kapitel 13; distanzen beschreiben
Der Zahnputzbecher ist kaputt gegangen. Vor etwa zwei Wochen, als Suga in ihrem Badezimmer einfach umgekippt ist und sowas wie eine...Panikattacke hatte? Jimin ist sich bis heute nicht sicher, wie er genau diesen Anfall betiteln soll. Seine unbeholfenen Google-Anfragen haben ihn jedenfalls nicht schlauer gemacht. Und aus Yoongi selbst ist natürlich nichts herauszubekommen.
Seitdem hat sich einiges geändert. Und damit meint Jimin nicht nur, dass sie den zerstörten Zahnputzbecher im Bad notdürftig durch ein Glas aus ihrer Miniküche ersetzt haben. (Das tut es btw auch ganz wunderbar und seitdem ist Jimin bewusst, was für eine völlig unnötige Erfindung Zahnputzbecher eigentlich sind.)
Vielmehr hat Yoongis Zusammenbruch dazu geführt, dass sich die Natur ihres Verhältnisses wieder radikal verändert hat. Zu ihrem Ursprungspunkt zurück. Back to the roots, sozusagen. Nur, dass Jimin ihre Wurzeln nie gefallen haben und er so hart dafür gekämpft hat, aus dem Samen eine Blume zu züchten. Jetzt ist sie eingegangen, verdorrt. Yoongi ignoriert ihn zwar nicht und trifft sich weiterhin mit Taehyung und Jimin, aber er ist dabei so wortkarg wie eh und je. Wenn er nicht gerade rappt und mit seinen Worten Feuer speit, dann sind seine Lippen verschlossen. Lächeln tut er ohnehin gar nicht mehr. Scheiße, man. Echt. Jimin hatte so gehofft, dass sie mittlerweile Freunde geworden sind und über diesen Vorfall vernünftig reden können. Jimin will helfen, aber schweigenden Menschen ist nicht zu helfen. Er weiß nicht mal, wo er ansetzen soll. Seine eigenen Gedanken drehen sich im Kreis und er kommt nicht damit zurecht, schon wieder mit all seinen Versuchen an Yoongis Schutzpanzer wirkungslos abzuprallen.
Es macht das Chaos in seinem Inneren nur noch chaotischer und er bemerkt immer wieder, wie unkonzentriert er ist, wie abgelenkt und wie er keinem Gedankengang länger als fünf Synapsen folgen kann.
Zu allem Überfluss (oder vielleicht auch zum Glück, er weiß es nicht) wirkt sich die angespannte Stimmung nicht auf ihre regelmäßigen Musiktreffen aus, die mehrfach in der Woche stattfinden. Obwohl allen Beteiligten bewusst ist, dass da ein riesiger Elefant im Raum steht, der nicht weggehen wird, nur weil man ihn ignoriert, packen alle ihre professionellsten Pokerfaces aus und sprechen nur über die Musik auf Yoongis Servietten.
So transkribieren sie einen Song nach dem anderen. Wenn man sonst nicht viel miteinander zu besprechen hat, steigt die Produktivität plötzlich bis ins Unermessliche. Die Zusammenarbeit läuft erstaunlich gut und tatsächlich haben sie sich als vorläufigen Titel des Albums, an dem sie gerade arbeiten, für You Never Walk Alone entschieden. Was echt seltsam ist, weil es sich für Jimin nach jeder Musiksession nur noch mehr danach fühlt, als würden sie bald alle getrennte Wege gehen.
Selbst zwischen Taehyung und ihm gibt es ungewohnte Schwingungen. Sie bekämpfen sie mit losen Sprüchen, sinnbefreiten Gesprächsthemen und einer Menge Sex. Die meiste Zeit funktioniert das. Zumindest im Bett läuft noch alles hervorragend zwischen ihnen. Zumindest wenn man dabei die Tatsache außer Acht lässt, dass sie in Jimins Vorstellung mittlerweile öfter zu dritt darin verweilen, als nur zu zweit. Was nicht nur scheiße ist, sondern wirklich völlig abgefuckt.
Wenn die Distanz zu Yoongi doch wenigstens dazu führen würde, dass Jimins unangebrachten Gedankengänge auch in einige Distanz rücken würden. Dann gäbe es wenigstens einen positiven Aspekt. Leider rücken sie Jimin nur immer weiter auf die Pelle und er weiß nicht, wie er sie loswerden soll. Sie sind verdammt hartnäckig und befallen sein Gehirn wie eine beknackte Virusinvasion. Kein Wunder, dass er deswegen immer stiller wird. Wenn man krank ist, hat man einfach keine Lust sich zu unterhalten.
Im Gegensatz zu Jimins Vorsatz vor zwei Wochen, hat er seitdem noch nicht mit Taehyung gesprochen. In manch unbeobachteten Moment hätte er sich beinahe dazu durchringen können. Meistens kurz vor dem Einschlafen am Morgen, wenn sich nur schwaches Dämmerlicht in das gemeinsame Schlafzimmer verirrt. Die halb hellen Flecken lassen alles so unwirklich erscheinen, wie die Vorstellung davon, irgendwann nicht mehr mit Taehyung zusammen zu sein. Diese Unwirklichkeit ist die einzige Szenerie, die Jimin sich vorstellen kann, um mit seinem Freund über seine Gedanken zu sprechen.
Denn die pure Möglichkeit, zukünftig nicht mehr mit Taehyung zu leben, ist genau der Punkt, der Jimin bislang davon abgehalten hat, mit seinem Freund über seine fehlgeleiteten Gefühle zu sprechen. Bislang konnte er mit Chap, seinem Seelenverwandten und Partner in Crime, immer alles teilen. Aber gehören die Gefühle, dass er gerne mit einem anderen Mann in die Kiste steigen möchte, auch dazu? Geht es wirklich nur um die sexuelle Anziehung? Die verruchte Vorstellung eines Dreiers? Was genau verbindet ihn mit Suga? Warum ist er so fasziniert von ihm?
Jimin ist sich absolut bewusst darüber, dass Taehyung ihm all diese Fragen stellen wird. Da ist es doch kein Wunder, dass es sich falsch anfühlt, das Thema überhaupt anzusprechen, wenn er doch noch keine einzige Antwort darauf präsentieren kann.
Heute proben sie gemeinsam an einem Lied, das Suga selbst The Last getauft hat. Min Yoongi ist tot, rappt er. Ich habe ihn umgebracht. Jimin läuft ein Schauer dabei über den Rücken. Das Lied berührt ihn anders intensiv und treibt ihm beim bloßen Zuhören schon die Tränen in die Augen. Der Anblick, der sich ihm bietet, macht es nur schlimmer.
