epilog; erst(e) antworten

Ich musste dreißig werden, um es zu verstehen. 

Vielleicht verstehe ich es bis heute nicht richtig. Ich habe versucht darüber zu reden, aber ich konnte nicht. Wie spricht man über die Dinge, über die man nicht reden kann? Die Frage hast du sicher schon einmal von mir gelesen. Ich stelle sie mir immer wieder. Eine Antwort darauf habe ich nie gefunden. Hast du sie?

Seit ich mich erinnern kann, leben neben meinen eigenen Erinnerungen auch fremde Gedanken in meinem Kopf. Fremde Erinnerungen. Fremderinnerungen. Fremdkörper. Es ist sehr schwer zu beschreiben, wenn man das Gefühl nicht kennt. Es ist, als würde ich mich an einen Film erinnern. An den schlimmsten Horrorfilm aller Zeiten. Nur, dass ich den Film nie gesehen habe. Ich sehe den Film durch die Augen von jemand anderen in meinem eigenen Kopf. Schlimmer noch. Die Person spielt in dem Film mit. Sie ist vielleicht nicht die Hauptperson, aber sie ist an jeder Szene beteiligt. Viel zu nah dabei. Ich sage, sie soll weggehen. Ich will das nicht sehen. Aber die Person hat keinen Einfluss auf das Skript. Also ist sie dazu gezwungen, den Film zu fühlen. Ich sehe und fühle einen fremden Film in meinem Kopf. Die Panikattacken als Folge – nachvollziehbar, oder? Wie würdest du dich fühlen, wenn da etwas in deinem Kopf lebt, das nicht zu dir gehört?

Nun, wie gesagt, ich musste dreißig werden, um es zu verstehen. Und ich musste Park Jimin und Kim Taehyung dafür kennenlernen. Allein hätte ich es nie herausgefunden. Allein wäre ich es mir nicht wert gewesen überhaupt zu versuchen, den Sinn dahinter zu verstehen. Jimin hat mir gezeigt, dass ich es sehr wohl wert bin. Beide haben das. Und Taehyung war es am Ende, der den entscheidenden Hinweis geliefert hat. Natürlich war er es. Der Junge ist mindestens genauso intelligent wie sein Bruder.

Unser Großhirn denkt in Worten und Sinnzusammenhängen.

Das Zwischenhirn denkt in Bildern und Gefühlen.

Wenn wir eine traumatische Erfahrung durchleben, ist diese zu groß, um von unserem Großhirn verarbeitet zu werden. Also tun wir das auch nicht. Wir verarbeiten sie nicht. Vorher wirft sich unser Zwischenhirn heldenhaft dazwischen. Es fängt den Reiz ab und kappt die Verbindung zum Großhirn in einer Art Überlebensreflex. Das löscht die Erinnerung zwar nicht aus, aber es abstrahiert sie. Deswegen fühlt sie sich anders an als der Rest der Gedanken, die in unserem Kopf existieren. Sie ist nicht logisch. Sie besteht nicht aus Worten. Sie besteht nur aus Eindrücken, aus Bildern und Gefühlen.

Nichts anderes ist damit vergleichbar.

Nichts anderes kommt dir so fremd vor wie dein eigenes Trauma.

Der Film in meinem Kopf – natürlich gehörte er zu niemand anderem. Es war mein eigener.

heißt Trauma. Du hast den Begriff nicht verstanden, weil ich es selbst nicht verstanden habe. Ich kann nichts erklären, das ich nicht verstehe. Diese Rückblenden, die ich immer wieder durchlebe, nennt man Intrusionen. Sie sind das ausschlaggebende Kriterium für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung.

In einer Therapie kann man lernen, wie man über die Dinge spricht, über die man nicht reden kann. Vorsichtig und unter professioneller Anleitung und Aufsicht wird das Band geknüpft, das dein Zwischenhirn damals zerstört hat.

So weit bin ich noch nicht. Ich hoffe, dass ich irgendwann so weit sein werde.

