kapitel 17; ausweg finden

Heute ist der schlimmste Tag der Woche.

Und das liegt nicht nur daran, dass ihre Klingel kaputt ist. Ganz so, als wäre es schon zu viel verlangt, dass in diesem beschissenen Wohnblock auch nur irgendetwas mal funktioniert.

„FICK DICH, DU WICHSER", brüllt Jimin deswegen als Antwort, als es an ihrer Haustür klopft.

Der schlimmste Tag der Woche begründet sich darin, dass heute übermorgen ist. Das Übermorgen, von dem Yoongi gesprochen hat, als er Jimin gestand, was die Jo-Pok Pa von ihm verlangen. Der Überfall auf das Waffenlager der Geon-Dal Pa... Er wird nicht am frühen Nachmittag stattfinden, oder? Sie werden ihn nicht am helllichten Tag losschicken. Jimin hat also noch Zeit. Ein paar Stunden nur noch. Also muss er sich dringend überlegen, wie er Yoongi von seinem wahnwitzigen Vorhaben abbringen kann

Es klopft erneut.

„HAU AB", schimpft Jimin lautstark. Er liegt noch im Bett und besitzt absolut keine Motivation, sich zu bewegen. Taehyung ist nicht zuhause, er selbst erwartet keinen Besuch und er muss nachdenken. Darüber, wo er Yoongi finden kann. Sie haben nie darüber gesprochen, wo er wohnt. Yoongi war so oft bei ihnen, aber Jimin war nie bei ihm zuhause gewesen. Er hätte darauf bestehen sollen, dass sie sich nicht immer nur in Dalseo-gu oder im Café treffen. Vielleicht würde sich Jimin dann jetzt gerade nicht so hilflos fühlen.

Das nächste Klopfen an der Haustür.

„ALTER, VERPISS DICH", knurrt Jimin bis auf die Knochen genervt, aber seine Reaktion bewirkt nur das reine Gegenteil. Das Klopfen wird lauter und eingängiger. Beinahe wie ein Rhythmus und Jimin flucht im gleichen Takt mit ihm.

„WAS VERSTEHST DU NICHT DARAN, DASS DU ABHAUEN SOLLST? DU BLÖDER, KLEINER FICKER, HAST DU NICHTS BESSERES ZU TUN ALS MIR AUF DEN SACK ZU GEHEN – ICH SCHWÖRE..." Jimin schlägt die Bettdecke zurück und quält sich aus dem Bett hervor, weil er so aggressiv ist, dass er den ungebetenen Gast nicht nur durch die geschlossene Tür hinweg anschreien möchte. Da will jemand, dass er die Tür öffnet? Kann er haben. Jimin wird ihm sein beschissenes Gesicht damit einschlagen, bis er sich nie wieder traut, eine Tür auch nur noch anzusehen.

Mit determinierten Schritten stakst Jimin zur Tür. Mit mehr Kraft als nötig drückt er die Klinke herunter und reißt sie auf. Er will gerade zur Fortsetzung seiner Schimpftirade ansetzen, als...

„Oh."

„Hi", sagt Yoongi. Seine Hand ist noch erhoben, als wolle er gerade zum nächsten Klopfzeichen ansetzen. Sie zittert wie verrückt und als er sie runternimmt, versteckt er sie in der gleichen Bewegung in seinen Hosentaschen. Jimin kann nicht anders, als der Bewegung zu folgen. Es ist leichter, als Yoongi ins Gesicht zu blicken.

Seit zwei Tagen haben sie sich nicht gesehen. Yoongi ist nicht mehr im Café aufgetaucht. Sein geheimnisvoller Zettel war die letzte Botschaft, die er Jimin hinterlassen hat. Auf die zahlreichen WhatsApp-Nachrichten hat er sich natürlich nicht gemeldet und Jimin eiskalt geghostet. Kein Wunder, dass er zu 0,00% damit gerechnet hat, ihn nun vor ihrer Haustür vorzufinden.

Jimin schweigt. Er erwidert nicht einmal die Begrüßung, sondern verschränkt vor lauter Bockigkeit, Starrsinn und Verletztheit die Arme vor dem Körper.

„Tae–", probiert Yoongi einen Gesprächsanfang zu finden, aber muss sich noch einmal räuspern, bevor er fortsetzen kann. Die dunkle, kratzige Stimme jagt die obligatorische Instant-Gänsehaut über Jimins Körper, ganz unabhängig davon, wie wütend er gerade auf sein Gegenüber ist. Ob sich das jemals ändern wird? Vermutlich nicht.

„Taehyung hat... Er hat mir geschrieben, dass ich herkommen soll?", erklärt sich Yoongi und wirkt dabei nicht einmal selbst sonderlich überzeugt.

„Ist das eine Frage?", erkundigt sich Jimin daher und beißt sich auf die Zunge, um nicht eintausend bittere Worte hinterher zu schicken. Sowas wie so einfach? Taehyung sagt dir, dass du herkommen sollst und du KOMMST? Warum antwortest du dann nicht, wenn ich dich frage, wo du bist??

„Nein." Yoongi räuspert sich noch einmal und vergräbt die Hände noch tiefer in den Taschen seiner löchrigen Jeanshose. Sie rutscht dabei ein Stück nach unten und offenbart einen schmalen Streifen heller Haut. Jimin schnaubt. Empört von der Frechheit dieser Geste.

„Er hat mir wirklich geschrieben", wiederholt Yoongi leise.

Nicht, dass Jimin es bezweifelt hätte. Aber eine gewisse Rest-Hoffnung war trotzdem vorhanden, dass Yoongi die mysteriöse Nachricht vielleicht nur als Ausrede vorschiebt, um mit Jimin reden zu können. Es ist ja nicht so, als hätten sie nicht auch einiges miteinander zu besprechen...

„Taehyung ist nicht da", erwidert Jimin vor verletztem Stolz kurz angebunden. Sie stehen immer noch an der Haustür und die Situation zwischen ihnen ist noch nie so awkward gewesen. Nicht einmal dann, als Yoongi noch ein Phantom und Jimin nur sein Kellner gewesen ist.

„Oh", macht sein Gegenüber überrascht und dann nochmal mit kurzer Verzögerung: „Oh."

Oh-oh, denkt auch Jimin und verdreht innerlich die Augen.

„Dann komm ich später nochmal wieder?", schlägt Yoongi vor.

Später?! Welches Später? Später, wenn die Geon-Dal Pa dich mit Kugeln durchlöchert haben wie einen Schweizer Käse?

Selbst Jimins innere Stimme klingt mittlerweile besorgt. Was ein eindeutiges Anzeichen dafür ist, wie ernst die Lage gerade ist.