Suga sieht heute besonders erschreckend aus. Seine Augenringe sind mal wieder mondkratertief, die Haut so blass wie die einer Leiche. Taehyung hat ihn gleich bei seiner Ankunft anstandslos unter die Dusche gesteckt, weil er so gestunken hat. Das Wasser hat Jimin für ihn angemacht, damit Yoongi den Raum erst betreten musste, als es kein Tropfen mehr gab, sondern lediglich ein konstantes Rauschen. Denn zumindest so viel haben sie aus ihm rausbekommen: Es gibt einen Auslöser für diese Anfälle und jener besteht aus einem tropfenden Geräusch. Kann daraus bestehen. Der tropfende Wasserhahn ist nur ein Trigger. Yoongis Blick hat ihnen gesagt, dass es noch viel mehr davon gibt. Vielleicht kennt er sogar selbst nicht alle. Jimin hat zwar nachgefragt, aber keine Antwort mehr erhalten. Die Mauer aus Schweigen anstatt einer Erwiderung ist ihm mittlerweile bekannt. Er kennt jeden Backstein davon. Manchmal sind leichte Risse zu erkennen und etwas Sonnenlicht fällt hindurch. Das sind die Momente, in denen man Min Yoongi eventuell doch noch eine Information entlocken kann. Bei diesen Fragen war die Mauer jedoch so massiv wie nie. Kein einziger noch so kleiner Spalt war zu sehen. Jimin fragt sich, ob Mauern, die im Kopf gebaut werden, wachsen können. Und wie man sie zu Fall bringt.
Seitdem versuchen sie, das Geräusch (sowie das generelle Gespräch darüber) tunlichst zu umgehen – zumindest bevor Suga ihre Wohnung betritt. Entweder dreht Taehyung vorher das defekte Teil des Hahns noch einmal fest oder sie legen einen Lappen ins Waschbecken, um das Geräusch zu dämpfen, und halten danach alle Pappmasche-Türen geschlossen.
Nach der Dusche hat Suga eine bequeme Jogginghose von Taehyung bekommen und dazu ein T-Shirt, das ihm viel zu groß ist. Der Anblick von Suga in der Kleidung seines Freundes löst in Jimins Herzen einige besorgniserregende Verrenkungen aus. Er hat nun schon seit einigen Wochen das Gefühl, dass das Organ immer spröder wird. Die Risse darin dehnen sich aus. Es fehlen schon ganze Lücken. Jimin weiß nicht, was passiert, wenn noch mehr davon abhandenkommt. Mit wie vielen Löchern im Herzen kann ein Mensch überleben?
Und trotzdem kann er sich nicht davon abhalten, Min Yoongi immer und immer wieder zu beobachten.
Min Yoongi ist tot. Ich habe ihn umgebracht,
rappt Suga gerade erneut. Es ist nicht ungewöhnlich, dass trotz seines natürlichen Talentes einige Passagen mehrfach eingesprochen werden müssen. Ehrlich, es wäre wohl eher verrückt, wenn dem nicht so wäre.
Min Yoongi lebt,
denkt Jimin. Auch wenn er gerade nicht wirklich danach aussieht. Mehr tot als lebendig, nur die Musik erhält ihn aufrecht. Die Töne stützen ihn.
Ich werde nicht zulassen, dass du ihn umbringst,
denkt Jimin wieder.
Er weiß nicht, wen er damit meint.
⊱ ────── ⋅❅⋅ ───── ⊰
„... geht's schlecht, oder?", fragt Taehyung und schreckt Jimin damit aus seinen Gedanken auf.
Die Tür hinter Yoongi ist gerade ins Schloss gefallen. Obwohl es nicht notwendig war, hat er ihn bis zur Haustür begleitet. Die drei Schritte. Als würde sich dabei etwas Monumentales verändern. Aber Jimin hofft immer, dass zumindest die letzten drei Schritte sie wieder näher zusammenführen, als die zwanzig Schritte es getan haben, die sie sich bei der heutigen Probe wieder voneinander entfernt haben. Dann wäre die Differenz immerhin nur bei siebzehn. Sein Plan ging nicht auf. Jetzt fühlt sie sich an wie dreiundzwanzig. Vielleicht ist dreiundzwanzig die Zahl, die ihn von Yoongi und Taehyung separiert.
Für einen Moment ist Jimin von der Frage wie paralysiert. Dir geht's schlecht, oder? Das ist es, was Taehyung gerade gesagt hat, oder? Weil sein Pokerface noch nicht sitzt, kann sich Jimin nicht direkt zu seinem Freund herumdrehen. Es war so klar, dass Taehyung sein Schweigen nicht ewig aushalten und irgendwann proaktiv danach fragen wird. Jimin ist nicht bereit für Antworten. Er ist nicht bereit zu antworten.
„Ihm geht's schlecht, oder? Yoongi", wiederholt Taehyung seine Frage, als er keine Antwort erhält. Er stellt die Frage auf diese Weise, als würde er davon ausgehen, dass Jimin ihn beim ersten Mal nicht gehört hat. Aber ist das nicht eine Falle? Eben hat er doch noch nach Jimin gefragt. Unmöglich, dass er sich so verhört haben kann...oder? Mittlerweile zweifelt Jimin an vielem. Sein Verstand ist nur eines dieser Dinge.
„Ich denke schon...", antwortet er zögerlich und dreht sich nun von der Tür weg. Er lehnt sich mit dem Rücken dagegen und begegnet dem Blick seines Freundes mit offenem Unwissen. „Er macht zumindest keinen guten Eindruck."
„Mhm", nickt Taehyung bestätigend. „Mir geht der Vorfall aus dem Badezimmer nicht aus dem Kopf..."
„Mir auch nicht...", gesteht Jimin und atmet mit einem Mal freier. Es tut gut zu wissen, dass sein Freund sich genauso viele Gedanken um den Vorfall macht, wie er.
„Ich habe im Übrigen doch mit Namjoon gesprochen... Über Yoongi. Über die Veränderungen in unserem Viertel..."
„Was? Hattest du dich nicht dagegen entschieden?", erwidert Jimin überrascht.
Taehyung nickt abwägend. "Ja... eigentlich schon, aber...", er zuckt hilflos mit den Schultern, "im Moment ist einfach alles so fucking undurchsichtig. Ich wollte einfach ein paar Antworten."
