut. Aber das ist noch nicht alles. An seinen Ohren baumelt großer, silberner Schmuck, in dem sich das Licht bricht. Es lenkt Jimins Blick von den mintgrünen Haaren weg und er fällt gleich darauf straight in Yoongis Gesicht. Die Augen sind mit einem Lidstrich und etwas Kajal betont. Ihre natürliche Form wird dadurch gekonnt in Szene gesetzt. Es lässt ihn noch katzenhafter wirken. Geheimnisvoll. Gefährlich. Jede Unebenheit in seinem Gesicht wurde durch Makeup ausgeglichen. Seine Nase wirkt unwesentlich schmaler durch das professionelle Contouring. Seine Kinnlinie markanter. Jimin lässt seinen Blick weiter abwärts wandern. Der übergroße Hoodie wurde durch ein schwarzes glitzerndes Oberteil ersetzt, das sich wie eine zweite Haut an seinen Körper schmiegt und seidig an ihm herabfließt. Dazu trägt Yoongi eine enge, ebenfalls schwarze, Lederhose und schwere Boots.

„Du siehst aus wie ein Idol", fasst Jimin das Gesamtbild zusammen.

Eine andere Gestalt nähert sich ihm von der Seite und legt ihm einen Arm um die Schultern. „Das war das Ziel", versichert ihm Hoseok und drückt Jimin sanft an seine Seite. „Wie geht es dir? Wie geht es euch? Wir haben euch was zu essen mitgebracht."

„Wir haben schon gegessen", antwortet Jimin und übergeht die anderen Fragen. Auf sie gibt es ohnehin keine passende Antwort. „Was habt ihr getan?", fragt er stattdessen.

Jungkook lungert in einem hohen Barhocker herum, der an die Küchentheke geschoben wurde, und schlürft erschöpft, aber zufrieden aussehend, an ein paar Nudeln.

„Hyung stellt sich morgen bei ein paar Entertainments vor. Wir haben ihm den richtigen Look dafür verpasst."

„Ihr wart also shoppen?", fragt Jimin, nicht abwertend, nur verwundert. Klar, ihm war bewusst, dass sie irgendwo anfangen müssen. Er hätte nicht nur mit dieser Stelle gerechnet.

„Nicht nur", erklärt Jungkook weiter. Er nuschelt ein bisschen, weil er den Mund noch voller Nudeln hat. „Wir waren beim Friseur, Makeup, Maniküre, danach shoppen und bis eben im Musikstudio. In einem richtigen Studio!!"

„Was habt ihr gemacht?"

„Clean Versions von einigen Songs aufgenommen...", erklärt Hoseok. „Die Instrumentals waren großteils in Ordnung, weil Taehyung sie mit dem Laptop zusammengemischt hat, aber euer Mikrofon – sorry – war einfach Schrott... Wir haben Yoongis Stimme also neu aufgenommen. Zumindest von den Liedern, die uns am aussichtsreichsten erschienen..."

„Und die wären?" Jimin lehnt immer noch am Türrahmen, mit Hoseok, der seinen Arm um ihn geschlungen hat. Yoongi steht unsicher in der Mitte der Küche und weiß offensichtlich nicht, was er mit seinen Händen anfangen soll, jetzt, wo er sie nicht mehr in der Bauchtasche seines Hoodies vergraben kann. Er spielt etwas fahrig mit seinen Haarsträhnen und blickt immer wieder zu Jimin, dann wieder weg. Als würde er sich nicht trauen, ihn länger als nur den Bruchteil eines Moments zu betrachten.

„Warte...", nuschelt Jungkook wieder und springt von dem Barhocker auf, „Wir haben ein Mixtape zusammengestellt... Wollen wir morgen bei den Entertainments abgeben... Falls wir uns nicht vorstellen dürfen... Was super wahrscheinlich ist. Ich hab' schon mal nach Audition-Terminen geguckt, aber was das angeht, haben wir ein ziemlich schlechtes Timing erwischt. Diesen Monat findet quasi nichts mehr statt. Nur noch eins. Und das ist echt morgen." Er schleicht um die Kücheninsel herum, bis er vor einem Rucksack zum Stehen kommt. Was Jimin von hier aus erkennen kann, ist, dass er wohl bis oben hin mit CDs vollgestopft sein muss. Jungkook schnappt sich die Oberste und übergibt sie schließlich in Jimins wartende Hände.

