kapitel 14; in brand geraten
„Du solltest mit Nevermind starten."
„Quatsch, Nevermind sollte der letzte Song sein."
„The Fuck? Das ist doch kein Abschluss-Song. Es ist eine gute Begrüßung. Sie sagt direkt, es ist mir scheißegal, was ihr von mir haltet und ich zieh' heute mein Ding durch."
„Und was daran ist genau eine gute Begrüßung?"
„Alles?"
„Du bist verrückt."
„Ich bin genial."
„Ihr seid beide scheiße. Wir fangen mit AgustD an. Das ist die einzig sinnvolle Variante."
„Nein, man. AgustD ist das Ende! Damit der Name im Gedächtnis bleibt und so."
„Moment. Stop. Haben wir uns überhaupt darauf geeinigt, dass AgustD der Künstlername wird?"
„Ich dachte?"
„Ja, schon, oder? Yoongi? Sagst du auch mal was dazu?"
Diesmal wendet sich Jimin direkt an Yoongi, der, obwohl die Unterhaltung ihn am allermeisten betrifft, sich kaum weniger dafür interessieren könnte. Er sieht weltvergessen aus dem Wohnzimmerfenster in Jimins und Taehyungs Wohnung. Egal, was er dort sieht, es hat nichts mit ihrem Gespräch zu tun.
Das Veilchen auf seiner Wange ist mittlerweile blasslila verfärbt. Jimin ist guter Dinge, dass sie es für den Auftritt morgen überschminken können. Andererseits...unterstreicht es auch das Bad Boy-Image und er ist sich ziemlich sicher, dass kein anderes Image Yoongi verkaufen wollen wird. Unabhängig davon, auf welche Wahl sein Künstlername nun fallen wird.
„Yoongi? Hörst du uns zu?", erkundigt sich auch Jungkook mit einem latent besorgten Unterton in der Stimme, der nicht ganz zu seiner sonst so federleichten Aura passen will. Er hat sich für das letzte Meeting vor Yoongis erstem großen Auftritt ihrem kleinen Musikertreffen angeschlossen. Von sich selbst behauptet, dass er sowas wie Yoongis Manager sei und deswegen bei den organisatorischen Dingen dringend konsultiert werden müsse. Sein charmantes Lächeln hat Jimin schließlich dazu gebracht, die Tür tatsächlich für ihn zu öffnen (nicht, dass der Jüngere mit dem Bambi-Augen-Blick ihm groß eine andere Wahl gelassen hätte).
Trotzdem hat Jimin es gerne zugelassen. Seit er weiß, dass Jungkook nur Yoongis Bruder ist, findet er sein selbstbewusstes Auftreten und das ideale äußere Erscheinungsbild eigentlich gar nicht mehr ätzend. Kann sich kaum noch daran erinnern, was ihn vorher daran so gestört hat.
(Nichts, wirft Jimins nerviges Gehirn mal wieder ungefragt in die Runde, dich hat absolut nichts an ihm gestört, außer die Vorstellung, dass er Yoongis Liebhaber sein könnte. Aber die Begründung dafür haben wir ja letztens schon gefunden, nicht? Hat ja auch lang genug gedauert.
– Halt die Fresse, antwortet Jimin seiner inneren Stimme.
Du warst auch schon mal schlagfertiger, Park Jimin, wird behauptet, aber danach ist trotzdem – Gott sei Dank – erstmal wieder Ruhe.)
„Yoongi?", stupst Jungkook seinen älteren Bruder mit einer vorsichtigen Berührung seiner Hand an. Endlich schreckt der Angesprochene aus seiner selbst auferlegten Trance auf.
„Mhm? Was?", fragt er und bestätigt damit nur einmal mehr den Eindruck vollkommener Geistesabwesenheit.
„Wir haben dich nach deinem Künstlernamen gefragt", erklärt Taehyung mit einem nachsichtigen Lächeln. „Bist du mit AgustD einverstanden? Wir müssen es ganz oben auf dem Zettel eintragen."
Vor ihnen auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Anmeldeformular aus dem Club, in dem Yoongi morgen auftreten wird.
„Welcher Zettel?", murmelt Yoongi, obwohl sie es schon etliche Male im Verlauf ihrer Diskussion erwähnt haben.
Taehyungs Geduld ist zum Glück grenzenlos. Er erklärt: „Das Anmeldeformular für das Shadow. Wir müssen deinen Künstlernamen eintragen und deine Setlist angeben. Außerdem ein Mixtape, sprich einen USB-Stick mit den Instrumentals einreichen, damit sie die Musik morgen passend zu deinem Auftritt abspielen können. Wir planen gerade die Reihenfolge der Songs, damit ich den Mix später noch zusammenstellen kann."
Jimin und Jungkook werfen sich über seinen Kopf hinweg einen besorgten Blick zu. Es ist mehr als offensichtlich, dass es nicht die Nervosität ist, die an Yoongis Nerven nagt. In seinen Augen und seiner Körperhaltung lässt sich nichts davon wiederfinden. Viel mehr ist alles an ihm angespannt. Er wirkt wie die überspannte Sehne eines Bogens. Kurz davor zu schießen. Oder zu zerreißen. Der Unterschied dazwischen ist verschwindend gering.
„Ja...klar. Was immer ihr sagt..."
„Also AgustD?", erkundigt sich Taehyung ein letztes Mal, bevor er nach dem Kugelschreiber greift.
„Müssen wir das heute entscheiden?", wirft Jungkook ein, der aufgrund seines momentanen Zustandes berechtigterweise an der Entscheidungsfähigkeit seines Bruders zweifelt. „Vielleicht können wir es morgen noch spontan nachreichen. Nur...falls es sich Yoongi nochmal anders überlegt."
„Es war sein Vorschlag", sagt Taehyung sanft und setzt den Künstlernamen in großen, verschnörkelten Buchstaben auf das Antragsformular. „Es wird in Ordnung sein."
„Er hat es uns gesagt", führt Jimin aus, „an dem Tag, als wir die Nachricht mit dem ersten Gig von Hope erhalten haben. Wir haben vielleicht etwas zu viel Soju getrunken und da...ist es ihm rausgerutscht."
Jungkook blickt ihn verwirrt an. „Was?", fragt er verblüfft.
„Welchen Teil meiner Aussage hast du nicht verstanden?"
„Kein Plan... Hope? Wie die Hoffnung? Du kennst jemanden, der so heißt?"
„Korrekt. J-Hope, um genau zu sein. Er ist einer der besten Menschen überhaupt und –"
Ein lautstarkes Augenrollen seitens Taehyung unterbricht Jimins Äußerung. Jungkook blickt seinen Freund verwundert an und zwischen ihnen hin und her. Offensichtlich verwirrt von den gegensätzlichen Reaktionen.