Bis jetzt stehe ich bei- tropf, tropf, plopp, platsch, tropf, tropf.

Schon damals habe ich mich an Tönen, Melodien, Rhythmen festgehalten, um nicht den Verstand zu verlieren. Jeder einzelne Moment in diesen Räumen war traumatisierend. Ich kann bis heute nicht darüber sprechen. Ich habe es versucht – früher mit Jungkook. Später mit Jimin und Taehyung. Ich kann es nicht. Ich finde die Worte nicht. Entsprechend beängstigend kommt mir der Gedanke einer Therapie vor. Aber bald, sage ich mir immer wieder, ganz bald wird es sich nicht mehr so beängstigend anfühlen.

Ich weiß, dass diese Worte wahr sind. In den letzten Monaten haben viele Dinge aufgehört, beängstigend zu sein. Jimin zu küssen macht mir keine Angst mehr. Taehyung zu küssen macht mir keine Angst. Und meine Hände zittern viel weniger, seit es jemanden gibt, der sie festhält.

Tropf, tropf, plopp, platsch, tropf, tropf – trotzdem musste ich lernen, mit diesen Gedanken umzugehen. Nicht unter ihrer Last zu zerbrechen. Und mit ihnen leben zu lernen. Das war der schwierigste Teil.

Leben war für mich nie ein Konzept, dass ich besonders ernst genommen habe. Nicht für mich selbst. Die Kkangpae haben mir keinen Raum dafür gegeben. Zu leben. Das Leben, das ich geführt habe, war es kaum wert, gelebt zu werden. Deswegen wäre es okay gewesen, wenn ich damit aufgehört hätte. Ich habe immer gehofft, dass mit meinem Tod die Schulden beglichen sind, die mein Vater hinterlassen hat. Realistisch habe ich nie daran geglaubt, dass ich sie abarbeiten kann. Mein Ziel war es nur, meinen kleinen Bruder davor zu beschützen. Vor den Kkangpae zu beschützen. Ihm ein Leben zu ermöglichen, das es für mich nicht gab. Nicht mal in meinem Kopf. Der war schon zu voll dafür.

Tropf, tropf, plopp, platsch, tropf, tropf – mich davon zu befreien, war ein langer Weg. – Ist – ein langer Weg. Er erfordert immer wieder Umwege. Ich bin noch nicht am Ziel angekommen. Ein Trauma überwindest du nicht in einer Nacht. Auch nicht in einem Monat.

Aber ich habe erkannt: Der erste Schritt ist es, von den Ereignissen wegzukommen, die dich traumatisieren. Damit du nicht immer und immer wieder neu traumatisiert wirst. Für diese Dinge gibt's nämlich kein Limit. Dein Zwischenhirn schaltet nicht einfach ab. Es gibt nicht auf. Es ist ein verdammter Kämpfer. Es versucht jedes Mal aufs Neue dich zu beschützen. Es will dir nichts zumuten, mit dem du nicht umgehen kannst. Es will, dass du überlebst.

Das ist die Botschaft, die es an das Großhirn übermittelt.

Ich will, dass du lebst.

Mittlerweile ist die Botschaft bei mir ankommen.

Ich will l(i)eben.

Und

Ich will, dass du auch l(i)ebst.

„I just want to make musicthat gives people hope"
-

Min Yoongi

thank you forever, you did
-

Vikkilitschi


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2022 endet.
Und damit endet auch Traumaschulden.

Den Epilog zu lesen macht mich immer noch unglaublich emotional. Ich habe ihn geschrieben, lange bevor ich das eigentliche Ende von Traumaschulden geschrieben hatte. Wir haben die Geschichte mit "erste Fragen" begonnen und mir war kurz darauf klar, dass ich darauf auch erste Antworten bieten möchte.  

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist. Im Endeffekt - und so habe ich es ja auch beschrieben - muss wohl jeder seinen eigenen Weg finden, um mit den Gefühlen und Erlebnissen zurechtzukommen, die wir lieber nicht hätten oder nicht gemacht hätten. Aber auch wenn es schwer ist, bin ich mir nur umso sicherer, dass es diesen speziellen Weg für jeden Einzelnen von uns gibt. 