„Morgen schon? Aber das klingt doch gut. Wo?"

„BigHit."

„Oh."

„Ja."

„Keine Chance", fasst Jimin treffend zusammen, weil es absolut utopisch ist, zu glauben, dass sie ausgerechnet bei dem Giganten der Musikindustrie auch nur über die Türschwelle treten dürfen.

„Jop", stimmt Jungkook zu.

„Es ist vielleicht gar nicht schlecht", mischt sich Hoseok ins Gespräch ein und widerspricht damit allen. „BigHit liebt Underdog-Storys. Siehe BTS. Ohne sie wären sie jetzt nicht das erfolgreichste Entertainment in Korea... Es könnte Yoongi Sympathiepunkte einbringen."

„Mhm", entgegnet Jimin mit wenig Überzeugung. Klar, sie müssen groß träumen, das weiß er. Aber Yoongi direkt beim erfolgreichsten Entertainment der letzten Jahre unterzubringen, erscheint ihm dann doch eine Spur zu groß. Aber er hat keine Kraft für eine Diskussion, ist ohnehin zu dankbar für all' die Arbeit, die Jungkook, Yoongi und Hoseok heute geleistet haben. Stattdessen konzentriert er sich also lieber auf etwas Handfestes, sprich die CD, die Jungkook ihm gegeben hat. Auf dem Cover ist ein ästhetischer Schnappschuss von Yoongi abgebildet. In dem gleichen Stil, den auch viele bekannte Influencer für ihre Bilder benutzen. Leicht verschwommen. Mit einem einzigen Spotlight in der Mitte. Es muss heute aufgenommen worden sein, denn Yoongis Haare glänzen schon in mintgrün unter den schweren Kopfhörern. Er steht ganz nah vor einem professionell aussehenden Mikrofon. Seine Lippen streichen in gewohnt sinnlicher Manier daran entlang. Die Augen sind geschlossen. Der Rest des Raums ist künstlich abgedunkelt worden und kaum mehr zu erkennen. Im Mittelpunkt des Bildes stehen also nur Yoongi und die Musik. Es ist ein passendes Abbild von dem, was sie versuchen zu transportieren. You never walk alone steht rechts unten in der Ecke. Jimin schluckt seine Atemlosigkeit herunter. (Und schämt sich ein bisschen dafür, dass sein Herz bei dem Anblick nervös flattert. Selbst jetzt. Nach allem, was passiert ist.)

Auf der Rückseite steht die Trackliste. Es sind nur fünf Songs.

o1 – so far away

o2 – agust d

o3 – people

o4 – give it to me

o5 – nevermind

„Wow", sagt er beeindruckt. „Das sieht super aus."

„Jungkook hat das Design gemacht", sagt Hoseok mit einem breiten Lächeln. „Fotografieren und digitale Bildbearbeitung gehört zufällig zu seinen Hobbys. Neben Karate und Boxen... Obwohl er Jura studiert. Crazy, oder?"

„Crazy", bestätigt Jimin mit einem warmen Lächeln und kann beim besten Willen nicht mehr nachvollziehen, wie er diese bewundernswerten Eigenschaften des Jüngsten am Anfang so beschissen gefunden haben kann. Wenn er Jungkook jetzt ansieht, ist er das Gegenteil von genervt. Jetzt spürt er nur noch Zuneigung.

„Das war ja nicht viel", murmelt der Jüngste im Raum beschämt und zieht sich wieder zurück auf seinen Barhocker. Den Kopf hält er diesmal absichtlich etwas tiefer über der Plastikbox mit den Nudeln, damit niemand seine roten Wangen sehen kann. „Du musst sie noch aufklappen", nuschelt er vor allen Dingen, um die Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken. Jimin tut ihm den Gefallen und öffnet die CD mit hoffentlich genug Fingerspitzengefühl, um nichts kaputt zu machen. Das Innenleben ist erstaunlich schlicht gehalten.