„– und mein Ex-Freund. Was vollkommen egal, aber der Grund für Chaps Reaktion ist. Auf jeden Fall hat er uns den Auftritt besorgt. Im Shadow. Und als wir deswegen gefeiert haben, haben wir Yoongi vielleicht den ein oder anderen Soju untergejubelt..."
„Und dann hat Yoongi euch verraten, dass sein Künstlername AgustD sein soll?!", muss Jungkook nochmal nachfragen. So viel zum Management. Ein Manager sollte seinen Künstler wirklich besser kennen, denkt Jimin arrogant. Dann erinnert er sich daran, dass er sich mit Jungkook nicht mehr messen oder vergleichen muss und sagt stattdessen mit einem schelmischen Grinsen: „Ich denke nicht, dass er es uns wirklich verraten wollte."
„Es war dem Moment geschuldet", ergänzt Taehyung.
„Wir haben es vielleicht..."
„... darauf angelegt."
Das Grinsen des Pärchens reicht von einer Raumhälfte zur anderen. Es ist schon lange nichts Ungewöhnliches mehr, dass sie gegenseitig ihre Sätze beenden und ein bisschen ist Jimin froh darüber, dass sie es immer noch können.
„Ih", kommentiert Jungkook ihr Verhalten, „euer Glück ist ja abartig. Könnt ihr bitte damit warten, bis ihr wieder allein seid?"
„Eifersüchtig?", neckt Taehyung das Küken in ihrer Runde, „manche von uns bekommen nun mal keinen Korb von unserem lieben Chip."
„Ich wusste nicht, dass er vergeben ist", lamentiert Jungkook als Reaktion und zieht dabei das Wort 'vergeben' besonders leidend in die Länge.
„Das hätte mich damals nicht aufgehalten."
„Ist das eine Herausforderung, Taehyung-ssi?"
„Träum weiter, du Hosenscheißer. Werd' erstmal erwachsen."
„Auf erwachsenen Pferden lernt man reiten."
„Wenn du reiten lernen willst, bist du bei Chip allerdings an der falschen Adresse. Er reitet lieber selbst, als geritten zu werden... Wenn du verstehst, was ich meine." Das zweideutige Augenzwinkern könnte Taehyung sich auch sparen, so eindeutig ist seine Aussage.
„Jeder hier weiß, wovon du sprichst", unterbricht Jimin ihren Schlagabtausch, bevor er ausufern kann. Seine Wangen glühen auch so schon leuchtend rot und so offensiv er sonst mit seiner Sexualität umgeht, desto unangenehmer ist es ihm in dieser Konstellation. Sein Freund, mit dem er schläft, spricht mit dem Bruder des Mannes, mit dem er schlafen will, darüber, welche Präferenzen dabei zu beachten sind, wenn man mit ihm schläft, weil der mit ihm schlafen wollte... Das klingt auf so vielen Ebenen falsch.
„Warum denn so zurückhaltend, Chip? Wir könnten unserem Maknae hier doch zeigen..."
Jimins Reaktion besteht aus einem undefinierbaren Geräusch, halb Grollen, halb verschämtes Stöhnen, mit dem er sich auf seinen Freund wirft und ihn so von weiteren unheilvollen Vorschlägen abhält. Mit halben Blick bleibt Jimin dabei an Yoongi hängen, vielleicht, weil er neugierig ist, ob dieser ihrer Unterhaltung gefolgt ist.
Doch dieser hat sich zu diesem Zeitpunkt schon wieder vollkommen aus dem Gespräch ausgeklinkt. Er blickt aus dem Fenster, als würde er mehr dahinter sehen als nur die Backsteinmauer der gegenüberliegenden Fassade. Selbst die Kabbelei zwischen Jimin und Taehyung geht vollkommen spurlos an ihm vorbei und wird nicht beachtet. Sein Blick klebt an der Backsteinwand, als würde er mehr darin sehen als ein paar hässliche, aufeinander geschichtete Steine. Jimin hat diese Wand schon so oft angestarrt und sich darüber aufgeregt, dass sie ihm den Ausblick versperrt. Dabei hat er nie beachtet, dass es in Dalseo-gu eigentlich überhaupt nichts zu sehen gibt und die Wand, die wirklich zählt, nicht die vor seinem Fenster ist. Viel zu lange war sein Blick auf die Realität von eben einer solchen Mauer versperrt. Denn es ist leichter, sich mit realen Mauern zu beschäftigen, damit man die unsichtbaren im eigenen Kopf nicht beachten muss. Jimin würde sich gerne darüber mit Yoongi unterhalten. Über die Mauern in seinem Kopf, über das Gefühl, die Liebe zu finden, darüber, eine Aussicht zu suchen, die es nicht gibt, und einen Plan zu verfolgen, der scheinbar von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Im Serendipity waren sie sich zuletzt so nah, aber es war wohl nur ein glücklicher Zufall. Seitdem hat sie kein Stolperer mehr gegeneinander geworfen und zwischen ihnen prangt die gleiche Distanz wie seit Wochen.
Irgendwann wird sich Jimin gegen diese Mauern werfen, bis sie einstürzen. Irgendwann wird Jimin aufhören zu scheitern. Irgendwann wird er damit beginnen, schöner zu scheitern.
⊱ ────── ⋅❅⋅ ───── ⊰
Der Beat von AgustD knallt mehr als die Line Pep, die sich Jimin vor Konzertbeginn auf der schäbigen Toilette des Shadows reingezogen hat. Sein letzter Drogenkonsum ist Monate her, aber nachdem Jungkook mit leuchtenden Augen vor ihm stand und viel zu offensichtlich mit dem Tütchen rumwedelte, konnte er nicht widerstehen. Besser sie vernichten das Zeug, bevor die Security sie vernichtet, weil sie Drogen dabei haben. Wer auch immer in diesem Viertel von Daegu das Sagen hat, Wonho ist es sicherlich nicht. Und kein anderer Kkangpae wird so viel Nachsicht mit Jimin haben wie er.
„Hast du das von deinem Bruder?", hat Jimin die naheliegende Frage gestellt und Jungkook interessiert dabei beobachtet, wie er akribisch zwei gerade Linien auf einem kleinen Handspiegel anordnete.
„In welchem Universum lebst du?", antwortete Jungkook. „Hyung würde mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich überhaupt irgendwas mit Drogen zu tun habe. Er versucht immer noch hartnäckig zu ignorieren, dass ich erwachsen geworden bin. In seinem Kopf bin ich fünf Jahre alt."