Wie immer sagt er nicht laut, was sie ihm vorgibt. Stattdessen entscheidet er sich für ein simples: „Nicht nötig", auch wenn ein Teil von ihm gerne hart bleiben würde. Weil er nun mal verletzt ist. Weil Yoongi nicht auf seine Nachrichten reagiert, aber kommt, wenn Taehyung ihm schreibt. Weil Yoongi weggegangen ist, nachdem Jimin ihm seine Gefühle gestanden hat. Aber er ist nunmal in Yoongis Gegenwart immer zu weich und weiß generell nicht, ob er über ihre momentane Situation lachen oder weinen soll. Er wollte Yoongi näherkommen. Jetzt sind sie so weit wie noch nie voneinander entfernt.

Yoongis Augen kleben auf dem Fußboden fest, schweifen unruhig in ihren Höhlen umher und tun alles, um Jimins direkten Blick zu vermeiden. Seine Hände imitieren die Bewegung und ringen ebenfalls miteinander. Man kann es selbst durch den dicken Stoff der Hose deutlich erkennen. Nicht, dass Jimin absichtlich dort hingucken würde, nur weil ein schmaler Streifen Haut zu sehen ist. Quatsch. Er möchte lediglich ebenfalls dem direkten Blickkontakt mit Yoongi entgehen.

„Du kannst auch drin warten", bietet Jimin also an und tritt einen Schritt zur Seite, um den Weg freizumachen.

Es ist Yoongi deutlich anzusehen, dass er gedanklich Pro und Contra gegeneinander abwägt und als er im Begriff dazu ist, den Kopf tatsächlich zu schütteln, unterbricht Jimin ihn schon, bevor er die Bewegung überhaupt ausführen kann: „Komm rein, Yoongi, bitte."

Eigentlich fühlt er sich nicht nach Bitten, sondern viel mehr nach Abblocken und Sturbleiben, aber das ist albern oder nicht? Es bringt sie keinen Schritt voran. Außerdem will Jimin vielleicht nicht sehen, wie Yoongi noch einmal vor ihm wegläuft. Sie haben schon so viel Zeit miteinander verbracht. In dieser Wohnung. Im Serendipity. Gegenübersitzend an einem Tisch. Jetzt werden sie ja wohl auch noch ein paar weitere Minuten miteinander verbringen können, ohne dass jemand von ihnen weglaufen muss oder sie die puffernde Präsenz von Taehyung zwischen sich brauchen.

Yoongi bewegt sich immer noch nicht. Er sagt auch nichts. Hebt nicht einmal seinen Blick.

„Wir brauchen auch nicht darüber reden", versucht Jimin es erneut, weil er weiß, dass es das ist, was Yoongi zögern lässt. Seine Worte zerreißen ihn innerlich, aber das ist es, was wir tun, wenn wir jemanden lieben. Wir stellen seine Bedürfnisse über unsere eigenen. Ich will nicht darüber urteilen, ob das so richtig ist oder so sein sollte. Vermutlich nicht. Aber Realität ist es nun mal trotzdem.

Denn Jimins Bedürfnisse schreien ganz eindeutig nach Kommunikation. Nach: REDE MIT MIR und was ist mit deinem Auftrag? Wann geht es los? Was hast du vor? Bitte tu's nicht und ich soll dich nicht aufgeben, dann bitte lauf nicht vor mir weg, was bedeutet das überhaupt, dich nicht aufgeben? Jimin möchte über all das reden. Und auch darüber, ob der weiße Palast aus Papierservietten wirklich so zerbrechlich ist, wie Jimin ihn sich vorstellt.

„Das ist es nicht", sagt Yoongi leise und zögert weiterhin.

„Was ist dann?", fragt Jimin, der sich nicht vorstellen kann, mit seiner Vermutung falsch zu liegen.

„Es ist nur so, dass...", beginnt Yoongi, aber schafft es nicht, den Satz zu vollenden. Er unterbricht sich selbst. „Egal", sagt er stattdessen. „Egal. Ich warte mit dir drinnen."

Es ist nur so – wie?, stellt Jimin zumindest gedanklich die Frage, die ihm auf der Zunge liegt. Aussprechen tut er sie nicht, während er beobachtet, wie Yoongi mit vorsichtigen kleinen Schritten an ihm vorbeischleicht. Im Mini-Flur streift er seine Schuhe ab und geht nahtlos weiter in Richtung Wohnzimmer. Jimin schließt die Tür hinter ihm, geht ins Badezimmer und kontrolliert, ob der Wasserhahn tropft (tut er nicht, aber er wickelt trotzdem sicherheitshalber ein Handtuch darum) und folgt ihrem Gast dann ins Wohnzimmer.

Yoongi steht vor dem Fenster, das keine Aussicht hat und trotzdem eine Aussicht bietet. Jimin lässt sich auf die Couch in seinem Rücken sinken und sagt nichts. Er hat genug gesagt und jetzt versprochen, es nicht zu tun. Er wird sich an sein Versprechen halten, auch wenn es so wie? ist. Zu gerne würde er wissen, was Yoongi ihm gerade sagen hat wollen, aber nicht sagen hat können.

Es vergehen Minuten, in denen sie miteinander schweigen. Yoongi bewegt sich nicht einmal, wenn man von dem Zittern, das nun auch seine Schulterpartie ergriffen hat, absieht. Jimin kontrolliert zwischenzeitlich sein Handy (keine neuen Nachrichten) und schreibt deswegen seinerseits eine kurze Mitteilung an seinen Freund.

[Jimin]
Yoongi ist hier. Du hast gesagt, er soll herkommen? Warum??

[Jimin]
Wann kommst du???

Die Antwort fällt zwar kurz und knapp aus, lässt aber glücklicherweise nicht lange auf sich warten.

[Chap <3]
omw, hat länger gedauert, sry, bg

Taehyung mit seinen Gamingkürzeln. Zu Beginn ihrer Beziehung hat Jimin seine Nachrichten manchmal kaum verstanden. Jetzt übersetzt er sie fließend wie ein native speaker: Ich bin unterwegs, es hat länger gedauert. Sorry, bis gleich.

Kurz überlegt er, ob er Yoongi über die Nachricht in Kenntnis setzen soll, erinnert sich dann aber daran, dass er die Situation aussitzen wollte. Er hat angeboten, dass sie nicht darüber reden müssen. Also soll Yoongi entscheiden, worüber er dann sprechen möchte. Außerdem besitzt er selbst ein Handy. Er könnte Taehyung selbst schreiben, wenn er wollte. Nur macht er keine Anstalten, sich heute noch einmal bewegen zu wollen.