Zu sehen ist derselbe abgedunkelte Raum mit dem Mikrofon, nur diesmal ohne Yoongi. In weißen, klar definierten Buchstaben steht darunter:

We deserve a soft epiloque, my love
Wir sind gute Menschen und
wir haben genug gelitten.

„Oh wow!", entfährt es Jimin unweigerlich erneut, der von den Worten getroffen wird wie von einem D-Zug. „Hast du das geschrieben?"

„Ist ein Zitat von Hyung", merkt Jungkook stolz an und lässt den Blick in Richtung seines Bruders schweifen, der nach wie vor ein bisschen awkward in der Küche herumsteht.

„Ich... ich geh mich kurz umziehen", flüstert Yoongi sobald er bemerkt, dass alle Blicke nun auf ihn gerichtet sind. Klare Ablenkungsstrategie, ähnlich wie sein Bruder zuvor. Vermutlich liegt es in den Genen, dass keiner von ihnen mit Komplimenten und Lob umgehen kann (und an vielen anderen, viel traurigeren Umständen, über die wir schon gesprochen haben). Um seine Aussage zu unterstreichen, macht er ein paar erste, wackelige Schritte auf Jimin zu. Er bleibt jedoch vor ihm stehen, anstatt an ihm vorbei in Richtung Badezimmer zu gehen. Hoseok versteht den dezenten Hinweis und verlässt Jimins Seite mit einem letzten, rückversichernden Drücken seiner Schulter. „Und dann würde ich gerne... Ich würde gerne... Denkst du, es ist okay, wenn ich zu Taehyung gehe? Ist er wach?" In Yoongis Augen schimmert Unsicherheit wie die Tränen, die er nicht weinen kann. Jimin kann sich von dem Anblick nicht lösen und denkt kurz darüber nach, dass da noch so viel im Raum steht, über das sie noch nicht reden konnten. Sein Liebesgeständnis. Die Reaktion von Yoongi, die eigentlich keine und doch eine war. Irgendwann werden sie es nicht mehr aufschieben können, aber irgendwann ist noch nicht jetzt.

„Er ist wach", antwortet Jimin. „Frag ihn, ob er mit dir reden möchte. Das kann ich nicht für Taehyung entscheiden."

„Ja-ja, klar. Okay... Ich probier's dann einfach mal, okay. Danke..."

Mit einem letzten tiefen Blick will sich Yoongi an Jimin vorbei schieben, doch der nutzt die Gelegenheit und greift noch einmal nach der Hand von seinem Gegenüber. Er würde gerne irgendetwas Tiefgründiges sagen, etwas, das die Situation richtig macht. Aber alles, woran er denken kann, wenn Yoongi so nah vor ihm steht, ist: „Du siehst gut aus" und natürlich sagt er es auch noch laut. „A-also die Haare... das Mintgrün... Die Farbe steht dir wirklich gut", ergänzt Jimin, damit es sich nicht ganz so straight forward anfühlt. Wobei die erste Aussage natürlich auch nicht verkehrt war. Min Yoongi sieht gut aus. Und das liegt nicht nur an seinen Haaren.

Die Antwort besteht aus einem überforderten „Danke" und rosig angelaufenen Wangen. Es lässt Jimin zufrieden zurück und diesmal lässt er Yoongi passieren, als er erneut dazu ansetzt, an ihm vorbeizugehen.

In seinem Kopf dreht sich alles. Im Moment ist es wirklich sehr viel. Jimin bekommt die einzelnen Gefühle nicht sortiert, nicht eingeordnet und erst recht nicht bewältigt. Klar, sie raten einem, dass man ein Problem nach dem anderen lösen soll. Aber was ist, wenn man dafür keine Zeit hat? Jimin hat keine Zeit, um die Trauer um Namjoon zu verarbeiten und still mit seinem Freund zu trauern und nichts anderes zu tun. Die Jo-Pok Pa sitzen ihnen im Nacken. Die Gefühle in seiner Brust für Yoongi sind am Überquellen. Sie müssen Musik machen. Nichts davon kann man aufschieben, nichts davon kann warten. Jimin wünschte, er könnte sich aufteilen. Vielleicht wäre dann alles leichter.