Allein die Betonung seiner Worte macht Jimin klar, dass Taehyung nicht nur von Yoongi spricht, den Kkangpae oder den Zuständen in Dalseo-gu. Es geht auch um ihn. Natürlich tut es das. Vielleicht hat Jimin sich am Anfang also doch nicht verhört. Vielleicht hat Taehyung nur auf halber Strecke der Mut verlassen. Das kann er gut nachvollziehen...
"Und?", fragt Jimin stattdessen, als hätte er den subtilen Vorwurf in Taehyungs Worten gar nicht mitbekommen, "hast du Antworten bekommen? Was hat Namjoon gesagt?"
Sein Freund wirkt enttäuscht, aber er hält nur einen kurzen Moment inne, um dem Gefühl Raum in seinem Ausdruck zu geben. Dann setzt er sein übliches Pokerface auf. Jimin kennt das. Taehyung benutzt es ständig. Gegenüber Wonho, gegenüber den Gästen im Club. Nur bisher war es nie notwendig, es auch gegenüber Jimin zu verwenden.
„Nichts Genaues...", antwortet Taehyung, "du kennst ihn doch. Seine Antworten sind bestenfalls ein neues Rätsel. Nur, dass Yoongi momentan ein paar Aufträge erledigt, an denen sich niemand sonst die Finger schmutzig machen will... Ein paar Sachen über den üblichen Drogenverkauf hinaus... Deswegen seh' ich ihn wohl auch nicht mehr so häufig im Interlude."
„Mhhmm... könnte seinen Zombielook neuerdings erklären...", überlegt Jimin laut, kann sich aber eigentlich kaum vorstellen, dass ein paar dreckige Aufträge die Lösung aller Geheimnisse sind, die Min Yoongi umgeben. "Und ansonsten? Über unser Viertel?"
„Noch weniger. Nur mysteriöses Gebrabbel darüber, dass die Grenzen verschwimmen, ein paar Leute zu invasiv werden, dass Anschaffungen getätigt werden müssen, bevor der Okkupator an noch mehr Macht gewinnt..."
"Okkupator?"
"Besetzer. Ich hab's nach unserem Gespräch gegoogelt."
"Jemand besetzt Dalseo-gu?", fragt Jimin nach, der sich nicht sicher ist, ob er alle Informationen gerade richtig aufgenommen hat.
"Jemand besetzt Daegu", korrigiert Taehyung. Dann rudert er zurück: "Also vielleicht. Keine Ahnung. Im schlimmsten Fall? Wie gesagt, Hyung war nicht eindeutig."
"Jemand? Die ganze Stadt? Ist das nicht ein bisschen zu krass?"
"Hier gehen viele krasse Sachen ab", lächelt Taehyung mild und wieder lässt sein Unterton verlauten, dass er von mehr spricht, als die offensichtliche Thematik hergibt. "Aber sind wir realistisch... Hyung kann nur die Geon-Dal Pa gemeint haben."
„Die Geon-Dal Pa haben in Dalseo-gu nichts zu suchen", spuckt Jimin aus, weil die Geon-Dal Pa Ungeziefer sind. Ein feindlicher Clan, der sich in der eigenen Stadt breitgemacht hat wie ein fettes Insekt. Eine ganze Plage davon.
„Das hat sie nur leider noch nie davon abgehalten, irgendwelche unsichtbaren Grenzen zu ignorieren...", gibt Taehyung zu bedenken. Die Geon-Dal-Pa sind schon lange in Daegu. So lange, dass kaum noch jemand davon spricht, dass sie eigentlich gar nicht hier sein sollten. Daegu ist Gebiet der Jo-Pok Pa. Um sich hier breitmachen zu können, waren sie bereit, die Straßen brennen zu lassen. Sie haben die Straßen brennen lassen. Die Jo-Pok Pa waren damals wenig vorbereitet auf den Übergriff. Im Versuch, eine friedliche Lösung zu finden, haben sie einige kleinere Randbezirke an die Geon-Dal Pa abgetreten. Es hat damals allen nur geschadet. Die Schutzgeldzahlungen wurden erhöht, weil man sich plötzlich vor einem realen Feind verteidigen musste (und vor allen Dingen deswegen, weil zahlungsfähige Bezirke weggefallen sind. Die Verluste mussten kompensiert werden).
Das Schweigen darauffolgende Schweigen zwischen Jimin und Taehyung ist konzentriert und angespannt und vor allen Dingen ungewohnt. Schon oft haben sie gemeinsam über einem Problem gebrütet. Sicher, es waren nie solch Fundamentale, aber trotzdem haben sie zusammen nach der Lösung gesucht. Jetzt fühlt es sich nicht danach an. Taehyung sitzt in der einen Ecke des Flurs, Jimin in der anderen. Das hier ist nicht mehr gemeinsam.
„Wonho", sagt Jimin dann und erntet eine hochgezogene Augenbraue seines Freundes, der diesem Gedankensprung noch nicht folgen kann. „Wonho patrouilliert die Straßen öfter als gewöhnlich. Vielleicht wollen sie hier anfangen..."
„Dalseo-gu? Was wollen die denn mit unserem Drecksviertel?"
„Es könnte sein, oder nicht?", folgt JImin seinem Gedankengang. "Wir sind klein, aber wir sind viele. Es könnte sie in eine gute Position bringen..."
"Weniger Gegner?"
"Ja? Warum nicht?"
„Oder mehr Geld... Viele Menschen gleich viele Menschen, die sinnlose Schutzgebühren bezahlen können."
"Können wir was dagegen tun?", überlegt Jimin laut, der zwar nicht mit erhobener Waffe gegen die Geon-Dal Pa in den Straßenkrieg ziehen will, aber dem sich die Fußnägel allein bei der Vorstellung hochrollen, diesem Gesindel auch nur einen Cent zu zahlen.
"Abhauen?", schlägt Taehyung vor, wieder zucken seine Schultern nach oben. Dann lässt seine Pokerface-Mimik auf den Boden fallen und streckt Jimin anstatt seiner Hand zumindest ein Lächeln entgegen. "Keine Ahnung. Ich bin nicht das Superhirn in unserer Familie."
„Stimmt. Die ganzen grauen Zellen hat wohl Namjoon abbekommen", stimmt Jimin zu und versucht, das Lächeln zu erwidern. Sein linker Mundwinkel macht irgendwelche hilflosen Verrenkungen. Immerhin.
„Apropo – Wann hast du überhaupt mit ihm gesprochen?", setzt Jimin schnell nach, damit sich keine Stille zwischen ihnen ausbreiten kann. Die seltsamen Schwingungen sind so schon unerträglich. Wenn sie sich jetzt auch noch anschweigen, dann implodiert er.