„Das ist neu...", flüstert Yoongi schließlich tonlos. Jimin hätte es überhört, wenn nicht alle seine Sinne auf die Stimme des Älteren gepolt wären.

„Taehyung hat es gemalt", erklärt er und ist einfach nur froh über den Gesprächsansatz. Die Stille hat ihn nervös gemacht, unruhig. Sein gesamter Körper kribbelt unbehaglich. „Wir haben letztens darüber gesprochen, was wir uns wünschen und... Ich habe gesagt, dass ich mir eine Aussicht wünsche. Taehyung hat mir deswegen eine gemalt."

Eine Antwort darauf erfolgt natürlich nicht. Jimin facepalmt sich innerlich. Was hat er jetzt schon wieder Falsches gesagt? Wie kann es sein, dass sie sich mittlerweile seit Monaten kennen und trotzdem kaum mehr ein anständiges Gespräch auf die Reihe bekommen? In vielen Situationen hat Jimin gelernt, mit der schweigsamen Art von Yoongi umzugehen. Er braucht nicht auf jede Aussage eine Antwort... Nur manchmal wäre es halt trotzdem schön. Wie jetzt zum Beispiel.

Stattdessen zittern Yoongis Schultern nur noch stärker. Jimin beobachtet ihn besorgt. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er fast vermuten, dass Yoongi... weint?

Nun ja. Stumme Fragen bringen nun mal keine Antworten und nachdem Yoongi die Stille zwischen ihnen zuerst gebrochen hat, fühlt sich Jimin jetzt auch wieder berufen dazu, die Gesprächsinitiative an sich zu nehmen. Deswegen wiederholt er laut: „Weinst du?"

„N-nein...", ist die brüchige Antwort und gemessen an dem 99,9%-Wasseranteil in jedem einzelnen Buchstaben ist sie höchstwahrscheinlich gelogen.

Jimin formuliert daher noch einmal um.

„Warum weinst du?", fragt er jetzt und es ist wohl wirklich die Version, die eher eine Antwort verdient.

„Er-er... hat d-dir eine Aus-aussicht g-geschenkt...", kommen die Worte zittrig über Yoongis Lippen.

Jop. Und Jimin findet's selbst auch zum Heulen, dass sie an eine Backsteinmauer des Hauses nebenan gemalt werden muss, damit sie überhaupt eine haben können. Im realen sowie auch im übertragenen Sinne. Trotzdem ist er sich ziemlich sicher, dass nicht das der Grund dafür ist, der Yoongi zu Tränen rührt.

„Er hat es zumindest probiert", erwidert Jimin nachsichtig und mit einer Sanftheit in der Stimme, die nur für die Menschen reserviert ist, die er liebt. Ja. Wut und Enttäuschung sind ziemlich starke Emotionen, aber Liebe ist stärker. Wenn wir wollen, dann ist Liebe immer stärker. Sie gibt Jimin auch jetzt die Kraft dazu, seine negativen Gefühle zu verdrängen und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist. Das vorsichtige Herz von Yoongi mit einer flapsigen Antwort nicht noch weiter zu verschrecken. Und ihm zum Umdenken zu bewegen.

Er überlegt, aufzustehen und Yoongi zu umarmen. Trost zu schenken. Aber er geht davon aus, dass das zu weit führen würde. Manchmal ist es leichter, Worte auszusprechen, wenn da zumindest eine körperliche Distanz zu der Person besteht, zu der wir sie sagen wollen. Eine Umarmung kann dazu führen, dass alle Dämme brechen. Und an den erstickten Versuchen, Luft zu holen, erkennt Jimin, dass Yoongi nicht bereit dazu ist, den Damm brechen zu lassen. Stattdessen versucht er mit aller Kraft, die Schutzwand zu verstärken.

Es dauert, aber schließlich schafft Yoongi es, genug Luft in seinen Lungen zu sammeln. Die erstickten Laute verklingen und das unterdrückte Wimmern verstummt. Er nutzt die Verschnaufpause, um fortzusetzen. Ungläubig, aber auch ein wenig trotzig. Yoongi fragt: „D-du hast dir eine Aus-aussicht gewünscht und er hat d-dir ein beschissenes... ein beschissenes Portrait an die W-wand geklatscht?"

„Also beschissen würde ich es jetzt nicht nennen..."

„Es ist g-großartig", unterbricht Yoongi, bevor Jimin seine sarkastische Äußerung vollenden kann. „Es ist... Fuck. Es ist scheiße... w-wunderschön."

Die Worte schweben zwischen ihnen und bleiben in der Luft stehen. Es ist nicht alles, was Yoongi sagen will. Das spürt Jimin anhand der Schwere im Raum, die auf ihnen lastet wie die Schwüle vor einem Sommergewitter. Sie ist es, die das Atmen schwer macht. Solange Atmen so schwer ist, ist nie das gesagt worden, was hätte gesagt werden sollen.

„Das ist es", stimmt Jimin ihm zu und wartet weiterhin geduldig ab.

Das nächste Beben jagt durch Yoongis Körper. Seine Schultern erzittern hilflos vor sich hin, dem Gewicht der Naturkatastrophe ganz eindeutig nicht gewachsen. Er gibt dabei keinen Ton von sich, bewegt sich nicht von der Stelle. Der Zusammenbruch, der sich gerade vor Jimins Augen abspielt, hat nichts mit der Situation in ihrem Badezimmer gemeinsam. In der war Yoongi nicht mehr ansprechbar. sondern ist zusammengesunken, in seinem Kopf versunken und hat Silben-Worte-Reime vor sich hergesagt, um wieder daraus aufzutauchen. Jetzt ist es anders. Yoongi ist nicht weg, nicht geistig abwesend. Stattdessen versinkt er im Hier und Jetzt und versucht, dabei nicht zu ersticken.

„Er... Er l-liebt dich so-so s-sehr", regnet es von Yoongis Lippen, „und du-du..."

„Und ich liebe ihn auch."

Die Worte bewirken, dass ich Yoongi in Sekundenschnelle zu ihm herumdreht. Es ist das erste Mal für diesen Tag, dass sein Blick den von Jimin fängt. Sie starren sich an und... tatsächlich. Yoongi weint nicht. Zumindest nicht auf die klassische Art, nicht so, wie man es sich vielleicht vorstellen würde. Doch seine Hände zittern, seine Schultern gewittern und seine Augen sind rot unterlaufen, aber... es laufen keine feuchten Spuren über seine Wangen. Das Salz befindet sich nicht im Wasser, sondern in seiner Stimme und auf seinen Worten. Er ist der erste Mensch, den Jimin sieht, der ohne Tränen weinen kann.