Ein tiefes Seufzen entkommt als Symptom für seine umherwirbelnden Gedanken. Hoseok greift es auf, kommt erneut zu ihm und zieht ihn sanft zu dem Barhocker neben Jungkook. Als Jimin das angebotene Essen erneut ablehnt, macht er ihm zumindest einen Kaffee. Der wird dankend angenommen.

„Also", beginnt Hoseok mit einem unsicheren Gesichtsausdruck, „was läuft da zwischen euch?" Die Frage lenkt auch Jungkooks Aufmerksamkeit auf Jimin und er hört sogar auf zu essen.

„Ich will nicht unsensibel sein und ich weiß, der Zeitpunkt ist ungünstig, aber... wtf? Das habe ich mir doch gerade nicht eingebildet."

„Hast du nicht", erwidert Jimin und senkt schuldbewusst den Kopf. Sein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen und für einen Moment befürchtet er, dass der Kaffee vielleicht doch keine so gute Idee war. Aber es liegt natürlich nicht an dem Getränk. Was ihn wirklich belastet, ist sein Gewissen.

Jungkook scheint das zu spüren, denn auch er sucht den Körperkontakt zu Jimin, greift nach seiner Hand und drückt sie aufmunternd.

„Mein Beileid", sagt er und klingt sehr aufrichtig dabei. „Ich kannte Namjoon nicht, aber von dem, was Hyung mir heute erzählt hat, muss er ein klasse Typ gewesen sein."

„Das war er", nickt Jimin bestätigend und kann nicht verhindern, dass sich wieder Tränen in seinen Augen sammeln. „Das war er", sagt er erneut, weil es nichts anderes gibt, das es noch über seine Lippen schafft. Alle anderen Worte sind zu groß, zu schwer, zu bedeutsam.

Ihr Gespräch wird kurzzeitig unterbrochen, als sich eine Tür öffnet und tapsige Schritte zu hören sind. Kurz darauf bleiben sie stehen und ein vorsichtiges Klopfen ertönt. Die Antwort können sie nicht hören, aber dafür bekommen sie mit, wie kurz darauf erneut eine Tür geöffnet wird, dann kleine Schritte, dann wieder nichts. Für einen Moment lauschen sie noch alle gemeinsam in die Stille hinein, aber es ist nichts mehr zu hören. Yoongi ist nun bei Taehyung. Jimin weiß nicht, wie das Gespräch ablaufen wird, aber er ist froh darüber, dass auch der Ältere für seinen Freund da ist. Dass sie sich alle umeinander kümmern. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass die beiden Menschen, die er liebt, einander nicht egal sind. Es vertreibt ein wenig die Schatten, die sich in seinem Kopf seit gestern ausgebreitet haben, und ersetzt sie durch Wärme. Jimin seufzt erneut. Neuerdings ist das wohl das einzige Geräusch, welches er von sich geben kann.

„Es ist in Ordnung zu trauern", versichert ihm Hoseok, nachdem sie sich sicher sind, dass Yoongi nicht direkt wieder von Taehyung aus dem Gästezimmer verwiesen wird, „aber das bedeutet nicht, dass alle anderen Gefühle plötzlich nicht mehr da sind. Oder, dass du sie nicht mehr zulassen darfst. Es ist okay, zu trauern und gleichzeitig... verliebt zu sein... oder was immer das ist. Es ist in Ordnung. Du darfst alles gleichzeitig fühlen. Wenn du dich nur auf die Trauer konzentrierst, frisst sie dich auf. Und dann wirst du sie vielleicht nie mehr los..."

„Hyung", schluchzt Jimin und versucht es als Räuspern zu tarnen. Keine Chance. Ein wissender Blick trifft ihn gleich von beiden Seiten. „Seit wann bist du denn so weise geworden?"

„War ich schon immer", behauptet der Angesprochene.

„Davon träumst du."

„Nun, was soll ich sagen... Dann hat es wohl die Großstadt aus mir gemacht."

„Es geht dir gut hier, oder?", erkundigt sich Jimin viel zu spät, aber besser spät als nie und deutet mit einem vagen Kopfnicken in Richtung der restlichen Wohnung. Es ist falsch, diese Frage erst jetzt zu stellen, nachdem sie schon einen ganzen Tag lang seine Gastfreundschaft in Anspruch genommen haben, aber er kann es jetzt nicht mehr ändern.