„Er war im Interlude. Hat gesagt, dass er mich nur an der Arbeit besuchen will, aber ich hab' schnell gecheckt, dass er auch da ist, um das Schutzgeld einzutreiben. Es scheint, als würde er jetzt wieder öfter das Schutzgeld für die Kkangpae einsammeln müssen", erzählt Taehyung weiter. Der Zug um seine Mundwinkel verrät, wie unzufrieden er mit dieser Entwicklung ist.
Jimin nickt bestätigend: „Im Café war er auch schon..."
„War er? Du hast gar nichts gesagt."
„Doch, klar. Ich hab' dich sogar von ihm gegrüßt."
„Aber du hast nicht erzählt, dass er wegen des Schutzgeldes da war, das meine ich."
„Mhhmm", macht Jimin überlegend und kramt für einen Moment in seinem Kopf nach der Erinnerung. „Du könntest recht haben. Es kam mir nicht...wichtig?...genug vor. Ich dachte, es sei eine Ausnahme."
Taehyung nickt bestätigend, macht dadurch deutlich, dass er Jimins Gedankengang nachvollziehen kann. Dann lehnt er seinen Kopf gegen die Wand. An die kleine Fläche zwischen dem Eingang ins Badezimmer und dem Eingang ins Schlafzimmer. Drei Schritte trennen sie, dann wäre Jimin bei ihm und könnte sich an ihn lehnen. Er weiß nicht, warum er nicht einfach aufsteht und zu seinem Freund geht. Normalerweise würde er das tun. Sie haben die Chance auf Distanz zwischen sich nie zugelassen, aber jetzt sind sie Zuhause und selbst drei Schritte fühlen sich nach viel mehr an. Wie dreiundzwanzig vielleicht, die gleiche Wegstrecke, die ihn auch von Yoongi trennt, und Jimin seufzt tief.
„Ja...mir macht es auch Sorgen", versteht sein Freund das Seufzen falsch. „Ich wünschte, Namjoon hätte mit solchen Dingen nichts mehr zu schaffen. Er ist zu sanft dafür."
„Er ist ein ziemlich großer, breiter Junge, mit jeweils einer Waffe an jeder Seite seiner Hüfte. Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst."
„Äußerlich vielleicht", schnaubt Taehyung belustigt und sieht dabei rein gar nicht belustigt aus. „Innerlich ist er sanft wie vierlagiges Klopapier. Der kann keiner Fliege was zuleide tun und bei seiner Tollpatschigkeit, ist der Einzige, der sich an seinen Messern verletzt, nur er selbst..."
„Vierlagiges Klopapier?", wiederholt Jimin ungläubig. „Woher weißt du denn, wie sich vierlagiges Klopapier anfühlt?" In sparsamen Monaten können sie sich nicht mal das Zweilagige leisten.
„Ich träum' manchmal davon", grinst Taehyung über die gesamte Länge des Flurs hinweg und obwohl alles seltsam ist, kann sich Jimin diesem Grinsen noch weniger entziehen als den Kkangpae. Das Grinsen zieht Jimin ihn an wie verschimmeltes Obst die gierigsten Fruchtfliegen und scheinbar ist Jimin genau das. Die gierigste Fruchtfliege und er surrt zu seinem Freund herüber.
„Ich dachte, du träumst nur von mir und deinem neuen Skin bei Fortnite?", schlägt er eine silbrige, verspielte Nuance an.
Taehyung zuckt unschuldig mit den Schultern und erklärt: „Ich bin immer für eine Überraschung gut."
„Das bist du", erwidert Jimin, lässt sich gegen ihn fallen und verschließt ihre Lippen zu einem überraschend heftigen Kuss. Die Leidenschaft überrollt ihn wie eine Welle, begräbt ihn unter sich. Taehyung reißt es mit. Im gleichen Moment zerren sie auch schon in wilder Verzweiflung T-Shirts über den Kopf und Hosen auf den Boden. Ins Schlafzimmer schaffen sie es nicht mehr. Doch auch, als Taehyung in ihm ist, fühlt es sich immer noch an wie dreiundzwanzig Schritte Distanz zwischen ihnen.
⊱ ────── ⋅❅⋅ ───── ⊰
Wie fühlt es sich an, wenn man sich entliebt? Wie fühlt es sich an, wenn man die Liebe verliert?
Jimin steht still vor der Kaffeemaschine und fragt sich, welcher Handgriff der nächste ist. Eigentlich kennt er die Bewegungen. Jede einzelne. Er hat sie tausende Male ausgeführt. Er dachte, er könnte sie im Schlaf ausführen. Dachte, er würde sie niemals in seinem Leben wieder vergessen.
Jetzt steht er davor und weiß nicht, was er machen soll.
Fühlt es sich so an, wenn man sich entliebt?
Vergisst man, wie Dinge funktionieren, die man schon hunderte Male zuvor gemacht hat? Selbst so etwas Simples wie Kaffee machen, wenn man in einem Café arbeitet? So etwas Natürliches wie...Sex?
Jimin hat eben noch mit Taehyung geschlafen. Er hat die Augen dabei offengehalten und die Gedanken an Yoongi ausgesperrt. Sich nur auf seinen Freund konzentriert.
Es sollte nicht so schwer sein, das zu tun. Es war so verdammt schwer.
Der Rapper hat sich immer wieder zwischen sie geschoben, Taehyungs Hände mit seinen ersetzt, Jimins Zunge mit seinen eigenen Lippen gefangen. Jimin hat sich davor verschlossen. Vor den Bildern, vor der Einbildung, vor den Konsequenzen, die diese Vorstellungen irgendwann zwangsläufig mit sich bringen werden. Das Ergebnis? Er konnte sich auch seinem Freund gegenüber nicht mehr öffnen.
Es ist das erste Mal seit dem Beginn ihrer Beziehung, dass Jimin den Sex mit Taehyung nicht genießen konnte.
Fühlt es sich so an, wenn man die Liebe verliert?
Wird man einander fremd? Fühlen sich vertraute Handlungen nicht mehr vertraut an? Wird die Vertrautheit von etwas ersetzt, das sich...dazwischenschiebt? Entsteht dadurch Distanz? Jimins Herz reißt weiter. Wenn er nicht aufpasst, dann bricht es bald.