„D-du l-liebst mich", entgegnet Yoongi diesmal sofort und es klingt wie ein Vorwurf. „D-du hast gesagt, dass du mich l-liebst. I-ch hab es kaputt g-gemacht."

„Ich bin in dich verliebt", betont Jimin und weiß nicht, ob es sich lohnt, den Unterschied zwischen verliebt sein und lieben hervorzuheben. Eigentlich hat Yoongi Recht. Es fühlt sich zumindest so an. Er liebt ihn auch.

„Macht d-das einen Unterschied?", fragt Yoongi berechtigterweise und Jimin muss kopfschüttelnd zugeben: „Ich glaube nicht."

Das veranlasst Yoongi nur dazu, seine vorherigen Worte zu wiederholen: „Ich hab' es k-kaputt gemacht..."

Bevor Jimin ihn fragen kann, was genau das bedeuten soll und ihm versichern kann, dass Yoongi eben das nicht getan hat – er hat nichts kaputt gemacht – schiebt sich ein Schlüssel in das Schloss der Haustür in ihrem Flur. Die Pappmascheewände transportieren das Geräusch ungefiltert bis ins Wohnzimmer.

„Sorry Leute", hört man Taehyung sagen, bevor man ihn sieht. Kurz darauf schiebt sich ein dunkler Lockenkopf zu ihnen ins Wohnzimmer. Taehyung überblickt die Situation schnell, sieht wohl auch, dass Yoongi ohne Tränen weint und Jimin davor ist, etwas zu erklären, dass er selbst nicht formulieren kann. Natürlich erkennt Taehyung, dass der Moment zwischen ihnen bedeutsam ist. Trotzdem entscheidet er sich dazu, die Sommergewitterluft zu ignorieren. Stattdessen sagt er unverfänglich: „Ich hab' mich echt beeilt, aber ich wurde richtig dumm aufgehalten und... erzähl' ich gleich. Dafür hab' ich Essen mitgebracht."

Und danach, als ihm nur eine Wand aus Schweigen entgegenschlägt, etwas weniger unverfänglich: „Außerdem... wir müssen reden."

Jimin nickt, aber sein Blick hält weiter an dem von Yoongi fest. Deswegen kann Jimin auch genau sehen, wie Yoongi auch die letzten Löcher in seinem inneren Damm verschließt. Vollkommen dicht macht. Was auch immer Jimin gerade im Begriff war zu erfahren, die Chance ist jetzt vorbei.

⊱ ────── ⋅❅⋅ ───── ⊰

Die Nudelboxen stehen halb aufgegessen auf dem niedrigen Wohnzimmertisch herum. Die unangenehme Stimmung zwischen ihnen hat jeglichen Appetit vernichtet. Die wenigen Bissen haben sie nur aus Höflichkeit genommen und sich dabei beharrlich angeschwiegen. Taehyung hat sich geweigert zu erzählen, was es zu erzählen gibt, bevor sie nicht gegessen haben. Jetzt stecken die Stäbchen in den Essensresten und niemand fühlt sich so richtig dazu berufen, Ordnung zu machen. Der Geruch nach Jajangmyeong hängt überall in der Luft und macht sie zum Schneiden dick. Jimin schafft es nicht einmal aufzustehen, um das Fenster zum Lüften zu öffnen.

Durch die Wände dringen die Geräusche der Nachbarwohnungen. In der Stille, die in ihrem Wohnzimmer herrscht, sind sie überdeutlich zu vernehmen. Aus der einen Richtung ertönt das Geschrei von einem Baby. Aus der anderen hört man dumpfes Klatschen von Haut auf Haut und unterdrücktes Keuchen. Es ist nicht zu unterscheiden, ob die Nachbarn ficken oder jemand verprügelt wird. So oder so – es ist ziemlich unangenehm. Yoongis Gesichtsausdruck sieht danach aus, als würde seine baldige Hinrichtung auf ihn warten. Vielleicht waren die Nudeln seine Henkersmahlzeit.

Dafür, dass Taehyung ihre Runde einberufen hat, ist er erstaunlich schweigsam. Er hat diese große Ankündigung gemacht, wieder mit den Worten, die niemand hören will, nur um sich daraufhin neben Jimin auf die Couch zu setzen, die Essensboxen auszupacken und in schweigsamer Gesellschaft zu essen.

Jimin weiß, dass es so etwas wie Taehyungs Devise ist. Dass er schwierige Gespräche nicht mit einem leeren Magen auf sich nehmen will. Seine Überzeugung, dass manche Gespräche jede Kraft brauchen, die sie vorab bekommen können. Es ist eine der hunderten Eigenheiten, die Taehyung so besonders machen. Vor allen Dingen für Jimin. Er hat sich in jede einzelne von ihnen verliebt. In manche direkt. In andere erst Jahre später. Trotzdem macht das die Situation gerade nicht einfacher.

Erst als das Baby nebenan endlich aufhört zu schreien, beginnt Taehyung zu sprechen. Es ist, als hätte er nur auf diesen Moment gewartet und er sagt wieder: „Wir müssen reden", als wäre das nicht ohnehin schon klar gewesen.

„Das sagtest du bereits", macht Jimin ihn darauf aufmerksam.

Taehyung nickt bestätigend, lehnt sich dann zurück und zieht die Beine mit auf die Couch, winkelt sie an. Seinen Oberkörper dreht er so, dass er sie beide, Yoongi und Jimin, gleichermaßen im Blick hat. Als er tief einatmet, wird schnell klar, dass es eine etwas längere Erzählung wird.

„Es gibt Probleme", beginnt er. Yoongi will ihn daraufhin unterbrechen und ins Wort fallen, aber Taehyung blockt ihn mit einer Handbewegung und einem tiefen Blick ab. Später, sagen seine Augen.

„Ich war in den letzten Tagen viel mit Namjoon unterwegs, meinem Bruder – RM. Du müsstest ihn kennen, Yoongi?"

Der Angesprochene nickt bestätigend und Taehyung setzt fort: „Okay... Okay. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, aber... die Jo-Pok Pa stehen gewaltig unter Druck. Ihr habt's sicher beide schon mitbekommen. Sie scharren alle Anhänger um sich herum, die sie nur irgendwoher bekommen können und... die Situation eskaliert bald. Die Geon-Dal Pa hätten nicht nach Daegu kommen dürfen. Damals schon nicht. Die Stadt ist seit Jahren Gebiet der Jo-Pok Pa und dass sie infiltriert wurde, hat ihnen damals schon nicht gepasst. Aber sie haben versucht, eine friedliche Lösung zu finden, als sie bemerkt haben, dass sich die Geon-Dal Pa nicht einfach so vertreiben lassen. Sie haben also ein paar kleinere Bezirke an die feindlichen Kkangpae abgegeben, um ein großes Blutvergießen und Straßenkämpfe zu vermeiden. So weit ist die Geschichte sicherlich bekannt, ja?" Taehyung blickt rückversichernd in die Runde und nickt zufrieden die positiven Reaktionen seiner Gesprächspartner ab.