„Es geht mir gut", bestätigt Hoseok. „Und euch wird es auch wieder gut gehen. Auch, wenn es sich gerade nicht danach anfühlt... Wir kriegen das hin. Ich bin mir sicher."

„Wir schaffen das", bestätigt auch Jungkook und hält triumphierend eine der CDs in die Höhe. „Wenn du denkst, dass sie schon gut aussehen, dann warte ab, bis du sie hörst... Alter. Ich hab' meinen Bruder noch nie so gehört. Nicht mal im Shadow. Ich glaub', ich hab' noch nie irgendjemanden gehört, der so gut ist."

„Er hat der Welt viel zu geben...", murmelt Jimin.

„Ihr", korrigiert Hoseok. „Ihr habt der Welt viel zu geben. Ja, Yoongi ist gut, aber ohne euch hätte er es nicht geschafft."

„Das hätte er...", widerspricht wiederum Jimin, der in seiner Weltschmerztrauer nicht sehen kann, dass er besonders viel bis hierhin beigetragen hat. Eigentlich hat er mehr das Gefühl, dass immer nur die anderen etwas gemacht haben, während er nutzlos daneben gestanden hat.

„Das hätte er nicht", entscheidet Jungkook und seine Stimmlage gibt klar wieder, dass die Diskussion an dieser Stelle beendet ist. Wie ein Richter, der sein Urteil spricht. Ob er das im Jurastudium gelernt hat? Seiner Stimme diesen pointierten Touch zu geben?

„Ich hab' schon öfter mit Hyung gesprochen", elaboriert Jungkook, „über die Möglichkeit aus Daegu wegzugehen. Vor den Kkangpae zu flüchten. Wo anders neu anzufangen. Es ist nicht so, als wäre mir die Option nie bewusst gewesen, aber... für Yoongi war sie das nicht. Er hat sich immer geweigert, das Gespräch mit mir zu führen. In meiner Zukunft hat er immer Chancen gesehen, wisst ihr? Und hat Pläne für mich gemacht. Was okay war, versteht mich nicht falsch. Es war zwar ein bisschen einengend, aber es hat ihn glücklich gemacht. Es war schön zu sehen, wie zufrieden er dabei aussah... aber... er hat halt nie Pläne für sich selbst gemacht. Hat nie eine Zukunft für sich gesehen. Für ihn gab' es immer nur die Jo-Pok Pa. Dass wir jetzt geflohen sind... dass Hyung es jetzt geschafft hat, das Ganze hinter sich zu lassen, es zumindest zu versuchen, das ist alles euer Verdienst."

Jungkook schluckt und die nächsten Worte scheinen ihm nur sehr schwerfällig von der Zunge zu rollen. Er bringt sie trotzdem über die Lippen und blickt Jimin dabei direkt an.

„Yoongi hatte nichts. Ihr habt ihm einen Traum gegeben. Ihr habt ihm einen Grund gegeben, endlich Daegu zu verlassen und für sich selbst zu kämpfen. Das ist mehr... Das ist alles, was ich jemals für ihn wollte. Ich kann nicht sagen, wie dankbar ich euch bin."

„Ich bin verliebt in ihn", platzt Jimin auch ihnen gegenüber raus. Es ist kein Geheimnis mehr, aber es fühlt sich trotzdem immer noch seltsam an, es laut auszusprechen. Jungkook und Hoseok bedenken ihn mit einem sanften, aufmunternden Lächeln. „Aber... ich weiß nicht, was er empfindet. Ich hab' mit Taehyung gesprochen und... ich kann ihn nicht verlassen, wisst ihr? Ich liebe ihn. Fuck. Es ist alles so verdammt kompliziert... Ich hab' keine Ahnung, wie das ausgehen soll."

„Nun, wir werden es schon bald herausfinden, oder?", lächelt Hoseok. 

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Die Buchversionen sind bereits auf dem Weg zu mir und sollen nächste Woche bei mir ankommen. Ca. 5 Stück sind noch übrig. 

Vielen Dank euch allen fürs Lesen und eine ruhige Adventszeit. <3
Drücke euch! 

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