+ erst(e) fragen & prolog;;

bitte beachtet die triggerwarnungen in den kommentaren 💜

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erst(e) fragen

Hast du dich schon einmal gefragt, warum wir nicht über die Geschehnisse sprechen können, die wir im traurigen Versuch es trotzdem zu tun, allgemein als grausam oder schrecklich bezeichnen? Warum fühlen wir die schlimmsten Dinge, aber können ihnen keinen Ausdruck verleihen?

Ich hab's mich oft gefragt.
Jedes Mal, wenn jemand zu mir sagte: Wie geht's dir?
Wie geht's mir? Das ist schon lange keine Frage mehr, die einfach zu beantworten ist. Nicht, wenn die Worte dafür gar nicht existieren.

Jetzt versuche ich es auf einem anderen Weg.
Jeder weiß, dass es Erlebnisse, Geschehnisse, Gefühle gibt, über die nicht gesprochen werden kann. Jeder hat die Erfahrung schon gemacht, wenn auch sicher in unterschiedlicher Intensität.
Ich glaube, dass der Grund für unsere Sprachlosigkeit in den neurowissenschaftlichen Grundlagen zu finden ist.

Denn:
Unser Großhirn denkt in Worten und Sinnzusammenhängen. Unser Zwischenhirn denkt in Bildern und Gefühlen.

Wenn wir etwas erleben – einen äußeren Reiz wahrnehmen – dann kommt er zuerst im Zwischenhirn an.

Das Problem ist: Manche Reize übersteigen unsere Wahrnehmungskapazitäten. Das kann aber erst unser Zwischenhirn bemerken und da ist es dann eigentlich schon zu spät. Wenn die Erlebnisse so groß (und mit groß meine ich: schrecklich) sind, dass der Reiz vom Zwischenhirn nicht verarbeitet werden kann, dann kappt das Zwischenhirn in einem Art Selbstschutz- und Überlebensreflex die Verbindung zu unserem Großhirn. Frei nach dem Motto: Es ist schlimm genug, dass ich dieses Bild sehen muss. Ich muss es nicht auch noch verstehen.

Der Reiz wird nie weitergeleitet. Er existiert nur in unserem Zwischenhirn und lebt dort wie ein Geist.

Das klingt vielleicht abstrakt, aber übersetzt bedeutet es in etwa das:
Wir können die schlimmsten Erlebnisse sehen. Wir können sie fühlen.
Aber wir können nicht über sie sprechen. Der Teil unseres Gehirns, der für die Sprache und Logik zuständig ist, kann nicht auf den Reiz zugreifen. Er kann also gar nicht verstanden werden und bleibt damit ein Fremdkörper. Ein Fremdkörper in unserem eigenen Kopf.

Aber wie sollen wir etwas verarbeiten, wenn wir nicht darüber sprechen können, es nicht verstehen können? Werden wir diese Gefühle dann nie los? Werden uns die Erlebnisse für immer verfolgen?

Ziemlich hoffnungslos, wenn's so wäre, oder?
Also nein, ich denke nicht. Hoffnung gibt es immer. Dieser Punkt, an dem wir nichts mehr tun können, ist noch weit entfernt. Vielleicht erreichen wir ihn nie. Es gibt immer etwas, was wir noch versuchen können und ich denke, dass wir es unserem Trauma schuldig sind, trotzdem daran zu arbeiten. Andere Wege zu suchen, mit denen wir diese Reize verarbeiten können, auch ohne die Hilfe unseres Großhirns.

Dass wir es zumindest versuchen, damit diese Gefühle kommen und gehen und wir Frieden finden können.
Nur... manche Wege erfordern Umwege.
Dieser hier erfordert einige.

Aber lies' selbst.