„Nun... die Geon-Dal Pa haben sich nicht an ihren Teil der Abmachung gehalten. Ihr habt's in Nam-gu selbst mitbekommen. Nam-gu ist eigentlich kein Gebiet der Geon-Dal Pa und trotzdem haben sie es besetzt. Aber das ist nicht alles. Es hat sich herausgestellt, dass sie expandiert sind in den letzten Wochen, vielleicht sogar Monaten. Im Untergrund und so unauffällig, dass es nicht weiter aufgefallen ist. Und ja, es gab Gerüchte und Leute haben geredet, aber... es wurde nicht ernst genommen. Zumindest nicht ernst genug. Und als Größenwahn von einigen feindlichen Kkangpae aufgefasst, die man noch nie ernst nehmen konnte... Aber scheinbar war's nicht nur Größenwahn. Momentan ist davon auszugehen, dass die Geon-Dal Pa ihr Vorgehen noch für die nächsten Wochen geplant haben. Das mit Nam-gu hätte so früh nicht auffallen dürfen. Sie wollten ihre Strukturen, ihr Netzwerk und ihre Verbündeten ausweiten, bevor sie offiziell die Kontrolle über weitere Stadtbezirke an sich nehmen. Dein Auftritt, Yoongi, war wohl daher sowas wie ein... Glücksfall? Wenn man's denn so bezeichnen will... Zumindest für die Jo-Pok Pa. Du musst jemanden von den Typen gekannt haben, oder? Die da Ärger gemacht haben? Ist das richtig?"

Yoongi nickt wiederum bestätigend und hält seine Erklärung kurz: „Bang Chan. Er ist auch ein Dealer. Für die Geon-Dal Pa. Wir sind schon ein paar Mal aneinandergeraten, weil sich unsere Gebiete überschneiden."

Jimin will nachhaken und fragen, was passiert ist, was genau es heißt – aneinandergeraten – und warum Yoongi ihm nicht schon im Café erzählt hat, dass dem Angriff im Shadow auch persönlich begründete Motive inne gelegen haben. Aber jetzt nicht. Es ist nicht die richtige Zeit. Nicht der richtige Ort. Und Taehyung setzt bereits dazu an, seine Geschichte fortzusetzen.

Er sagt: „Die Geon-Dal Pa waren nicht allzu begeistert von dem Verhalten ihres Dealers. Um nicht zu sagen, sie waren überhaupt nicht begeistert von seinem Alleingang. Sie haben sich von den Aussagen von Bang Chang distanziert und offiziell dementiert, dass sie einen Anspruch auf Nam-gu erheben. Bang Chan wurde für seinen 'Verrat' – entgegen der Prinzipien der Geon-Dal Pa zu handeln – von seinem Rang verwiesen und öffentlich bestraft. Die ganze Prozedur war nicht nur höchst ungewöhnlich, sondern auch einfach verdammt ekelhaft. Und... heuchlerisch. Namjoon hat der Show keine einzige Minute lang geglaubt, also hat er Nachforschungen angestellt. Wir haben Nachforschungen angestellt, denn man kann den großen Tollpatsch echt nicht alles allein machen lassen. Und siehe da: Es kam recht schnell dabei raus, dass die Geon-Dal Pa wohl doch eine Machtübernahme im großen Stil planen und nur versucht haben, es mit der ekelhaften Schmierenkomödie um Bang Chan zu vertuschen. Und jetzt ratet, welches Stadtgebiet die Geon-Dal Pa zuerst übernehmen wollen?"

„Dalseo-gu", haucht Yoongi und es ist tonlos.

„Aber", wirft Jimin sofort ein, „haben die Jo-Pok Pa sowas nicht schon geahnt? Die Extraschichten von Wonho, die ständigen Erhöhungen der Schutzgelder. Waren das keine... Indizien?"

„Ich sag ja, es gab Gerede. Wilde Vermutungen. Sicherlich hat man Wonho darauf angesetzt, dass er mehr herausfinden soll. Und die Erhöhungen vom Schutzgeld? Da waren die Gerüchte doch eine höchstwillkommene Ausrede, um noch mehr Geld zu verdienen... Das hatte nichts mit einer ernstgemeinten Vermutung zu tun. Dabei ging's nur um den Profit der Jo-Pok Pa. Jetzt ist es natürlich gut, denn sie können es als gerechtfertigt verkaufen. Als Rüsten für den Ernstfall oder so 'ne Scheiße. Aber nur, weil der Ernstfall jetzt eingetreten ist."

„Deswegen auch mein Auftrag", schlussfolgert Yoongi richtig. Er sitzt auf dem Boden, auf der anderen Seiten ihres niedrigen Wohnzimmertisches und blickt mit ernsten Augen zu ihnen hinauf.

„Deswegen dein Auftrag jetzt", bestätigt oder korrigiert Taehyung. Jimin ist sich nicht ganz sicher.

Sein Freund führt aus: „Der Auftrag war eigentlich langfristig geplant, vielleicht sogar sowas wie ein Notfallplan. Keine Ahnung, inwiefern genau. Aber jetzt wollen sie es nicht länger aufschieben. Jimin hat mir schon erzählt, dass du es heute tun sollst und Namjoon hat es eben nochmal bestätigt. Die Jo-Pok Pa wollen schnell handeln, bevor die Geon-Dal Pa begreifen, dass sie aufgeflogen sind und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Zum Beispiel den Erstschlag ausführen oder ihre Sicherheitsvorrichtungen verstärken. In beiden Fällen wären die Jo-Pok Pa die Gearschten. Deswegen wollen sie, dass die Geon-Dal Pa von innen heraus geschwächt werden, solange sie noch gute Miene zum bösen Spiel machen können und es ihnen abgekauft wird."

„Was heißt jetzt?", fragt Yoongi nach.

„Jetzt", wiederholt Taehyung. „Sie werden dich in etwa drei Stunden abholen und ins Hauptquartier bringen. Dann sollst du eine Entscheidung treffen, ob du den Auftrag annimmst oder nicht."