Die Vorstellung, nicht mehr in Taehyung verliebt zu sein, reißt ihn auseinander. Es fühlt sich falsch an, unnatürlich. Niemals kann es sich so anfühlen, wenn man sich entliebt. Der Vorgang sollte nicht so schmerzhaft sein, nicht so bewusst. Eher leise und unauffällig. Als würde man einen Schlüsselanhänger verlieren, der sich viel zu lange nur aus bloßer Gewohnheit am Schlüsselbund befand. Die Zuneigung dafür ist schon lange erloschen, kaum noch eine Erinnerung wert. Trotzdem tragen wir ihn weiterhin mit durchs Leben. Nehmen ihn überall mit hin. Diesen alten Schlüsselanhänger, obwohl er eigentlich nur Ballast ist. Alte Liebe, die man zu verlieren bereit ist, sollte sich anfühlen wie Ballast. Und irgendwann laufen wir durch die Straßen und der Metallring löst sich und ohne, dass wir es merken, werden unsere Schritte leichter. So hat sich Jimin Entlieben vorgestellt. Leise. Leichter.
Nicht so. Nicht wie Zerreißen. Nicht wie vor der Kaffeemaschine stehen und vergessen, wie man sie bedient.
Die Glocke über der Tür klingelt leise. Jimin kann sich nicht daran erinnern, was das Geräusch bedeutet. Seine Gedanken fressen ihn auf. Er hat sich selten so sehr vor sich selbst erschreckt. Er konnte Taehyung nicht einmal mehr in die Augen sehen. Wie erklärt man etwas, für das man selbst keine Worte findet? Jimin muss mit Taehyung sprechen. Die Dringlichkeit wird immer präsenter, lässt sich mittlerweile kaum noch ignorieren oder überspielen. Er sollte es von sich aus tun. Er sollte nicht darauf warten, dass ihn sein Freund darauf ansprechen muss. Er sollte es Taehyung nicht auch noch zumuten müssen, dass er selbst die Initiative ergreifen soll. Wie fragt man nach etwas, das man selbst nicht hören will? Vermutlich kennt Taehyung die Antwort auch nicht.
Jimin schreckt zusammen, als eine vorsichtige Hand ihn sanft an der Schulter berührt. Sie führt ihn zurück ins Hier und Jetzt. Die Bilder vor seinem inneren Auge lösen sich auf wie eine Fata Morgana. Die Kaffeemaschine. Das Klingeln der Glocke. Er ist im Café. Plötzlich ist ihm wieder glasklar bewusst, dass er das Kaffeesieb herausnehmen muss, um es von dem alten Kaffeepulver zu säubern. Er muss neue Bohnen nachfüllen. Er muss den Wasserstand überprüfen. Er muss...
„Jimin?", fragt ihn eine nicht ganz vertraute Stimme. Eine Stimme, die vielleicht Distanz schafft. Es ist Yoongi. „Ist alles in Ordnung?"
Nichts ist in Ordnung.
Als Jimin sich etwas zu schwungvoll umdreht, um Yoongi die Antwort mit seinem ganzen Frust ins Gesicht zu klatschen, unterschätzt er den Abstand zwischen ihren beiden Körpern. Yoongi steht viel dichter an ihm, als er vermutet hat. Anstatt ihm eine patzige Antwort in die Fresse zu klatschen, klatscht nur sein Körper gegen seinen. Jimin verliert das Gleichgewicht, stolpert einen Schritt zurück, streckt die Hand aus, um am Tresen Halt zu finden, aber merkt selbst, dass er einen Tick zu weit davon entfernt ist. Er greift ins Leere. Jimin fällt.
Es muss ein Reflex sein. Zumindest bleibt Yoongis Gesicht so ausdruckslos, dass es vollkommen auszuschließen ist, dass ihm auch nur irgendetwas etwas bedeutet. Starke Arme umschließen Jimin und halten ihn fest. Jetzt berühren sich ihre Körper ganz endgültig. Ihre Gesichter sind sich so nah. So nah, wie sie sich bisher nur in Jimins Fantasie gekommen sind. Die Realität hat mal wieder nichts mit seinen Wunschvorstellungen zu tun. Yoongi sieht ihn nicht lustverhangen an. Im besten Fall ist er...überrascht. Er sieht genauso schrecklich aus, wie Jimin sich fühlt. Auf seiner rechten Gesichtshälfte erblüht ein tiefvioletter Bluterguss, der heute Nachmittag ganz sicher noch nicht da war. Ein Veilchen. Jimin weiß nicht mal, dass es in schöneren Gegenden auch Blumen gibt, die danach benannt sind. Hier gibt es nur Verletzungen mit dem Namen. Unter Yoongis Nase klebt getrocknetes Blut in einer verwischten Spur. Scheinbar hat Yoongi zumindest versucht, es loszuwerden, bevor er das Serendipity betreten hat. Mit Sicherheit war das keine glückliche Fügung, sondern vielmehr ein armseliger Versuch.
„Nichts ist in Ordnung", flüstert Jimin atemlos und kapituliert. Indem er zum ersten Mal nicht nur die wichtigen Worte denkt, sondern sie auch ausspricht. Die gute Art von Aufgeben. Die Aufgabe, die frei macht. Jimins Hand, die eben noch ins Leere gegriffen hat, erwidert nun die unfreiwillige Umarmung Yoongis. Jetzt ist es nicht mehr unfreiwillig. Jimin macht aus der zufälligen Berührung eine gewollte. Und er sieht ein, dass sein Versuch einer patzigen Antwort ebenso armselig war wie der Versuch von Yoongi, die neuen Blutspuren zu vertuschen.
Es ist unerwartet, aber nicht unwillkommen, dass Yoongi ihn nicht loslässt, obwohl Jimins Füße wieder zu einer stabilen Position zurückgefunden haben. Stattdessen stehen sie sich weiter ganz nah gegenüber, leise, unbewegt. Kein anderer Gast befindet sich im Café.
Jimins zweite Hand bewegt sich wie von selbst auf Yoongis Gesicht zu. Sie gehört nicht mehr zu seinem Körper. Sie wird fremdgesteuert, ferngesteuert und sie umfasst das Kinn seines Gegenübers auf die sanfteste Art und Weise. Jimins Daumen verirrt sich auf Yoongis Unterlippe. Er streicht darüber, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Beobachtet fasziniert, wie das weiche Fleisch unter dem Druck seiner Daumenkuppe nachgibt. Yoongi weicht nicht zurück und das Gefühl ist elektrisierend. Jimins Hand – denn auch, wenn sie ihm nicht mehr aktiv gehorcht, gehört sie doch immer noch zu ihm – wird mutiger. Sie verlässt die sündige Unterlippe, streicht an der Wange entlang. Fährt vorsichtig die Konturen des Blutergusses nach, liebkost sie so federleicht, als könnte sie damit die Schmerzen von ihm nehmen.