„In deinem Verhalten bist du fünf Jahre alt."
„Ey", beschwerte sich Jungkook sogleich und zog sich im nächsten Moment die erste Line Pep durch die Nase, „findest du mich etwa kindisch?" Die zweite reichte er großzügig an Jimin weiter.
„Nein, gar nicht, Bambi", entgegnete dieser und spiegelte das Verhalten seines Gesprächspartners wider, indem er noch einmal tief ausatmete und dann mit einem Zug seinen eigenen Stoff inhalierte.
„Soll mein Schwanz dir mal zeigen, wie wenig kindisch ich bin?"
„Ich verzichte dankend", rümpfte Jimin abweisend mit der Nase, vielleicht auch deswegen, weil er das Brennen der Droge in seinen Schleimhäuten nicht mehr gewöhnt war.
„Also wenn du deine Meinung noch änderst..."
„MIN JUNGKOOK!", rügte Jimin diesmal mit einer etwas lauteren Stimmlage und erntete als Reaktion nur ein Lachen. Immerhin ging Jungkook nicht weiter auf das Thema ein, sondern wandte sich dem Waschbecken zu, spülte pflichtbewusst seinen Handspiegel und das Tütchen aus, bevor ersteres in seiner Hosentasche verstaut und zweiteres in die Mülltonne geschmissen wurde.
„Ups", fiel dem Jüngeren dann plötzlich ein, „hätten wir noch was für Taehyung-ssi übriglassen sollen?"
Als wäre es jetzt nicht ohnehin schon zu spät,
„Chap nimmt keine Drogen", antwortete Jimin. Und würde es wahrscheinlich auch nicht gutheißen, dass ich welche nehme. Aber die drängenden und lauten und verwirrenden Gedanken und Gefühle in seinem Körper haben ihn letztendlich dazu gebracht. Er wollte wenigstens mal wieder einen Abend genießen können, ohne ständig von Schuldgefühlen und Verzehren entzwei gerissen zu werden. Also war die Entscheidung, sich mit dem Pep die Gedanken aus dem Kopf zu ziehen, ziemlich einfach.
„Wo ist der eigentlich?"
„Kein Plan, man... Eigentlich wollte er schon vor zwei Stunden hier sein."
„Und seitdem? Hat er sich nicht gemeldet?"
„Nope", antwortete Jimin kurz angebunden, weil ihn die Situation selbst stresste. Chap wusste ganz genau, wie wichtig dieser Abend ist. Wo blieb er also??
„Ohaaaaa... Gibt's etwa Stress im Paradies?"
„Halt die Fresse, Bambi."
⊱ ────── ⋅❅⋅ ───── ⊰
20 Minuten später hat zum Glück die Wirkung des Pep voll gekickt. Seitdem befinden sie sich in einem krassen Stimmungshoch. Der tiefe Bass, der das letzte Lied des Abends markiert, treibt das Gefühl nur noch weiter empor.
they call me new thang
der rekrut ist jetzt hier,
versuch' mal, einen platz in der ersten klasse zu reservieren
mein sitz ist business-class
deiner nur in der economy,
forever behind me, kissing my ass
das nächste ziel ist billboard
von brasilien bis new york
mein reisepass ist beschäftigter als du
a to the g to the u to std
i'm d-boy, because i'm from the d
ich bin der verrückte typ, der wahnsinnige auf dem beat
mein rap schickt euch nach hongkong
mit meiner zungen-technologie
a to the g to the u to std
Jimin beendet die Aufnahme und sendet das Video in den Chat mit Hoseok.
Kranker Scheiß
ist alles, was er dazu schreibt und die wilde Smiley-Kombination, bestehend aus hochgestreckten Daumen und Feuer-Symbolen, tut wohl ihr Übriges dazu, um die Message zu transportieren. Jimin findet ohnehin keine Worte, um seine Begeisterung adäquat zu beschreiben.
Das Publikum ist ekstatisch.
Bereits nach dem dritten Lied von Yoongi war nichts mehr davon zu spüren, dass er gerade nur an einem Newcomer-Greeting teilnimmt. Wenn Jimin es nicht besser wüsste, würde er behaupten, dass alle Besucher schon vorher Fans waren und nur wegen ihm den Weg hierher gefunden haben.
Den letzten Teil des Refrains brüllen sie gemeinsam. Jimins Stimmbänder überschlagen sich beinahe, aber das ist nichts im Gegensatz zu der Lautstärke von Jungkook, dessen Augen funkeln, als hätte er gerade das Prinzip des deus ex machina live miterlebt. Wer kann es ihm verübeln? Yoongi auf der Bühne zu sehen, hat wirklich etwas wahrhaft Göttliches an sich.
Selbst Taehyung hat noch pünktlich den Weg zu ihnen gefunden. Ist eine Minute vor Showbeginn plötzlich neben Jimin aufgetaucht, hat ihm einen feuchten Kuss auf die Wange gedrückt, ganz kurz nur, aber trotzdem übermutig genug für die Situation, in der sie sich befinden. Er roch nach etwas, das Jimin zwischen all den diffusen Gerüchen der Menschenmenge nicht eindeutig zuordnen konnte. Aber Lavendel war es nicht, kein Petrichor und er hat sich gefragt, ob sich auch der Geruch von Zuhause verändert, wenn man damit beginnt, die Liebe zu verlieren. Sie hatten keine Zeit miteinander zu reden, bevor Yoongi die Bühne betreten hat. Jimin hätte gerne gewusst, wo sich Taehyung rumgetrieben hat. Scheinbar ist er nicht mehr der Einzige, der Geheimnisse vor seinem Partner hütet.
Jetzt springt Taehyung neben ihnen im Takt auf und ab und hat ganz offensichtlich die Zeit seines Lebens. Auf seiner Stirn steht in großen Lettern das Wort FANBOY geschrieben. Es macht ihn nicht das kleinste Bisschen weniger attraktiv. Jimin leckt sich über die Lippen, wischt sich den Schweiß aus der Stirn und stimmt in den ohrenbetäubenden Chor mit ein:
A TO THE G TO THE U TO STD
Als die Musik verstummt, wird der Lärm des Publikums nur noch lauter.
„AGUSTD!!", brüllt Jimin euphorisch.
„MARRY ME!!", ruft Taehyung und sein charakteristisches Kastenlächeln nimmt seiner Aussage die Ernsthaftigkeit. Sie stupsen sich gegenseitig mit den Schultern an und kichern.
„NO – MARRY ME!!", versucht Jimin seinen Freund zu übertrumpfen, aber der gibt nicht so schnell auf.