„Fuck", murmelt Jimin vor sich hin. Drei Stunden. Das ist weniger Zeit, als er gehofft hat, die sie noch gemeinsam haben. „Du lehnst ab, oder?", fragt er, weil es das Einzige ist, was sinnvoll ist und Yoongi hoffentlich zwischenzeitlich zu der gleichen Erkenntnis gekommen ist. Die Mission ist selbst langfristig geplant ein reines Himmelfahrtskommando, aber spontan in das größte Waffenlager der Geon-Dal Pa einzusteigen? Da kann Yoongi sich auch gleich die Kugel geben. Läuft im Ergebnis aufs Selbe hinaus.

„Fuck", stimmt Yoongi ihm zu, aber verneinen tut er Jimins Frage nicht. Ähnlich wie im Café. In seinen Augen schwebt der gleiche Ausdruck wie zuvor. Der Ausdruck von 'ich habe keine Wahl'.

Taehyung guckt mitleidig, aber setzt mit ernster Miene fort: „Ehrlich gesagt wissen wir alle, dass du den Auftrag nicht ablehnen kannst... Die Jo-Pok Pa stehen mit dem Rücken an der Wand. Sie wollen handeln und sie wollen schnell handeln. Sie haben keinen Plan B und –"

„Sie können Yoongi doch nicht opfern", wirft Jimin entrüstet ein.

„– und sie sind bereit, dich zu opfern. Selbst wenn du ablehnst, schlagen sie dich vermutlich ohnmächtig, binden dir eine Bombe um und werfen dich anschließend aus dem Auto in das Waffenlager", bringt Taehyung seinen Satz trotzdem zu Ende. Dann wendet er sich wieder Yoongi zu: „Sie werden dir anbieten, dir deine Schulden zu erlassen. Wenn du den Auftrag gleich offiziell und freiwillig annimmst und einwilligst, heute das Lager der Geon-Dal Pa in die Luft zu sprengen, werden sie deine Schulden als getilgt ansehen. Dein Bruder wird nicht weiter behelligt."

„Das kann nicht ihr Ernst sein", ist das Einzige, was Jimin noch schafft zu sagen.

„Es ist ihr Ernst", bestätigt Taehyung leider. „Es ist nur Namjoon zu verdanken, dass ich so viel Einblick in die Interna erlangt habe. Es gibt uns etwas mehr Zeit unsere... Optionen... zu überdenken." Die Worte sind vorsichtig gewählt und zögernd ausgesprochen. An seinem Gesichtsausdruck ist abzulesen, dass er sich selbst fragt, ob sowas wie realistische Optionen überhaupt existieren. Und dass sie vor allem hier sind, um diesen Umstand zu erörtern.

„Welche Optionen?", wirft auch Yoongi schwach, leise und tonlos in das Gespräch mit ein. Er wirkt mutlos und seine Stimme klingt aufgegeben. Jimin hat schon das gleiche Gespräch mit ihm geführt und es zerreißt ihm das Herz, zu sehen, dass sich seitdem nichts geändert hat. Yoongis Hände sind unter seinen Füßen vergraben. Jimin kann das Zittern trotzdem sehen. Der Rest seines Körpers hat sich wieder beruhigt und für einen kurzen Moment bedauert Jimin, dass Yoongi dieses Gespräch offensichtlich leichter fällt. Die körperlichen Reaktionen sind nicht so extrem, nicht so überwältigend, wie vorhin. Wie viel muss einer Person in ihrer Vergangenheit passiert sein, dass es ihr leichter fällt, über ihren anstehenden Tod zu sprechen, als über die Chance auf Liebe? Glück? Über die Aussicht vor ihrem Fenster?

Es ist dieser Moment, in dem Jimin erkennt, dass es nicht die Blutschulden sind, die Yoongi quälen. Auch nicht die Traumschulden, von denen Jimin ihm erzählt hat. Was ihn vor allen Dingen belastet, sind die unheimlich vielen Dinge, die in seiner Vergangenheit passiert sind. Diese Dinge, über die Yoongi nicht sprechen kann, aber die das Flashback im Badezimmer ausgelöst haben. Die Dinge, die dafür sorgen, dass seine Hände immer zittern, seine Kleidung immer dreckig ist und seine Haare blutverfärbt.

Was hab ich gesagt?
Jeder von uns hat Schulden.

Yoongis sind keine Blutschulden. Auch keine Traumschulden.

Es sind Traumaschulden.

Und ein Trauma löst sich nicht auf, indem man noch extremere Situationen wagt. Falls es sich überhaupt auflösen kann. Jimin weißt es nicht. Trotzdem entscheidet er: „Wir machen es nicht." Und zwar im gleichen Moment, in dem Yoongi sagt: „Ich mach's."

Das Blickduell, das sie daraufhin beginnen, kann auf keiner Seite einen Gewinner finden.

„Du kannst nicht für mich entscheiden, was ich tue und was ich nicht tue."

„Ich lasse nicht zu, dass du dich umbringst." Der Unterton in Jimins Stimme ist eindeutig Hysterie.

„Ich bringe mich nicht um", betont Yoongi dezidiert. „Ich nehme den Auftrag der Kkangpae an und werde das Lagerhaus in die Luft sprengen."

„Du wirst versuchen, das Lagerhaus in die Luft zu sprengen. Und du wirst bei dem Versuch sterben!"

„Dann habe ich mich immer noch nicht selbst umgebracht."

„Als würde das irgendetwas besser machen! Du bist dann TROTZDEM TOT!" Jimins Stimme zittert bei der Aussage so stark, wie eben noch Yoongis Schultern gezittert haben. Bei ihm befindet sich das Salz nicht nur auf den Worten, es liegt schon in seinen Augen und läuft ihm in flüssiger Form über die Wangen. Er merkt nicht einmal bewusst, dass er weint. Die Tränen sind nur ein Nebeneffekt des Horrors, der sich gerade in Jimins Gedanken abspielt.

„Vielleicht sterbe ich nicht...", sagt Yoongi leise. Und dann: „Aber selbst wenn... Jungkook könnte frei sein. Er könnte ein freies Leben führen. Er studiert Jura, er ist klug, charmant, sieht gut aus, hat ein gutes Herz... Er kann es weit bringen. Klar, am Anfang wäre er sicher traurig, aber er hat Freunde und...–" Seine Stimme wird gegen Ende hin immer leiser. Es ist, als würde er ein Selbstgespräch führen, in dem er sich selbst von der Legitimation seines Planes überzeugen will. Nur, dass es sie nicht gibt. Es gibt keine Legitimation für den Tod.

„Stop!", unterbricht ihn Taehyung, weil Jimin die Worte fehlen. Sein Kopf schlägt Rad, seine Gedanken machen Handstand und er kann nichts sagen. „Und zu welchem Preis?", fällt Taehyung Yoongi ins Wort. „Zu welchem Preis kann Jungkook dieses gute Leben führen, von dem du sprichst? Für den Preis des Todes seines Bruders? Denkst du wirklich, das ist ein Leben, das er führen wollen würde?! Das er genießen könnte?"