„Nichts ist in Ordnung", bestätigt Yoongi.
Ihre Blicke treffen sich und sie sind gefangen in dem Moment. In Yoongis Augen eröffnet sich ein neues Leben. Es ist sehr weit entfernt, ähnlich wie der Himmel. Seine Augen sind ein Nachthimmel aus Musik. Jimin kann Texte erkennen, Rhythmen und Melodien. Da funkeln Töne am Firmament und werden von Schatten umspielt. Da sind Träume und ungeschriebene Strophen und irgendwas daran ist trotzdem so, so falsch. Jimin sieht genauer hin, weil er den Fehler erkennen will. Es funktioniert nicht. Manchmal besteht der Fehler nur in einem Buchstaben. Jimin kann ihn nicht sehen. Er sieht diese berauschende Mischung in Yoongis Augen und versinkt in dem Lied, das sie für ihn singen. Alle seine Sinne verklären sich. Was Yoongi wohl in Jimins Augen sehen kann? Ob da auch ein Fehler ist?
„Was ist nicht in Ordnung?", fragt Jimin, als hätte Yoongi nicht nur seine eigenen Worte wiederholt.
„Alles", flüstert Yoongi.
Jimin will ihn küssen. Jimin will ihn fragen, was das bedeutet. Jimin will alles. Wie kann das falsch sein, wenn es sich doch so richtig anfühlt?
Seine Hand wandert noch einmal an der verletzten Gesichtshälfte hinab, verlässt das Violett und begibt sich zu glänzend Rosa. Yoongis Lippen sind verlockend und verführerisch und Jimins Gedanken werden blank. Seine Augen folgen der Spur seiner Hände. Er muss sich nur nach vorne beugen und die Berührung seines Daumens durch seine Lippen ersetzen. Es ist so einfach. In seinen Träumen hat er es schon hunderte Male getan.
„Was bedeutet das? Alles?", flüstert Jimin stattdessen und es ist wirklich nur ein Hauchen.
„Es bedeutet, dass es nicht geht", antwortet Yoongi rätselhaft. Dann wendet er sich ab und steuert ohne einen weiteren Blick seinen Standardtisch am Fenster des kleinen Cafés an.
„Machst du uns einen Kaffee?", fragt er und es klingt das erste Mal wie eine Einladung.
"Was geht nicht?", antwortet Jimin einer Gegenfrage, denn... was? Denken sie das Gleiche? Bezieht sich Yoongis Antwort auf all' die Fragen, die Jimin mit seinem Körper gestellt hat? Mit der Berührung seiner Finger?
"Alles", wiederholt Yoongi lediglich und in seinen Augen tanzen Töne und Singen von Fehlern, Sehnen und Bedauern. "Bringst du uns Kaffee? Bitte?"
Die Bitte ersetzt das kalte Prickeln in Jimins Fingerspitzen sicher nicht, es macht das heiße Sehnen in seiner Brust nicht wieder wett. Aber Yoongi ist verletzt und Jimin will ihn nicht nur küssen, er will auch Antworten, will mit dem Phantom sprechen, das er bis heute nie richtig verstanden hat. Vielleicht ist jetzt endlich der richtige Zeitpunkt dafür, sich kennenzulernen. Er wendet sich erneut der Kaffeemaschine zu. Jimin wollte bereits vor Yoongis Ankunft frischen Kaffee für ihn kochen. Er hatte nur vergessen, wie es geht. Jetzt weiß er es wieder.
Jimin lässt sich Zeit mit dem Vorgang, um sich auf das folgende Gespräch vorzubereiten. Vielleicht kann er noch nicht mit Taehyung sprechen, aber er kann mit Yoongi reden. Er kann es zumindest probieren.
⊱ ───~─── ⊰
„Wie ist das passiert?", wagt sich Jimin vorsichtig heran. Er hat gegenüber von Yoongi Platz genommen und genießt den Umstand, dass er Nachtschichten immer allein übernimmt. Er hat das Schild an der Ladentür kurzerhand auf geschlossen gedreht. Was er für Wonho kann, kann er für Yoongi schon lange. Er wird es ändern, wenn er und Suga mit ihrer Unterhaltung fertig sind. Bis dahin sagen ihm seine Instinkte, dass es besser ist, wenn sie dieses Gespräch in Ruhe führen. Es gibt so viel, das gesagt werden muss.
„Kkangpae", knurrt Yoongi in den Rand seiner Kaffeetasse. Wortwörtlich. Er beißt darauf herum, als wäre sie ein Knochen und er ein tollwütiger Hund. Es ist eine merkwürdige Geste. Jimin hat sie noch nie an ihm beobachtet.
„Geon-dal Pa?", erkundigt sich Jimin deutlich gefasster, als er von sich selbst vermutet hätte. Er hat das Gefühl, dass alle Stricke vor ihm liegen. Er muss sie nur richtig miteinander verknoten, damit sich ein Bild ergibt.
„Jo-Pok Pa", antwortet Yoongi und sorgt damit für einen Moment bedrückter Stille an ihrem Tisch. Es ist nicht die Antwort, mit der Jimin gerechnet hat.
„Aber...", beginnt Jimin und weiß nicht, wie er sich ausdrücken soll, ohne wie ein vollkommener Idiot zu klingen. „Das ist dein Clan?", sagt er und lässt es wie eine Frage klingen.
Yoongis trockenes Lachen ist seine Antwort. Diesmal klirrt das Porzellan, als er etwas zu fest in den Rand seiner Tasse beißt. Jimin würde ihm ja einen Muffin bringen, wenn er nicht genau wüsste, dass die Handlung nicht aus Hunger, sondern vielmehr aus Frustration geboren ist. Beißende Verzweiflung sozusagen. Und dann verbinden sich plötzlich zwei Stricke miteinander. Jimin zieht den Knoten fest und sieht klar.
„Es ist nicht dein Clan", korrigiert er sich.
Yoongi nickt bedächtig. „Es ist nicht mein Clan", bestätigt er. „Sie haben mich aufgenommen und ich hatte... nicht besonders viel Mitspracherecht."
„Ich dachte, man tritt freiwillig bei? Die meisten treten freiwillig bei", wirft Jimin unüberlegt ein, obwohl er die Validität seiner Aussage gar nicht abschätzen kann. Namjoon ist freiwillig beigetreten. Taehyung damals beinahe auch. Wonho in jedem Fall. Aber was ist mit all' den anderen Mitgliedern?