„I SUE YOU, MIN AGUST", haut Taehyung den nächsten Brüller raus und Jimin lehnt sich atemlos vor Lachen an ihn. Der seltsame Geruch von vorhin ist verschwunden. Jetzt ist Taehyung nur noch warm und heiß und so vertraut geliebt wie immer.
Die anderen Besucher lassen sich von ihren Kindereien nicht beirren. Sie klatschen und pfeifen und rufen Yoongis Namen, um seiner musikalischen Darbietung den Respekt zu zollen, den sie verdient.
AgustD verabschiedet sich mit dem kleinsten Heben eines Mundwinkels und einem feurigen Blick aus dunklen Augen. Er verneigt sich nicht. Steht mit unbeugsamen Willen aufrecht auf der Bühne, wie eine Gallionsfigur auf einem Schiff im Sturm vielleicht, der keine Wetterlage etwas anhaben kann. Er ist stark und stolz und die Schatten in ihm sind auf der Bühne in Brand geraten und seitdem brennt er heller als fucking lichterlohes Leuchtfeuer. Die Hülle des dunklen Phantoms hat sich in Asche verwandelt. Eine andere Aura pulsiert um ihn herum und macht aus der Figur aus den Schatten eine wahre Lichtgestalt. Taehyung hat Recht. Jimin ist pathetisch. Aber er hat Min Yoongi noch nie so lebendig gesehen. Überhaupt noch nie lebendig gesehen, bis hin zu diesem Augenblick. Niemand kann den Blick von ihm abwenden, bis AgustD die Bühne verlassen hat.
„Lasst uns wieder Backstage gehen", beugt sich Jungkook ganz nah an ihn heran und muss trotzdem schreien, um die Hintergrundgeräusche zu übertönen. Jimin erspart sich die Antwort, nickt nur und greift nach der Hand des springenden Taehyungs, um ihn mitzuziehen.
Der Moderator, der am heutigen Abend durch die Show führt, betritt nach Yoongi die Bühne und klingt ähnlich entrückt wie Jimin sich fühlt. Natürlich war es schon eine Erscheinung, den Künstler in ihrem Wohnzimmer rappen zu sehen, aber es steht in keinem Vergleich zu seiner Präsenz auf einer Bühne. Jimin hat den Auftritt atemlos mitverfolgt. Er ist beinahe froh darüber, dass er sich schon vor ein paar Tagen eingestanden hat, dass er sich in Suga verknallt hat. Ansonsten wäre seine Reaktion auf diese Performance sicher schlecht zu rechtfertigen gewesen. Jetzt braucht er keine Rechtfertigung mehr für seine schwitzigen Hände, sein stolperndes Herz und die wilden Endorphine, die seinen Kreislauf überschwemmen wie ein fucking Tsunami. Es ist einfach Liebe. Nicht ganz so ruhig und beständig und tiefgehend wie die Gefühle, die ihn mit Taehyung verbinden (oder verbunden haben? Muss er nun in der Vergangenheitsform von ihnen sprechen, denn wenn sie noch da wären, hätte er sich dann in Yoongi verlieben können?), aber nichtsdestotrotz intensiv, aufregend und kribbelig.
Das Sicherheitsteam erkennt das Trio von früher am Abend und winkt sie in den Bereich hinter der Bühne durch, sobald sie in unmittelbarer Reichweite sind.
„Ich kann nicht glauben, dass ihr DAS aus meinem Bruder herausgeholt habt", äußert sich Jungkook, sobald die ruhigere Umgebung erlaubt, dass man ihm wieder zuhören kann.
„Das waren wir nicht", erklärt Taehyung mit einem bescheidenen Lächeln und gleichzeitig einem stolzen Glimmen in den Augen. „Das war er ganz allein."
„Nie und nimmer. Er ist immer so ein Griesgram und zu nichts zu bewegen außer einer ordentlichen Mütze Schlaf und dann steht er plötzlich auf der Bühne und macht... DAS? Fuck, wenn ich auch nur geahnt hätte, dass das in ihm steckt, hätte ich niemals zugelassen, dass er etwas anderes macht."
„Und was hättest du tun wollen, Zwerg?", werden sie von einer rauen Stimme unterbrochen. Als sie um die Ecke biegen, steht da Yoongi. Er wischt sich gerade mit einem Handtuch die Schweißperlen von der Stirn und versucht nachlässig auch die feuchten Haarspitzen zu trocknen. Jimin kann den Blick nicht abwenden. Yoongi glüht nach, das Feuer seines Auftritts ist noch nicht in ihm erloschen. Er sieht danach aus, als wäre er für dieses Leben geboren. Wiedergeboren.
„YOONZ", brüllt Jungkook als erstes und noch lauter als je zuvor. „WAS BITTE WAR DAS?"
Das fragt sich Jimin auch und bemüht sich darum, nicht ganz so eindeutig den anderen anzustarren. Es ist eine unmögliche Herausforderung, wenn Yoongi so aussieht.
„War's in Ordnung?", erkundigt sich dieser mit einem halbschiefen Lächeln voll unterdrückter Unsicherheit.
Jungkook schafft es nur zu quietschen, um seiner Entrüstung Ausdruck zu verleihen. Taehyung springt für ihn ein.
„WILLST DU MICH VERARSCHEN?", fragt er. „ES WAR DER WAHNSINN. SCHEIßE, NEIN. ES WAR MEHR ALS DER WAHNSINN. FUCKING ÜBERRAGEND. I'M A CHANGED MAN NOW!"
„JA!", stimmt Jungkook zu und wirft sich seinem Bruder umgehend an den Hals. „Es war so viel mehr als nur in Ordnung. Ich wünschte, ich wüsste, was es war. Aber ich weiß, dass ich soooo verdammt stolz auf dich bin."
Seine Worte schaffen es tatsächlich, auf Yoongis Gesicht einen Ausdruck von realer Zufriedenheit hervorzurufen. Der Anblick ist so ungewohnt, dass es ein Fiebertraum sein muss. Oder Pep-Schuld. Whatever. Was auch immer es ist, Jimin kann nicht genug davon bekommen.
„Ich glaub', das Publikum fand's auch ganz gut...", erwähnt Suga zaghaft.
„GANZ GUT?" Wieder Taehyung. „Die waren alle fucking verrückt nach dir! Alter, die sind vollkommen ausgerastet. Das war crazy!! Haben dich gefeiert, als würden sie deine Musik schon seit Jahren hören. No Joke, das war richtig extrem."
„Hyung, jemand hat sogar gerufen, dass er dich heiraten will", wirft Jungkook breit grinsend ein und drückt sich nur noch etwas fester an seinen Bruder.