„Ja... also nein... Nein, wahrscheinlich nicht, aber... nach einer Zeit... nach einer Zeit würde er sich mit dem Gedanken abfinden und... sich daran gewöhnen und... nach einer Zeit würde er damit zurechtkommen."

„Würdest du damit zurechtkommen und dich daran gewöhnen, wenn Jungkook von diesem Deal erfährt und vor dir ins Lagerhaus einbricht und bei dem Versuch stirbt?"

„NEIN!", antwortet Yoongi schockiert und bereits bei der bloßen Vorstellung, wird seine Haut leichenblass und der Horror aus Jimins Gedanken spiegelt sich jetzt auch in seinen Augen wider.

„Warum sollte Jungkook das also können?", stellt Taehyung die berechtigte Frage.

„Weil... Weil... Es ist nicht seine Verantwortung."

„Aber es ist deine?"

„Ja... natürlich..."

„Warum?", fragt Taehyung wieder. Nicht verurteilend, sondern mit warmer, weicher Stimme und offenem Blick. So, als wäre er wahrhaftig und aufrichtig an der Antwort interessiert und so, als könnte er sich diese nicht selbst geben.

„Weil ich der Ältere von uns bin."

„Es sind nicht deine Schulden, Yoongi, nur weil du zufällig als erstes geboren wurdest."

„Ich weiß, aber –"

„Kein Aber." Wieder Taehyung. Dann mit etwas mehr Nachdruck in der Stimme. „Es sind nicht deine Schulden. Es sind die Schulden deines Vaters. Niemand sonst sollte dafür aufkommen müssen und niemand sonst sollte sie begleichen müssen. Und das hat dein Vater. Er hat die Schulden verursacht. Er ist dafür gestorben. Das, was die Kkangpae versuchen, dir einzureden, ist Unsinn. Das Konzept von Blutschulden ist veraltet, überholt, es existiert nicht mehr. Wir Kinder dürfen nicht für die Sünden unserer Eltern aufkommen. Nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden. Wir – sind – nicht – die – Fehler – unserer – Eltern. Auch du nicht."

Jimin starrt seinen Freund mit offenem Mund an. Er war schon oft begeistert von Taehyung, aber noch nie so sehr wie jetzt. Er brennt für ihn. Mit offenem Mund und offenem Herzen und er bereut zu keinem Moment die Entscheidung, dass er alles für ihn geben würde.

„Ich m-muss es tun", wiederholt Yoongi kläglich. Seine Stimme ist gebrochen und sein Blick ist jetzt wieder Richtung Boden gesenkt. Seine Schultern beben in dem trockenen Weinen ohne Tränen und Jimin muss nicht mehr sehen, um zu wissen, wie sehr die Worte von Taehyung auch ihn berührt haben.

„Du musst es nicht tun", wiederholt auch Jimin. Diesmal nicht hysterisch, nicht voller Panik und Schock und Horror, sondern weich, weich, weich. Liebevoll. Seine Worte tropfen und sind getränkt von den übersprudelnden Gefühlen, die er für beide Männer in diesem Raum empfindet.

„Was sind d-denn die Optionen?", greift Yoongi den Gegenstand von eben noch einmal auf. „Es g-gibt keine Optionen."

„Grundsätzlich richtig, aber nicht ganz wahr", sagt wiederum Taehyung, der sich wie immer bislang die meisten Gedanken von allen gemacht hat. „Ich habe mit Namjoon eben genau darüber gesprochen."

Okay, scheinbar doch nicht seine Ideen, sondern die seines Superbrain-Bruders. Es war zu erwarten gewesen, hat Jimin aber nicht. Die Hoffnung in seinem Inneren glüht bei der Erwähnung des Namens heller. Namjoon hat scheinbar diesen Effekt auf ihn. Jimin hat sich schon in der Vergangenheit auf ihn verlassen und es macht ihm ein wenig Angst, wie sehr er es auch jetzt wieder tut.

„Also... So wie wir das sehen, existieren tatsächlich nur zwei Optionen. Erstens: Yoongi sprengt tatsächlich dieses scheiß Lagerhaus in die Luft und wir beten zu irgendeinem übermächtigen Gott, dass er bei dem Versuch nicht draufgeht. Oder..."

„Oder?", fragt Jimin, obwohl er schon weiß, dass er sich für das Oder entscheiden wird. Ganz egal, wie das Oder aussieht oder woraus es besteht.

„Oder", sagt Taehyung erneut und lässt dabei sein charakteristisches kastenförmiges Lächeln sehen, was klar macht, dass er ebenfalls auf der Seite des Oders steht. „Oder wir hauen ab."

„Abhauen?!"

„Ja, weg von Daegu. Weg von Dalseo-gu. Wolltest du das nicht?"

Jimin nickt mechanisch, noch viel zu überwältigt von der Vorstellung. In den letzten Monaten ist ihm erst bewusst geworden, dass der Ort, an dem sie leben, einem Gefängnis gleicht. Die Erkenntnis hat jahrelang in ihm wachsen müssen, bevor er sie begreifen konnte. Und ja. Ja, verdammt. Aus einem Gefängnis kann man ausbrechen. Aus einem Gefängnis, zu dem man nicht verurteilt wurde, sondern in das man hineingeboren wurde, kann man sich befreien.

„Und wohin?", fragt Yoongi müde. „Wohin sollen wir gehen? Die Jo-Pok Pa sind überall. Sie werden uns verfolgen."

„Nun", strahlt Taehyung weiter mit seinem kastenförmigen Lächeln, „zum Glück gibt es da einen Ort, wo wir hinkönnen."

„Gibt es den?", muss auch Jimin nachfragen, der zwar mitbekommt, dass sein Freund ihm einen zweideutigen Blick zuwirft, aber die Message dahinter noch nicht versteht. Welches Detail übersieht er gerade?

„Natürlich gibt es den. Und zufälligerweise kennt Jimin eine Person namens Hoffnung, die uns sicherlich dabei helfen wird, diesen Ort zu erreichen."

Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung...

Warte. Moment.

„Hope? J-Hope? Du willst zu Hobi? Du willst nach Seoul?!", legt sich nun auch endlich bei Jimin der Schalter um.

„Ja", bestätigt Taehyung, sein Lächeln nun so breit wie ein 1000-Watt-Strahler.