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prolog;
jemanden finden, jemanden verlieren

Ihre Wohnung ist objektiv betrachtet echt scheiße. Tja, was soll er sagen? Jimin kann's halt einfach nicht beschönigen.
Es riecht gammlig, das Treppenhaus stinkt nach Pisse, einen Aufzug gibt es nicht und die Nachbarn schreien sich ständig an. In ihrer eigenen Wohnung gibt es keinen Eingangsbereich und neben der Haustür steht direkt die winzige Küchenzeile, wenn man das das morsche Ding denn überhaupt so nennen möchte. Die Küche benutzen sie nur zum Kaffee und Tee kochen, ohne Herdplatte und Backofen ist nicht viel mehr drin. Immerhin besitzen sie eine Mikrowelle. Eine Ecke im Bad rechts oben schimmelt, der Wasserhahn tropft und die nicht-existente Aussicht besteht aus einer Backsteinmauer.

Irgendwie könnten das alles valide Gründe darstellen, um sich abzufucken, aber Jimin ist glücklich. Denn immerhin bedeutet Taehyungs Anwesenheit so etwas wie Zuhause. Und wer kann das schon von sich behaupten? Dass er jemanden gefunden hat, der sich mehr nach Zuhause anfühlt, als ein Ort es je könnte? Das hat am meisten wert, selbst dann, wenn man die roten Flecken in Treppenhaus großzügig als Rost interpretieren muss.

Ach, komm schon. Niemand kann alles haben und Jimin verzichtet lieber auf eine Hinterfragung der Machenschaften in ihrem Treppenhaus als Taehyung aufgeben zu müssen. Da musst du gar nicht so verurteilend gucken. Scheiß Heuchler.

In Dalseo-gu ist es gar nicht so einfach mit einem Mann zusammenzuleben. Also, wirklich zusammenzuleben, wie ein Paar halt und auch wenn sie sich am Anfang darum bemüht haben, ihre Beziehung geheim zu halten, waren sie nicht sonderlich gut darin. Sie waren einfach zu laut. Zwei Wochen später waren sie im ganzen Wohnblock als Schwuchteln verschrien. Getraut sie deswegen fertigzumachen, hat sich trotzdem niemand. Und genau deswegen bleiben sie hier wohnen.

Jimin weiß noch, wie er sich damals in Taehyung verliebt hat. Schuld waren diese dichten, schwarzen Locken, die heute mitunter der Grund dafür sind, warum selbst ein solcher Ort wie dieser voll positiver Erinnerungen steckt.
Ehrlich mal, wer in Südkorea hat überhaupt lockiges Haar? Also von Natur aus und nicht mit 'ner verdammten Dauerwelle bearbeitet? Wirklich jetzt. Jimin kennt nur seinen Freund. Okay, er hat sich auch nie sonderlich für Haare und deren Eigenarten interessiert, bis er seine Hand das erste Mal in Taehyungs Locken vergraben hat. Was gleichzeitig auch der Zeitpunkt ihres ersten Kusses war sowie das allererste Mal, dass Jimin überhaupt einen Mann geküsst hat. Schon möglich, dass diese kathartische Erfahrung zu Jimins neuer Faszination für Haare beigetragen hat. Zumindest marginal.

Das war vor etwa zwei Jahren und seitdem kann er nicht mehr aufhören, in freien Moment (und davon gibt es ziemlich viele in seinem Leben) über Strukturen, Farben und Längen zu sinnieren. Und darüber, Taehyung zu küssen. Als würde es nichts Wichtigeres geben (gibt es das denn?). Glück für ihn, dass er zumindest diesen Gedanken täglich umsetzen kann. Taehyung täglich eine neue Frisur zu verpassen, wäre dann vielleicht doch etwas zu viel des Guten.

Der Zusammenzug vor 18 Monaten war die bisher beste Entscheidung in Jimins Leben (sogar noch besser als die Entscheidung, Taehyung das erste Mal zu küssen). Weil der Zusammenzug irgendwie besiegelte, dass sie sich lieben und auch in der Zukunft lieben werden. Dass sie sich für immer lieben werden (Jimin würde auch so 'nen bescheuerten Ring tragen, wenn das in Südkorea irgendwie erlaubt wäre. Ist es natürlich nicht. Und in Dalseo-gu erst recht nicht).