„Das zählt nicht", antwortet Yoongi trocken. „Das waren doch nur die zwei Verrückten hier."
Wohingegen sich Jimins Wangen rosa verfärben (die Hitze, erklärt er sich selbst, das liegt natürlich nur an der Hitze), scheint zumindest einer von ihnen Yoongi's Aussage als Kompliment aufzufassen. Taehyungs Grinsen wird, wenn möglich, nur noch eine Spur breiter, aber vor allen Dingen auch sanfter. „Ich sag ja", erklärt er mit einem wilden Funkeln in den Augen, „ich bin jetzt ein veränderter Mann. Ich bin jetzt bereit für eine Dreierbeziehung."
Taehyung sollte so etwas nicht sagen. Das sollte er wirklich nicht. Er hat keine Ahnung, was er Jimin damit antut. Welchen hartnäckigen Keim er damit in Jimins Gedankenwelt einpflanzt. Seine Aussage sorgt für ein Herzbeben der höchsten Stufe. Mindestens Stufe zehntausend oder sowas. Jimins angeschlagenes Organ macht das kaum noch mit. Die ganzen Kerben und Risse machen sich bemerkbar und Jimin spürt, wie sich weitere Stücke davon lösen und noch größere Löcher hinterlassen. Mehr verträgt er nicht. Vielleicht ist genau das der Punkt, der zum Herzensbruch führen wird. Es fühlt sich zumindest verdächtig danach an.
„Eine Dreierbeziehung?", wiederholt Yoongi mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck. „Wild", ist sein Fazit.
WILD? Was soll das überhaupt bedeuten?
„Ist das eine Zusage?", fragt Taehyung zum Glück nach und beugt sich in einer Art und Weise Yoongi entgegen, bei der Jimin nicht nachvollziehen kann, ob sie ernst oder ironisch gemeint ist. Zumindest die Geste, wie sein Freund Yoongi eine der verschwitzten Haarsträhnen aus der Stirn streicht, wirkt zu sanft, um nicht nicht ernst gemeint zu sein.
Das Herz in Jimins Brust schwillt bei dem Anblick an. Machen Himmelskörper das nicht auch so? Bevor sie kollabieren? In seiner Brust wohnt kein Herz mehr, sondern ein weißer Riese und er steht kurz vor'm Implodieren. Mit letzter Kraft wehrt es sich davor und klopft, galoppiert und stolpert immer weiter in einem immer rasanteren Tempo, als könnte es davor weglaufen. Was auch immer da jetzt in seiner Brust wohnt, es ist so groß, dass Worte nicht mehr daran vorbei passen. Jimin will etwas dazu sagen, die Szenerie kommentieren, aber er kann nicht. Zu gefesselt ist er von dem Anblick.
Yoongis nächste Aussage verpasst ihm den Gnadenstoß.
„Vielleicht", antwortet er und diesmal lächelt er wirklich dabei. Wahrscheinlich ist's die knallrosa Brille in Jimins Fresse, aber er würde glatt behaupten, das Lächeln wirkt... glücklich.
(Nur das Dopamin von seinem Auftritt, versucht der verschwindend geringe Anteil Restvernunft in seinem Verstand Jimin Glauben zu machen. – Aber was, wenn nicht?, hält Jimin dagegen. Und was, wenn „vielleicht" eigentlich „ja" bedeutet??)
Der kurze innere Disput führt zum nächsten Stolperer in seiner Brust. Fühlt sich so Kammerflimmern an? Bekommt Jimin einen Herzinfarkt? Aber die Vorstellung von ihnen zu dritt – Taehyung, Yoongi und er – die Vorstellung davon, dass Taehyung diesen Wunsch akzeptiert, vielleicht sogar teilt und Yoongi dem nicht abgeneigt ist – klickt wie das Verschlussventil von einem Eimer Spachtelmasse. Ihr wisst schon, das Zeug, was man dafür benutzt, um Löcher in Wänden und Oberflächen zuzuschmieren. Der Eimer ist jetzt offen. Der Spachtel liegt bereit. Jimin greift beherzt danach und bearbeitet damit das Schlamassel in seinem Brustkorb. Er verteilt die Masse großzügig in jedem kleinen Riss und tritt danach einen Schritt zurück, um sein Werk zu betrachten. Sein Herz sieht wieder funktionsfähig aus. Die spröde Konstruktion von vorher wurde fachmännisch repariert. Der einzige Unterschied: Es ist viel größer jetzt. Er hat zusätzlichen Raum geschaffen. Raum für seine Gefühle für Yoongi.
Denn die Gefühle für Yoongi bewirken nicht, dass die Gefühle für Taehyung geringer werden. Sie ersetzen sie nicht, sie ergänzen sie.
Das Herz in Jimins Brust – es ist nicht gebrochen. Jimin versteht jetzt, dass Herzen erst reißen müssen. Es ist die Voraussetzung dafür, dass sie wachsen können. Und genau das ist ihm passiert.
„Und was sagt dein Mann dazu?", wendet sich Yoongi natürlich genau in diesem Moment mit diesem Lächeln (glücklich, oder?? Es sieht glücklich aus) an Jimin. Leider wischt er sich dabei mit dem Handtuch wieder über die Stirn, verdeckt dabei fast vollständig den Ausdruck in seinen Augen. Dabei würde Jimin zu gerne sehen, was er darin lesen kann. Vielleicht würde es helfen zu verstehen, denn er will sich nicht zum Deppen machen, nicht zu viel und nicht zu wenig geben. Seine nächste Antwort könnte alles ändern und wie formuliert man sowas? Eine eventuell-alles-verändernde Antwort? Wieder einmal wünscht sich Jimin nichts mehr als zu verstehen, wie das Phantom die wenigen Worte meint, die es sagt, und was sich noch dahinter verbirgt.
„I-i-ich...", will Jimin gerade zu einer Antwort anstottern, als er forsch unterbrochen wird.
„SUGA!", brüllt eine Stimme, laut und gefährlich und so ganz anders als der Chor, der eben noch Yoongis Namen skandiert hat. Diesmal ist es nicht das Geräusch von Begeisterung. Es ist das Geräusch von Gefahr und sie alle bemerken es gleichermaßen.
Jimin zieht instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, Taehyung tritt vor ihn, Jungkook einen Schritt näher an Yoongi und dieser schiebt sich in einer flüssigen Bewegung vor seinen Bruder. Sie agieren wie eine Einheit, die sich gemeinsam vor etwas wappnet, von dem sie noch nicht wissen, was es ist.
Ihre Blicke wandern durch den Raum, bis sie an dem Verursacher der Ansprache hängenbleiben. Jimin weiß sofort, dass das nichts Gutes bedeutet.
