Kapitel 6

„Mary, Kind. Was stehst du hier denn herum und starrst durch die Gegend. Du bist uns Erwachsenen nur im Weg."

Mama?
Huh. Was ist hier los?

„Mama? Warum müssen wir hier weg? Hier ist doch jeder. Wir können doch noch nicht gehen!"

„Mama, wohin gehen wir? Ist es dort auch so schön, wie hier?", quengle ich.

„Mary! Sei' jetzt leise, Mama hat keine Zeit für dich und deine Fragen. Siehst du's denn nicht? Papa, kann ich euch irgendwie helfen?"

Das ist mein Bruder. Wieso muss er sich denn auch immer einmischen?
Ich möchte doch nur antworten. Antworten auf meine Fragen.
Warum das Ganze geschehen muss.

„Sei' du doch leise! Ich will es jetzt wissen...Mama!"

Ich rüttele so heftig, wie es nur geht an meiner Mutter und stupse sie ununterbrochen an.

„Später.", gibt meine Mutter nur von sich und packt ein paar Kisten an, um sie nach draußen zu tragen.

Unbefriedigt von ihrer Antwort, schaue ich wütend zu ihr und dann zu meinem Vater.
Ist es so schwer mir diese Fragen zu beantworten? Ich möchte hier nicht weg. Wieso können sie mir den Abschied nicht erleichtern?

„Oliver, könntest du mal mit deiner Schwester hinausgehen? Wir haben hier echt sehr viel zu tun. Danke.", murrt mein Papa während er meiner Mama hilft, die nächste Ladung nach draußen zu tragen.

Warum ist nur jeder so gemein zu mir? Ich verstehe es einfach nicht. Wie denn auch? Schließlich bin ich ja gerade einmal fünf Jahre alt.

Mein Bruder packt mich am Arm und zerrt mich aus dem Wohnzimmer hinaus. Im Flur bleiben wir kurz stehen und er schaut mich ärgerlich an. Ich verstehe nicht, warum er so wütend auf mich ist.

„Du kannst einem echt auf die Nerven gehen, du Nervensäge!"

„Ich bin keine Nervensäge! Selber.", brülle ich und mir ist sofort zum Heulen zumute.

„Er brauchte ja nicht so gemein zu sein!"

„Pscht.", flüstert er und hält den Zeigefinger vor den Mund, während er noch fester Zugriff und schaut dann hastig um sich.

„Mein Arm tut weh, hör auf damit!", schreie ich noch lauter.

Ohne auf mich zu hören, schleppt er mich nach draußen und lässt dann nun endlich los.

„Du bist böse, ich mag dich nicht mehr!", schreie ich und mir kommen direkt die Tränen.

„Du bist so eine Heulsuse. Warum kannst du denn nicht einmal still sein. Man... Hör schon auf zu weinen. Ich werde mit dir spielen. Los!"

„Ich mag nicht mit dir spielen! Ich mag wieder nach... Hause... Hause... Hause gehen!", schluchze ich.

Ich weiß einfach über nichts Bescheid und das macht mich wütend.

„Mach jetzt nicht so rum. Ich habe gesagt, dass ich mit dir spielen werde. Wir können nicht nach Hause gehen, sonst stören wir nur die Erwachsenen. Also, sei ein braves Kind und tu das, was man dir sagt."

Das macht die Sache zwar nicht besser, aber ich gebe nun nach.
Ich muss ein braves Kind sein, denn sonst hätten sie mich nicht mehr lieb. Und das wäre das Schrecklichste, was mir passieren könnte. Ich liebe meine Eltern. Ich würde nicht wollen, dass sie mich hassen.

Ich schluchze nur noch ein paar Mal und dann höre ich ganz auf. Mein Bruder legt seine Hand auf meinen Kopf und tätschelte ihn, was mich strahlen lässt. Sofort spürte ich diese schöne wohlfühlende Wärme. Sie umhüllt meinen ganzen Körper und ich fühle mich sichtlich wohl.

Er kann eben auch anders.

„Na, hast du mich denn wieder lieb?", fragt er mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

Ich überlege kurz und erwidere: „Nein! Niemals." Dabei strecke ich meine Zunge heraus.

Er schaut mich unglaubwürdig an und ich kann es nicht mehr länger aushalten, weshalb ich sofort mit der Wahrheit herausplatze: „Klar hab ich dich lieb!"

Nun lächelt er auch, nimmt meine Hand und wir gehen zu dem gewohnten Park, welches gegenüber von uns ist. Wir gehen jeden Tag dorthin, um zu spielen und unsere Freunde zu treffen.
Als wir dann ankommen, sehen wir dort auch schon andere Kinder. Sofort rennen uns ein paar entgegnen, die unsere Freunde sind.

Ohne meine Freunde könnte ich nicht sein.
Denn ohne sie ist alles nur langweilig. Ich will mich von ihnen einfach nicht trennen, weil sie mir so sehr ans Herz gewachsen sind. Ich denke auch, dass ich woanders keine besseren Kinder zum Spielen finden werde. Ich will es auch nicht. Warum denn auch? Wenn man schon seine Leute gefunden hat.

„Was ist denn los mit dir, Mary?"

Das war Liam. Er und ich sind im selben Alter und wir spielen öfters miteinander.

„Liam, komm doch! Wir wollten schaukeln! Komm sofort her!", schreit Sophia, die schon an den Schaukeln steht und uns böse anschaut.