„Die Jo-Pok Pa sind auch in Seoul", wirft Yoongi pessimistisch ein. „Es wird nichts bringen, sich dort zu verstecken. Sie werden uns dort auch finden."

„Nun, vielleicht werden sie das. Wenn unser Plan aufgeht, werden sie uns sogar mit großer Sicherheit in Seoul finden. Aber sie werden dann nicht mehr an uns herankommen."

„Wie meinst du das?", fragt Jimin, der sich nicht vorstellen kann, welche genialen Pläne sich Namjoons Gehirn da schon wieder zurechtgesponnen haben soll.

„Es gibt eine Organisation in unserem Land, die noch viel mächtiger ist, als die Kkangpae es je sein werden", gibt Taehyung den ersten Hinweis und eröffnet damit ein Ratespiel, für das gerade keiner die Nerven besitzt.

„Die Politik?", rät Jimin ins Blaue und kassiert als Antwort nur ein verächtliches Schnauben. Von Yoongi. Taehyung grinst ihn mitleidig an und streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Die Bewegung bedeutet Zuhause. Jimin hat sich schon vorher für das Oder entschieden. Es ist egal, wo sie sind – diese Bewegung wird immer Zuhause bedeuten. Es ist nicht Dalseo-gu, war es noch nie. Zuhause war immer nur Taehyung und Jimin würde ihm überall hin folgen.

„Die Musikindustrie", klärt sein Freund sie auf. „Und zufälligerweise haben wir einen sehr begabten Musiker unter uns. Und ein Mixtape, das es bis an die Spitze der Charts schaffen wird."

„Du machst einen Scherz." – „Du machst Witze."

Wow. Ausnahmsweise sind Jimin und Yoongi sich einmal einig. Ausgerechnet in diesem Moment? Traumhaft. Es könnte nicht besser laufen.

„Nein", sagt Taehyung, immer noch lächelnd, aber mit diesem determinierten Glühen in den Augen, dem niemals eine Person widersprochen hat. „Nein, ich mache keine Scherze. Du glaubst an Yoongis Musik, oder?" Diesmal wendet er sich frontal an Jimin. Dem bleibt nichts anderes übrig, als zu nicken. „Und du glaubst auch an die Musik oder nicht?" Die Frage richtet sich an Yoongi. Auch er nickt.

„Wir alle glauben an die Musik. Und sie hat dich schon einmal gerettet. Ich glaube daran, dass sie es noch einmal tun wird."

„Aber w-wenn wir nach Seoul gehen, d-dann werden sie euch auch jagen. Wenn ihr mir helft zu verschwinden, werden die Jo-Pok Pa auch hinter euch her sein. I-ich will euch da nicht mit reinziehen."

„Wir stecken doch ohnehin schon mit drin, Yoongi."

Jimin nickt bekräftigend und streckt seine Hände aus. Mit der einen Hand berührt er seinen Freund, die andere Hand lässt er als Angebot auf dem Wohnzimmertisch zwischen ihnen liegen. Taehyung braucht keine Sekunde, um die Geste zu erwidern. Sie halten sich an den Händen und Jimin drückt seine Hand einmal fest, sieht ihm tief in die Augen und sagt stumm: ich liebe dich. Danke, dass ich dich nicht verloren habe. Es ist noch nicht alles zwischen ihnen geklärt, sie haben noch keine Lösung gefunden. Aber es gibt Dinge, an denen sie sich entlanghangeln, an denen sie sich festhalten können. Ihre Liebe ist eines davon.

Bei Yoongi dauert es länger, aber schließlich ergreift auch er die angebotene Hand von Jimin. Dieser lässt nun seinen Blick zu ihm wandern und signalisiert ihm stumm: Wir sind für dich da. Wir stehen das gemeinsam durch. Auch seine Hand drückt er fest.

Gemeinsam.

Ein Trauma überwindet man nicht, indem man sich immer weiter den traumatisierenden Situationen aussetzt. Man überwindet es auch nicht, indem man davor wegläuft. Aber man muss Wege finden, um über die Dinge zu sprechen, über die man nicht reden kann. Yoongi hat die Musik gewählt. Oder die Musik hat ihn gewählt. Wie rum auch immer, es ist sein Weg, das Trauma zu überwinden.

Und es wird Zeit, dass sie ihn gehen.

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Hallo ihr Lieben, 

es wird mal wieder Zeit für eines meiner seltenen Nachwörter, aber es hat sich einiges getan. TRAUM(A)SCHULDEN befindet sich e n d l i c h in den wirklich allerletzten Zügen (lang genug hat's ja gedauert...) . Das bedeutet: Kapitel 18 ist bereits überarbeitet, an Kapitel 19 sitzt gerade meine Beta und ich habe ca. 30% von Kapitel 20 vorkorrigiert. Und das wars dann schon. Wow. Es fühlt sich so verrückt an - ich habe das ganze Jahr 2022 an dieser Geschichte gesessen. 

Deswegen ein bisschen Werbung in eigener Sache:
Wer TRAUM(A)SCHULDEN auch in der gedruckten Version in seinem Bücherschrank Zuhause stehen haben möchte, kann sich nun auf der Vorbestellerliste eintragen. Nutzt dafür bitte das folgende Docs-Formular. 
https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSdKkl1yjPPzXLBc_JJrtAp1nRBaczyM5OdYxAYpPy8Zae1DQw/viewform

Ich hoffe sehr, dass die Kosten am Ende noch etwas niedriger sein werden, aber ich kann es leider nicht beeinflussen. Es kommt einfach darauf an, wie viele sich eintragen. Mir würdet ihr eine riesige Freude damit machen. Ich finde die Vorstellung, dass jemand ein Buch von mir besitzt, einfach vollkommen surreal. Gleichzeitig ist es auch so ein kleiner Traum, deswegen ja... es würde mir einfach wahnsinnig viel bedeuten. 

Außerdem möchte ich gerne noch auf ein weiteres Projekt hinweisen und zwar auf den KPOP-Adventskalender 2022, der auch in diesem Jahr wieder von mir organisiert wird. Es haben sich so viele hervorragende Autoren angemeldet, dass ich es kaum abwarten kann, alle Einreichungen zu lesen. 
Den Kalender findet ihr bereits auf meinem Profil und könnt ihn gerne eurer Bibliothek hinzufügen, damit ihr den Start am 01.12.22 nicht verpasst. :]

Ich hoffe, euch geht es gut und euch können die kurzen Tage in der kalten Jahreszeit nichts anhaben. Euer Herz ist der wärmste Ort und hoffentlich scheint dort immer die Sonne für euch! 

An alle, die bis hier hin durchgehalten haben: Vielen Dank fürs Lesen! 

Drücke euch, 
eure Vikki 

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