Traumaschulden hat mich das ganze Jahr über begleitet. Alle Ideen dazu habe ich im Januar gesammelt (total chaotisch und inkohärent und mehr Gekritzel in meinem Notizbuch als alles andere), im Februar habe ich dann trotzdem schon mit dem Schreibprozess begonnen. Die erste Skizze einer Szene von Traumaschulden habe ich schon vor zwei Jahren geschrieben. Seitdem lag sie in meinen Notizen herum. Im Februar hat es sich dann plötzlich ganz dringend angefühlt mit dem Schreiben zu starten, also habe ich losgelegt. 

Das habe ich irgendwann zwischendurch bereut. Eine gute Planung von Anfang an ist sooo viel Wert. Und etwa in der Mitte habe ich gemerkt, dass mir viele Randinformationen über die Welt, über die ich schreibe, fehlen. So im August in etwa war ich dann mit dem groben Schreiben fertig, aber das Überarbeiten und Korrigieren von so vielen Seiten hat mich (trotz Beta) vor neue Herausforderungen gestellt.

An dieser Stelle noch einmal ein großes Danke an die wunderbare -Dreizehn-, die mir jeder Zeit mit Rat und Tat zur Seite stand und sich von meinen kurzfristigen Deadlines nie hat unterkriegen lassen. Du bist ganz wundervoll, vielen, vielen Dank! 

Insgesamt bin ich mit dem Ergebnis von Traumaschulden recht zufrieden. Ich weiß, dass es nicht perfekt oder perfekt rund geworden ist. Auch jetzt könnte ich noch an zig Stellen arbeiten und sie nachträglich verändern... 

Aber ich bin zufrieden damit, wie viel ich während des Prozesses gelernt habe. Wie viel ich, seit ich mit dem Schreiben begonnen habe, gelernt habe und es diesmal auch teilweise schon umsetzen konnte. Damals war es quasi unmöglich für mich, Ideen wirklich bis zum Ende zu bringen. Es gibt so viele angefangene Geschichten, die ich vermutlich nie beenden werde... Aber mittlerweile weiß ich, worauf es (zumindest mir) beim Schreiben ankommt und welche Faktoren mich eine Geschichte nicht nur anfangen, sondern auch beenden lassen.

Traumaschulden insgesamt hat mir insgesamt sehr viel Spaß und Freude bereitet. Die Hauptfiguren, Jimin, Taehyung und Yoongi sind mir über die Zeit sehr ans Herz gewachsen und ich bin stolz darauf, wie sie sich entwickelt haben. Auf vielen Ebenen ist das Happy End, welches ich Traumaschulden geschenkt habe, auch ein Happy End für mich. Ich bin dankbar, diese Geschichte geschrieben zu haben.

Und ich bin dankbar dafür, dass ihr sie gelesen habt. Das bedeutet mir die Welt und wird für mich immer die Welt bedeuten. Vielen Dank für eure Votes und Kommentare. Es war ein schwieriger Sommer für mich und ich habe euren Kommentaren nicht immer die Wertschätzung entgegengebracht, die sie verdient hätten. Hoffentlich wisst ihr trotzdem, auch wenn ich nicht auf alles reagiert habe, wie glücklich sie mich gemacht und wie viel Motivation sie mir geschenkt haben. 

Wattpad wird immer ruhiger und die Leute, die aktiv kommentieren, werden immer weniger. Das ist eine traurige Entwicklung und ich hoffe, dass wir ihr gemeinsam in 2023 entgegenwirken können. 

Für jetzt sehe ich nach vorne und freue mich auf all die Geschichten, die 2023 für mich bereit hält. 💜

Von Herzen,
eure Vikki

P.S. Ist das Nachwort länger als der eigentliche Epilog? Das ist leider möglich. :'D #JustVikkiThings

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