Mehrere Gestalten lösen sich gleichzeitig aus den Schatten, als hätten sie nur auf ihren großen Auftritt gewartet. Als wäre die Perfomance von AgustD nur die Pre-Show gewesen. Das eigentliche Spektakel beginnt erst jetzt. Die Gestalten klatschen langsam in die Hände, wieder so ganz anders als die Menge eben. Es klingt ironisch. Und jeder Schlag wie das Zuschnappen der Synchronklappe zur Ankündigung einer neuen Szene. Cut. Cut. Cut. Was kommt jetzt?
Die Gänsehaut, die Jimins Körper urplötzlich bedeckt, erblüht zeitgleich auf Taehyungs Körper. Sie sind Ärger oft genug begegnet, um sein Gesicht zu erkennen. Auch wenn ihnen die Personen gegenüber fremd sind.
„Suga, Suga, Suga...", sagt jemand im Takt der Schläge, in dem seine Hände aufeinandertreffen. Wieder ist es nicht bewundernd. Es ist tadelnd und mit einem hämischen Unterton. Irgendwie belustigt. Auf die Art lustig, wie ein Holzlöffel lustig ist, wenn er über die Pappverpackung kratzt. Kannst du dir das Geräusch vorstellen? Verziehst du dein Gesicht dabei? Ja. Same here. Nur bei Jimin ist es noch hundertmal schlimmer. Die Gänsehaut auf seinem Körper ist beinahe schmerzhaft.
Ihre Gruppe rauft sich unwillkürlich dichter zusammen. Yoongi übernimmt ganz natürlich die Rolle des Anführers, des Beschützers. Er schiebt sich nach vorne, versucht Jungkook und Jimin mit seinem Körper abzuschirmen, auch wenn er viel zu klein dafür ist. Taehyung lässt sich ohnehin nicht von ihm zurückdrängen. Yoongi spürt es und probiert es gar nicht erst. Sie stehen aufrecht nebeneinander und begegnen ihren Gegenübern mit all der gebührenden Verachtung.
„Geon-Dal Pa", spuckt Yoongi auf den Boden. Er braucht keine Vorstellung, um den Abschaum zu erkennen. Jimin erinnert sich an sein geschundenes Gesicht von vor mehreren Nächten im Café. Sind das die gleichen Typen?, fragt er sich und denkt gleichzeitig nur: Oh Shit.
„Begrüßt man so einen Freund, Suga?", schnurrt die Stimme wie eine falsche Schlange. „Tz, tz, tz, dabei wollten wir dir doch nur zu deinem gelungenen Auftritt gratulieren..."
„Wir sind keine Freunde", stellt Yoongi richtig. Seine Stimme gefriert dabei zu Eis. Das Feuer, das auf der Bühne in ihm gebrannt ist, ist jetzt erloschen.
„Aber, aber, Suga – willst du etwa unsere Gefühle verletzen?", erfolgt die sofortige Erwiderung. „Geht man etwa so mit seinen Fans um?"
„Hört auf mit der Scheiße. Was wollt ihr?"
„Was wollen wir? Die Frage ist doch viel mehr...was möchtest du hier? Mh? Warum verirrt sich so ein kleiner, dreckiger Drogendealer in unsere Gegend? Du hast hier keine Geschäfte zu machen." Die süßliche Tonlage verstummt und macht Platz für etwas Ehrliches. Verachtung. Jimin zieht ein kalter Schauer über den Rücken.
„Ich bin nicht für das Geschäft hier", erklärt Yoongi sofort, obwohl allen Beteiligten bewusst ist, dass es sich hierbei um eine Erklärung handelt, die niemand hören will. Denn sie haben Yoongi auf der Bühne gesehen. Eigentlich wissen sie, warum er hier ist. Die Frage ist nur ein Vorwand.
Taehyung versucht Yoongis Position zu stärken, indem er sich nun auch verbal bemerkbar macht. „Er sagt die Wahrheit. Der Auftritt war unser Anliegen. Entschuldigt bitte, wenn wir damit Umstände gemacht haben. Das war nicht unsere Intention. Wir wollten gerade wieder gehen", erklärt er in einwandfreier Diplomaten-Manier. Sowohl die Tonlage als auch die Ausdrucksweise spiegelt wieder, dass er Namjoons Bruder ist. Sie sind sich zum Verwechseln ähnlich. Und tatsächlich wird die Ähnlichkeit leider sofort erkannt, denn die ungeteilte Aufmerksamkeit liegt plötzlich auf ihm.
„Und wen haben wir da?! RM?! Was ist denn mit dir passiert? Bist du geschrumpft? "
Die anderen lachen gackernd.
Der Gesprächsführende nutzt die Chance, um seinen schlechten Witzen noch eins draufzusetzen. „Leute, habt ihr mal'n Rumpsteak parat? Scheinbar hat ihm niemand eins gebracht, der Bizeps schrumpft vom Salat."
„Wow", kommentiert Yoongi trocken. „Wie innovativ."
Jimin presst die Zähne aufeinander, um sich davon abzuhalten, sich ins Gespräch einzumischen. In seinem Kopf laufen hundert Erwiderungen pro Sekunde und keine würde dazu führen, dass die Situation deeskaliert wird. Also gilt jetzt – zumindest für ihn – lieber mal die Schnauze halten.
„Nein", wendet diesmal eine andere Person der Gegenseite ein und mustert Taehyung mit einem abschätzigen Blick, „sein Bruder. Die Schwuchtel." Über das Gesicht des Sprechenden zieht sich eine längliche Narbe. Sie teilt sein Gesicht entzwei, betont dadurch auf unglückliche Art und Weise die Asymmetrie. Seine Augen stehen schief. Die Nase ist auf beiden Seiten leicht unterschiedlich geformt. Ein Mundwinkel ist verzogen, der andere gerade. Ohne die Narbe würde es vielleicht nicht auffallen. So ist es, als würde man zwei verschiedenen Menschen in ein Gesicht gucken. Die Narbe teilt das Gesicht in zwei Hälften. Es ist verrückt. Es lässt die Person verrückt wirken. Und bedrohlich. Jimin kann den Blick nicht von ihm abwenden, obwohl ihm schlecht davon wird. Das Starren wird bemerkt.
„Hübsch, nicht wahr?", sagt das Narbengesicht und deutet stolz auf seine schlecht verheilte Verletzung. „Hab' ich selbst gemacht. Ich bin ein Künstler, weißt du?"