„Du bist kein Kkangpae", flüstert Yoongi nun. Die Lippen um den Rand seiner Tasse geschlungen, immer wieder einen kleinen Schluck nehmend und abwechselnd sich die Zähne daran ausbeißend. „Taehyung ist kein Kkangpae. Ihr versteht das nicht."
„Taehyung wäre es fast geworden", stellt Jimin sanft richtig. Er wischt den überraschten Ausdruck auf dem Gesicht seines Gegenübers mit einer flüchtigen Handbewegung weg. „Aber das ist eine Geschichte für einen anderen Tag", erklärt er ruhig. „Es hängt mit Namjoon zusammen."
„Ich wusste es", sagt Yoongi, weil er die Essenz von Jimins Aussage sofort begreift. „Dass man austreten kann. Den Jo-Pok Pa entkommen. Ich dachte nur, es wäre eher blasse Theorie als tatsächliche Praxis."
„Es passiert wohl recht selten", muss Jimin ihm leider zugestehen. "Dass jemand austreten möchte." Er dreht seine eigene Kaffeetasse in den Händen, ebenfalls schwarz, und erinnert sich mit einem schmerzenden Herzen daran zurück, dass er sich vor ein paar Wochen gewünscht hat, mit dem Phantom an einem Tisch zu sitzen und einfach nur zu reden. Jetzt erfüllt sich sein Wunsch und doch schmerzt sein Herz immer noch. Sein Wunsch ist gewachsen. Die Unterhaltung reicht nicht mehr, um es zu erfüllen. Aber es muss reichen. Es ist alles, was möglich ist. Erlaubt ist.
"Es passiert öfter als du denkst", widerspricht Yoongi. "Nur es kommt dann nie dazu."
"Warum?", fragt Jimin und schämt sich für seine bisherige Naivität. Er ist mit den Jo-Pok Pa aufgewachsen. Die Kkangpae waren schon immer ein Teil seines Lebens. Er hat sie so wenig hinterfragt wie den Rest seines Daseins. Erst jetzt bemerkt er, wie leicht er es sich damit gemacht hat.
„Die Jo-Pok Pa erheben Blutschulden."
„Mhm", bejaht Jimin. Er hat von dem Konzept gehört, aber es nicht als besorgniserregend empfunden. „Ich weiß. Namjoon hat sie von Taehyung übernommen und beglichen."
Etwas an dieser Aussage lässt Yoongi kreidebleich werden und den Blick senken. Ihr Dialog ist leise und vorsichtig und es dauert etwas, bis Jimin begreift, dass er gerade zum Erliegen kommt, wenn er nicht weiterspricht. Er kombiniert die vorherigen Aussagen und kommt nur zu einem einzigen schlüssigen Ergebnis.
„Das ist, was dir passiert ist", erkennt Jimin, „Du hast Blutschulden."
„Mein Vater."
Peng. Da ist ein Loch im Kopf und es tropft, tropft, tropft.
Es ist Erklärung genug, denkt Jimin, auch wenn er so viel mehr wissen möchte.
„Du kannst sie abbezahlen", sagt er und es ist der traurigste Versuch einer Aufmunterung, den er jemals unternommen hat. Warum ist er nur so grandios schlecht darin?
„Ich versuche es", bestätigt Yoongi, der sich von dem schlechten Versuch weder aufgemuntert noch angegriffen fühlt. Er blickt weiterhin ausdruckslos in seine Kaffeetasse und verbeißt sich lustlos in den Porzellanrand. „Es ist nicht sonderlich erfolgreich", führt er aus und Jimin bucht es trotzdem als Erfolg, weil Yoongi seiner Aussage einen zweiten, nichtssagenden Teil anhängt, nur damit ihre Unterhaltung weiterläuft. Das macht er so selten, dass es sich jedes Mal wie eine neue Errungenschaft anfühlt.
„Die Drogendeals?", fragt Jimin nach, aber es geht nur darum, das große Gesamtbild zu klären und endlich logische Verbindungen zu schaffen.
„Werfen zu wenig Geld ab", antwortet sein Gegenüber trocken. Seltsam. Auch nachdem sie Stunden miteinander verbracht haben, lassen die dunklen Augen und die blasse Haut ihn immer noch wie ein Phantom wirken. Er macht zumindest immer noch den gleichen undurchschaubaren Eindruck.
„Deswegen... das?", fragt Jimin und deutet unbeholfen auf die lilanen Verletzungen in Yoongis Gesicht. Sie blühen wirklich so intensiv wie Blumen.
„Nein", schnaubt Yoongi, aber es ist natürlich noch keine Erklärung. Jimin zeigt sich geduldig, auch wenn es ihn beinahe um den Verstand bringt. Er starrt abwechselnd in seinen eigenen Kaffee und auf Yoongis Lippen und kann nicht vergessen, wie die weiche Haut unter dem Druck seines Daumens nachgegeben hat. Kann nicht aufhören, daran zu denken, dass Yoongis Mund so schmecken muss wie sein Kaffee. Alles, erinnert sich Jimin. Was geht nicht? - Alles. Aber vielleicht geht es doch. Jimin will, dass es geht,
„Das ist mein neuer Auftrag", beginnt das Phantom tatsächlich nach einigen Momenten. Er beißt nach seinen Worten wieder zu, in den Tassenrand, in seine Lippe, auf seine Zähne. Es klirrt und knirscht. Seine Gesichtsmuskeln verspannen sich. Dann lässt er los. „Ich darf nicht darüber reden, was es ist."
Jimin nickt nur. Diese Aussage ist ihm so bekannt wie die vier Wände ihrer Wohnung. Es ist das, was Wonho sagt. Es ist das, was Namjoon sagt. Immer.
„Aber sie möchten, dass ich es zusammen mit Jungkook mache. Ich habe nein gesagt. Das war ihre Reaktion."
„Dramatisch", erwidert Jimin ironisch, weil ihm nichts Besseres einfällt. Yoongi scheint die Aussage zu amüsieren. Immerhin das.
„Ja. Sie mögen es dramatisch", stimmt er zu.
„Sollen wir es kühlen?", fällt Jimin plötzlich ein und er ist im gleichen Moment schon im Begriff dazu, aufzustehen und in der Küche nach einem Kühlakku zu suchen. Die Bestätigung seines Gegenübers wartet er nicht mal mehr ab. Zwischendurch fragt er sich, ob sein Abgang wie eine Flucht wirkt, weil er Yoongis Geschichte nicht hören will. Denn...er will sie hören. Er wünschte sich nur, es wäre eine andere.