Ihr gemeinsames Leben ist bescheiden, aber immerhin bringt Taehyung sprichwörtlich in regelmäßigen Abständen neue Farbe in ihr Zuhause. Er überfärbt damit sogar den grauen Alltag. Oder vielleicht ist es auch ihre Liebe, die das tut, und nicht nur die Chemiefarben auf seinem Kopf, aber so kitschig ist Jimin natürlich nicht.

Taehyung färbt sich also ständig die Haare. Weil sie sich dafür keinen Friseur leisten können, hält meistens ihr Badezimmer für die bunten Experimente her. Was nicht unbedingt schlecht ist, weil Jimin dann nicht einmal eine Ausrede dafür braucht, um minutenlang einfach nur durch Taehyungs Haare zu fahren (nicht, dass er die sonst brauchen würde, aber okay).

Im Moment sind Taehyungs Haare dunkelbraun, fast schwarz. Seine natürliche Haarfarbe, weil sich die Locken vom letzten Bleeching erst wieder erholen müssen. Außerdem lässt er sie wachsen. Sie sind schon so lang, dass sie Taehyung ständig in den Augen hängen und diese beiläufige Bewegung, mit der er sich die Locken aus der Sicht streift, ist wie der Schritt über die Schwelle der Haustür nach einem beschissenen Tag. Jimin sieht ihm dabei zu und verliert sich, verliebt sich, immer wieder aufs Neue.

Viel zu oft vergisst er dabei, dass ihre Tage hier eigentlich alle beschissen sind. Wenn du dich nur lange genug daran gewöhnst, dann sieht der Käfig, in dem du lebst, gar nicht mehr so aus wie einer. Also vergräbt Jimin abends sein Gesicht in Taehyungs Haaren. Dann verschwindet der Geruch von Schimmel, Pisse und abgestandenen Rauch und macht Platz für etwas Anderes: Flieder, Liebe und Zuhause. Er hat keine Ahnung, wie Taehyung das macht, dass seine Haare warm und weich sind und nach Flieder riechen, obwohl es in ihrer Gegend überhaupt keine Blumen gibt und Taehyung sie mit dem billigen Shampoo aus der Drogerie von nebenan wäscht.

Jimin hat aufgehört über den Grund dafür nachzudenken. Viel zu sehr genießt er die Sekundenauszeit von der Realität, die ihm dieser Duft schenkt. Wenn Jimin ehrlich ist, übersteht er die Welt außerhalb ihrer Wohnung wohl nur, weil er dank Taehyung vergisst, wie sie funktioniert.

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외상

tropf
tropf
plopp
platsch
tropf
tropf

An der Decke befinden sich durchgerostete Rohre. Wassertropfen lösen sich davon. Fallen auf den Boden.

tropf
tropf
plopp
platsch
tropf
tropf

Der Raum ist kalt. Er hat Angst. In der Mitte steht ein Stuhl. Von der Decke baumelt eine Glühbirne ohne Fassung.

Er sitzt in einer Ecke. Auf dem Stuhl sitzt ein Mann. Ihm ist kalt. Er zittert. Er hat Angst. Er möchte nach Hause.

tropf
tropf
plopp
platsch
tropf
tropf

Zwei Männer kommen in den Raum. Die Wände sind ohne Bilder. Ohne Fenster. Die Luft ist stickig. Es riecht schrecklich. Er versucht durch den Mund zu atmen, damit ihm nicht schlecht wird. Sein Bauch fühlt sich komisch an. Auf dem Stuhl sitzt sein Vater.

tropf
tropf
plopp
platsch
tropf
tropf

Es macht weiter tropf, tropf, plopp, platsch, tropf, tropf. Er konzentriert sich nur darauf. Es ist wie ein Rhythmus. Er singt einen Text dazu. In dem Raum ist es still. Zu dem tropfenden Geräusch gesellt sich noch ein Zweites. Die zwei Männer schlagen auf die Person auf dem Stuhl ein.

Der Mann sitzt zusammengesunken auf dem Stuhl. Der Kopf ist auf die Brust gefallen.

Auf dem Boden ist Blut.

Auf dem Stuhl sitzt sein Vater.

Tropf, tropf, plopp, platsch, tropf, tropf ist ein Rhythmus und er singt ein stummes Lied.

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