Vollkommen abgedreht bist du, will Jimin antworten, aber verkneift sich den Kommentar mit einem schmerzhaften Biss auf seine Zunge. Sie stehen einer personellen Übermacht von sechs Leuten gegenüber. Und er und Jungkook sind keine guten Kämpfer. (Wobei? Macht der Jüngere in seiner Freizeit nicht Karate? Wie viel von diesen Fähigkeiten kann er unter Pep-Einfluss noch umsetzen? Jimin hätte sich doch mehr für diese Unterhaltung interessieren sollen.) Aber okay, wie auch immer. Jetzt ist auf jeden Fall nicht der richtige Zeitpunkt für freche Kommentare.
„Ich kann dir auch so ein schönes Souvenir verpassen, Schätzchen", ergänzt wiederum das Narbengesicht als Reaktion auf Jimins ausbleibende Antwort.
„Wir verzichten dankend", presst Taehyung in aller Höflichkeit zwischen seinen Lippen hervor. Die Worte kosten ihn reinste körperliche Anstrengung. Man merkt es ihm an. „Und entschuldigen uns noch einmal vielmals für die Unannehmlichkeiten aufgrund von diesem...unglücklichen...Missverständnis."
„So, so...ein Missverständnis also. So nennt man das heutzutage wohl..."
„...wenn jemand hinter unserem Rücken in unser Revier eindringt, um uns die Kundschaft streitig zu machen", wird zusammenhangslos erwidert. Jetzt spricht wieder die Figur, die der Anführer der kleinen Gruppe zu sein scheint.
„Es ist nicht euer Revier", faucht Yoongi, aber wird von einem einzigen Blick von Taehyung zum Schweigen gebracht. Es ist ebenfalls nicht der richtige Zeitpunkt, um auf Konfrontationskurs zu gehen. Taehyung weiß das alles und versucht das einzig Richtige zu tun: einen kühlen Kopf zu bewahren.
„Ja, wirklich unglückliche Umstände", versucht Taehyung die Luft zu klären. „Wie Suga eben bereits erwähnte, hatten wir keinerlei geschäftlichen Dinge zu erledigen. Wir haben keine Waren verkauft. Wir haben keinen Profit gemacht. Wir waren lediglich für die Musik hier."
„Für die Musik...", parodiert diesmal ein anderer. Es ist sowas von offensichtlich, dass sie ihnen kein Wort glauben. Dass sie nicht einmal zuhören möchten.
„Und wie erklärt ihr dann das hier?", fragt das Narbengesicht und hebt ein leeres Plastiktütchen in die Luft, welches wirklich literally jedem gehören konnte. Doch Jungkook wird leichenblass und Jimin weiß nicht, ob es daran liegt, dass er wirklich seinen ehemaligen Besitz wiedererkannt hat oder es nur die Angst ist, dass es potentiell sein Tütchen sein könnte.
„Das ist nicht von uns", behauptet Yoongi auch sofort beinhart.
„Suga, Suga, Suga", wird er wieder getadelt. „Wo bleibt deine Erziehung? Hat man dir auch nicht beigebracht, dass man keine Lügen erzählen soll?"
„Ich lüge nicht, ihr verfi–"
„Na, jetzt werd' aber nicht ausfallend hier. Vielleicht gehört es nicht dir", wird ihm großzügig zugestanden, „aber der junge hübsche Mann hinter dir sieht danach aus, als würde er es wieder erkennen."
Ein Blick zu Jungkook genügt, um Yoongi verstehen zu lassen, dass sie gerade ganz tief in der Scheiße stecken. Seine Schultern spannen sich wieder an wie die Sehne eines Bogens. Bereit zu schießen.
„Vielleicht entlassen wir erst einmal die Kinder", knirscht Yoongi zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch. Jimin sieht, wie seine Hände zittern, obwohl er so fest in sein Handtuch greift, als würde er jetzt schon eine Kehle zerdrücken. Das Zittern war noch nie so extrem. „Und dann einigen wir uns auf eine...Entschädigung."
„Also streitest du nicht ab, dass du dein Zeug dabei hast, um es hier zu verticken?"
„Das habe ich nicht gesagt. Ich meinte lediglich, dass..."
Man lässt ihn nicht ausreden.
„Die Kinder gehen lassen?", sagt das Narbengesicht. „Dabei sehe ich gar keine Kinder. Oder meinst du die beiden Hübschen hinter dir?"
„Sie...sind...zu...jung", antwortet Yoongi gequält. Er steht mittlerweile frontal vor Jungkook und kann den Blick auf ihn trotzdem nicht versperren. Jungkook guckt wie das berühmte Reh im Scheinwerferlicht. Seine Augen sind weit aufgerissen, seine Schultern schuldbeladen und er bewegt sich keinen Millimeter. Nur seine Hände zittern. Wie die von Yoongi.
„Sie sehen gar nicht so jung aus."
Jimin muss würgen. Er kennt den hungrigen Blick, der auf ihm liegt. Er ist ihm schon einmal zu oft begegnet.
„Eigentlich sehen sie wie eine gute Entschädigung aus", überlegt das Narbengesicht laut und legt den Kopf schief. „Über Entschädigungen haben wir doch gerade gesprochen, oder?"
Die Wut pulsiert um Yoongi herum wie Wellen. Das Handtuch fällt zu Boden, als er seine Hände zu Fäusten ballt und Jimins Augen fliegen im Raum umher. Er versucht alles auf einmal im Blick zu behalten und scheitert. Seine Hand streckt sich unwillkürlich nach seinem Freund aus. Greift von hinten in sein T-Shirt und versucht, ihn einige Millimeter zurückzuziehen. Als würde das irgendwas bringen. Taehyung ist noch nie vor irgendetwas zurückgeschreckt. Und auch jetzt wird er es nicht tun. Nicht, wenn es um Jimin geht.
„Wir können uns sicher anderweitig einigen", schlägt Taehyung vor, aber das Zittern in seiner Stimme verrät ihn. Er hat Angst. Er ist wütend. Er ist kurz davor, die Contenance zu verlieren.
„Ich will den Typen hinter Suga. Er kann meine Schuhe sauber lecken, nachdem ich damit Sugas Fresse eingetreten habe."
„Dann nehm' ich das Püppchen mit den aufgespritzten Lippen. Ich wette, er kann ganz hervorragend Schwänze lutschen mit diesen Schlauchboot-Lippen. Und ich wette, er wird es lieben, meinen Schwanz zu lutschen."