In der Gefriertruhe findet er eine großen Beutel Crushed-Ice, obwohl er sich sicher ist, dass sein Chef gewissenhaft genug ist, gegen mögliche Brandverletzungen auch irgendwo ein richtiges Kühlakku zu lagern. Jimin weiß nur nicht, wo. Er blickt sich noch ein paar Mal suchend um und bemerkt dabei, wie wenig gewissenhaft er selbst seine Umgebung wahrgenommen hat. Jetzt zahlt sie es ihm heim. Jimin atmet tief durch und tritt mit dem Crushed-Ice und einem Geschirrtuch bewaffnet den Rückzug an.
„Hier", sagt er zuerst. Und dann: „Kannst du es denn allein machen? Das, was die Jo-Pok Pa von dir verlangen?" Jimin hat Angst vor der Antwort. Es hilft ihm dabei zu verstehen, warum ihn Taehyung sicher noch nicht auf die Fragen angesprochen hat, die ihm selbst durch den Kopf gehen müssen.
„Ich denke nicht", gesteht Yoongi. Seine Zähne haben den Rand der Tasse losgelassen und seine rechte Hand hält das umwickelte Paket Eis an seinen Wangenknochen. Seine Hände zittern, aber das Bild ist so gewohnt, dass Jimin es kaum wahrnimmt. „Aber ich mache es lieber trotzdem allein, als Jungkook in die Sache zu involvieren."
„Hast du ihn denn gefragt?"
„Das muss ich nicht."
Auch das erinnert Jimin an Namjoon. „Ist das so eine Große-Bruder-Sache?", fragt er und denkt daran, dass Namjoon die Karriereleiter der Jo-Pok Pa ungewöhnlich schnell emporgestiegen ist, nur um seinen dazu gewonnen Einfluss zuerst dafür zu nutzen, um Taehyung von allen Aufträgen zu befreien und den Aufnahmeritus zu stoppen, bevor in Gang kommen konnte.
„Alles dafür zu tun, um den kleinen Bruder zu beschützen?", spezifiziert Jimin.
„Hast du Geschwister, Jimin?", antwortet Yoongi mit einer Gegenfrage und seine Mundwinkel verziehen sich zu dem kleinsten Hauch eines gewinnenden Lächelns, als Jimin verneinend den Kopf schütteln muss. „Dann verstehst du es nicht. Diese Große-Bruder-Sache. Aber ja, ich denke tatsächlich, dass es sie gibt."
„Sie erscheint mir schwierig", wagt Jimin zu behaupten, obwohl er diese Art von Gefühlen wohl wirklich nicht versteht. „Wenn sie dich dazu bringt, Sachen allein zu tun, die eigentlich nur zu zweit getan werden können."
„Das ist sie", antwortet Yoongi, „aber sie ist es wert."
„Das kann ich nicht beurteilen", ist die schnelle Erwiderung, obwohl Jimin innerlich an Taehyung und Namjoon denkt und wie sie sich ständig Sorgen umeinander machen und in allen Dingen füreinander einstehen. Vielleicht hat sein Gegenüber doch Recht.
„Wenn es einzeln nicht erledigt werden kann, aber du Jungkook nicht fragen willst und es deswegen allein machst", überlegt Jimin laut. „Was ist dann das Ergebnis?"
Das verdrießliche Schulterzucken von Yoongi ist sicher nicht die Reaktion, die er sich erhofft hat. Um ehrlich zu sein, ist es ziemlich deprimierend.
„Ich lass' es drauf ankommen", sagt das Phantom schließlich wenig spezifisch und es ist deswegen kein Wunder, dass in Jimins Kopf die Zeile nachklingt: Min Yoongi ist tot. Ich habe ihn umgebracht.
„Gibt es keine bessere Option?"
„Für mich nicht."
Ich werde nicht zulassen, dass du dich umbringst, denkt Jimin erneut und sagt es zum zweiten Mal nicht laut. Stattdessen steht er auf und greift nach ihren leeren Tassen. Geht damit zurück hinter den Tresen, stellt sie ab und geht zur Eingangstür. Das Schild dreht er zurück in die ursprüngliche Position. Geöffnet steht da jetzt und wenn er Glück hat, hat gar niemand den unglücklichen Umstand bemerkt, dass das Serendipity für einige Minuten nicht mehr für alle Besucher zugänglich war. Jin wäre sicher nicht erfreut darüber.
Er füllt Yoongis Tasse mit neuem, heißem Kaffee, schnappt sich die weißen Papierservietten wie immer und bringt sie an seinen Tisch. Er bleibt für einen kurzen Moment daneben stehen. Beobachtet still, wie Yoongi das halbgeschmolzene Crushed-Ice beiseite legt und in der Bauchtasche seines Hoodies nach seinem Stift kramt. Er benötigt keinen Moment Bedenkzeit, bis sich der Stift auf die weiße Unterlage senkt und die ersten krakeligen Hangul-Zeichen darauf erblühen. In Yoongis Kopf ist immer zu viel und er sagt zu wenig.
Jimin fühlt sich gerade genauso.
Er bleibt stehen, bis sich die Gedanken in seinem Kopf sortiert haben. Es dauert, aber dann sagt er: „Es wird eine bessere Option geben. Ich werde sie finden." Jimin weiß selbst nicht, was genau er damit meint, außer du wirst nicht sterben und ich will nicht, dass du stirbst.
Die Worte sind zu wenig, aber Jimin dreht sich trotzdem um und lässt Yoongi schreibend am Tisch zurück.
Es ist seltsam. Manchmal grübeln wir über einem Problem und egal, wie sehr wir uns anstrengen oder wie sehr wir es wollen, es gibt einfach keine Lösung dafür. Keine richtige Antwort auf unsere Fragen. Jede mögliche Option lässt uns unzufrieden zurück. Und dann passiert etwas. Etwas ganz anderes, das mit unserem Problem gar nichts zu tun hat (oder vielleicht doch?) und erst die Ablenkung ermöglicht es, dass wir klar sehen können. Das kennst du, oder? Das kennen wir doch alle. Wir finden die Lösung erst dann, wenn wir nicht mehr danach suchen. Vielleicht, weil wir erkannt haben, dass wir uns die ganze Zeit über die falsche Frage gestellt haben. Und wenn wir es uns dann endlich die richtige Frage stellen, ist die Antwort plötzlich ganz leicht.
Als Jimin das nächste Mal vor der Kaffeemaschine steht, weiß er immer noch nicht, wie es sich anfühlt, wenn man die Liebe verliert. Aber er weiß jetzt, wie es sich anfühlt, wenn man sie findet.
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