„Siehst du, Suga, und schon haben wir uns auf eine Entschädigung geeinigt", grinst der Anführer selbstgefällig und klatscht noch ein letztes Mal langsam, ironisch, in die Hände. Es ist der Startschuss. Das nächste Zuschnappen der Filmklappe. Alle ziehen ihre Waffen, legen an, zielen, schießen. Das Geräusch ist ohrenbetäubend. Glas zerspringt. Jimin landet auf dem Boden, bevor er weiß, wie er da hingekommen ist. Taehyungs Körper liegt auf ihm.
Und ab da läuft der Film nur noch verschwommen und in dreifacher Geschwindigkeit.
Yoongi lässt sich nicht fallen. Sein Körper dient als Schutzschild für Jungkook, der hinter ihm unwillkürlich in die Hocke gegangen ist. Es ist ein Reflex. Wenn eine Waffe auf dich zielt, gehst du in Schutzhaltung. Nicht so das Phantom. Suga. Er zieht eine Clock, von der Jimin keine Ahnung hat, wo er sie hernimmt. Er legt ebenfalls an, zielt, schießt. Mehrere schnelle Schüsse hintereinander. Zwei weitere Waffen fliegen durch die Luft. Die gegnerische Gruppe stürzt auseinander und sucht nach Deckung.
„LAUFT", kläfft Yoongi, ohne den Blick nach hinten zu wenden und klingt dabei wie ein wütender Hund, der in die Ecke getrieben wurde. Es soll ein Befehl sein. Aber alles, was Jimin spürt, ist die Verzweiflung dahinter. Er und Jungkook sind so starr vor Angst, dass sie nicht darauf reagieren können. Sie kauern bewegungslos am Boden.
„STEHT AUF UND WEG HIER!", brüllt Yoongi noch lauter und gibt erneut eine Salve Schüsse ab.
Taehyung rappelt sich als Erster wieder auf, aber auch er hat nicht vor, Yoongis Anweisungen Folge zu leisten. Mit einem Hechtsprung landet er bei einer der fallengelassenen Waffen. Anders als Yoongi nimmt er sich nicht die Zeit zum Zielen. Er blickt nicht einmal hin, sondern stattdessen zu Yoongi und schießt. Der Augenkontakt ist kurz, aber sie scheinen sich trotzdem blind zu verstehen. Im nächsten Moment ist Taehyung wieder bei ihm, greift unter Jimins Arme und zerrt ihn nach oben. Mit der anderen Hand, die, die eine Waffe hält, werden weiterhin wahllos Schüsse abgegeben. Jimin reagiert intuitiv, als er nach Jungkooks Arm greift und diesen mit sich auf die Beine zerrt. Sie kommen zwei Schritte weit, bis der nächste Schuss ertönt. Noch einer und noch einer. Jimin kann sie nicht mal mehr zählen, zieht nur den Kopf ein und betet, dass es wie in den Filmen ist. Viele Schüsse. Keine Treffer. Er will sich nicht ausmalen, was passiert, wenn eine der Kugeln ihr Ziel findet. Die Konturen verschwimmen weiter. Er stolpert über seine Füße, folgt blind der Richtung, in die er gezogen wird. Der nächste Schuss klingt zu nah. Warme Luft zieht viel zu schnell an seinem Gesicht vorbei. Dann ist sie verraucht.
Das war knapp, denkt er und, wen hat sie dann getroffen? Wo ist Yoongi? Wo wollen wir hin? und so viel mehr. Die ganzen Gedanken passen nicht in seinen Kopf. Es sind zu viele, es ist zu voll und er stolpert, läuft, versucht zu gehen.
Eine Tür öffnet sich. Sie führt nach draußen.
„Lauft", sagt jetzt auch Taehyung. Bei ihm klingt der Imperativ tatsächlich wie ein Befehl. Er wirkt verängstigt, aber auch kontrolliert und Jimins Hand verkrampft sich in seinem T-Shirt.
„Du...?", fragt er und schafft es nur bis zum ersten Wort. Taehyung schüttelt den Kopf und dreht sich auf dem Absatz um. Es dauert keine Sekunde, da ist nicht mal mehr seine Rückansicht zu sehen. Aus dem Inneren des Clubs ertönen immer noch Kampfgeräusche. „Wa...?" Mehr als eine Silbe funktioniert nicht. Mehr kann sein Kopf nicht formen.
„KOMM", brüllt Jungkook. Auch er zerrt jetzt an Jimin, der die leere Tür anguckt, als hätte sie ihm das Wichtigste genommen.
„Taehyung. Yoongi...", versucht er zu sagen und sucht den Blick von Jungkook. Seine Augen sind weit aufgerissen und voller Panik und Angst.
„Die sind ohne uns besser dran", antwortet Jungkook, irgendwie klar und beherrscht, zumindest in seiner Stimme, auch wenn der Rest seines Körpers wie Espenlaub zittert. „Niemand, auf den sie aufpassen müssen."
Es ist logisch. Aber das kann Jimins Gehirn gerade nicht begreifen.
„Aber –"
„Nichts aber", schneidet ihm Jungkook das Wort ab. „Wir haben keine Zeit. KOMM. Wir treffen sie später."
Was ist, wenn es kein Später gibt?, will Jimin fragen.
Min Yoongi ist tot. Ich habe ihn umgebracht. Was ist, wenn sie ihn umbringen?
Dann zerrt Jungkook so stark an ihm, dass Jimin erneut stolpert. Keine Wahl hat, als einen Fuß vor den anderen zu setzen. Einen Fuß vor den anderen. Einen Fuß vor den anderen...
Der Asphalt wirkt wenig konkret unter seinen Schritten.
Weg von Taehyung.
Weg von Yoongi.
Die ersten Schritte sind schwer. Wacklig. Danach wird es leichter. Nicht das Weggehen, nicht das Laufen, aber zumindest das Denken. Es existiert nur noch ein einziger klarer Gedanke, der Rest ist panikbetroffen und schreit, schreit, schreit. Jimin hat keine Luft dafür, es laut zu tun. Das Handy in seiner Hosentasche wiegt schwer und er greift danach, weil es der einzige Anker ist, der ihm noch geblieben ist.
Die Nummer ist auf seiner Schnellwahlliste eingespeichert. Sie ist die Nummer drei.
„Jimin-ah?", wird er nach dem ersten Klingeln überrascht begrüßt.
Seine Stimme ist atemlos, als er alles antwortet, was sein Mund noch an Worten formen kann: „Geon-Dal Pa. Im Shadow. Taehyung!!!"
„Unterwegs." Dann klickt die Leitung.
„Wer war das?", fragt Jungkook und schnauft schwer von der körperlichen Anstrengung, dem Adrenalin und der Sorge in seinem Herzen.
„Namjoon", sagt Jimin und denkt gleichzeitig Hoffnung.
Mehr bleibt ihnen nicht.
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