Ich habe echt nichts gegen Sophia, aber warum möchte sie ihn immer so für sich allein haben? Sie kontrolliert ihn förmlich und das Schlimme ist, dass er sich das alles gefallen lässt.

„Was für ein Weichei."

„Sei nicht traurig, Mary. Sei wieder glücklich. Ich muss jetzt zu Sophia gehen.", versucht Liam mich aufzumuntern, während er dabei meinen Arm streichelt.

Dann wendet er sich Sophia zu, schreit ihr etwas entgegnen - was ich nicht mehr mitbekomme, weil ich wieder in Gedanken versunken bin - und läuft zu ihr.

„So ein Weichei", flüsterte ich.

„Weichei? Ja, das trifft es gut.", sagte eine Jungenstimme und eine weitere Person kichert.

Ich zucke zusammen und drehe mich zu diesen Personen um.

„Wieso erschreckt ihr mich so!", fauche ich und gucke die beiden wütend an. Doch in der nächsten Sekund fangen wir an, lauthals zu lachen.

Kai und Emily. Das sind meine besten Freunde. Mit ihnen spiele ich jeden Tag und sie sind einfach so toll.

„Hey, warum habt ihr ohne mich Spaß!"

„Nicht die schon wieder."

B. Ihr Name ist nicht erwähnenswert. Vielleicht erwähne ich ihn später irgendwann. Das könnte sein. Vielleicht. Wer weiß?

„Kommt lasst uns im Sandkasten spielen!", schreit Emily, rennt los und Kai zerrt mich mit.

Wir spielten und hatten so viel Spaß.

Spaß.

Moment mal.

Wieso kann ich mich selbst sehen?

Wo bin ich hier? Woher betrachte ich das Ganze? Ein Traum. Es muss ein Traum sein. Ganz bestimmt.

Mir ist ganz warm um mein viel zu schnell pochendes Herz. Es ist gleichzeitig kalt und warm.

Was ist das nur für ein unglaubliches Gefühl, das meinen Körper wohlwollend umhüllt und gleichzeitig beben lässt?

Ich bin aufgeregt und erfreut zugleich.

Spaß, was?

Wie lange schon... Wie lange schon, habe ich mich nicht mehr so gefühlt?

Plötzlich zerbricht das Bild förmlich vor meinen Augen in tausende Glassplitter, die sich in alle Richtungen verteilen. Erneut. Ich bin erneut umgeben von der Dunkelheit, die mein Inneres verschlingt und nicht gehen lassen möchte.

Nein. Nein. Nein. Nein. Nein!

Doch die Euphorie, die ich gerade noch empfunden habe, hat mich wohl überwältigt und ist so schnell verschwunden, wie sie gekommen war.

Bitte, geh nicht weg! Bleib' noch etwas länger. Ich will nicht, dass es aufhört. Ich will dieses Gefühl nicht verlieren. Ich will daran festhalten. Ich will es weiterhin spüren!

Urplötzlich öffne ich meine Augen und schrecke hoch.

„Mary, liebes. Was ist denn passiert? Hattest du einen Alptraum?"

Ich blicke um mich und sehe den besorgten Blick meiner Mama auf mir ruhen.

„Es war wohl alles nur ein Traum."

Langsam entspannt sich mein rasender Puls und ich atme tief ein und wieder aus.

„Nur ein Traum."

Ich lache erleichternd auf und sehe dabei meine Mutter an.

„Ich bin so froh, dass es vorbei ist. Ich habe so viel Verschiedenes, Wirres geträumt und es hat sich angefühlt, als würde dieser Traum nie sein Ende finden. Aber erst einmal brauche ich eine dicke Umarmung von dir, Mama."

Das lässt sie sich nicht zweimal sagen und nimmt mich sogleich in ihre Arme.

„Wie gut das tut. Alles, was ich gebraucht habe."

Sie verstärkt ihren Griff und ich spüre eine gewisse Geborgenheit.

„Mama, wenn du mich weiter so erdrückst, ersticke ich bald.", kichere ich.

Doch, statt ihren Griff zu lockern, verstärkt sie ihn immer mehr und ich bekomme tatsächlich keine Luft mehr.

„Mama, lass mich los.", stammele ich und versuche mich zu befreien und bekomme leicht Panik.

Aber sie rührt sich kein bisschen und mir geht die Puste aus.
Ich versuche sie mit Gewalt von mir wegzudrücken, jedoch ohne jeglichen Erfolg.

Ich keuche stark und versuche nach Luft zu ringen, was mir nicht sonderlich gelingt und immer mehr Panik breitet sich in mir aus.

Mein Gesicht fühlt sich ganz heiß an.
Mein Puls rast wie verrückt.
Adrenalin steigt in mir auf.
Schweißperlen, die sich auf meiner Stirn gebildet haben, finden ihren Weg nach unten.

Was ist nur los mit Mama?! Wieso verdammt lässt, sie mich nicht los?
Luft. Ich brauche ganz dringend, ganz viel Luft.

Stille.

„Hilfe! Hilft mir jemand. Ich brauche Hilfe. HILFE!", schreit mein Inneres verzweifelt und meine Sicht verblasst.

Eine Unruhe breitet sich nun in mir aus.
Ich werde leicht hysterisch, denn...

Ich weiß nicht einmal, ob das hier der Realität entspricht.

Schlagartig öffnen sich meine Augen, während ich kreischend, hochschrecke und einen tiefen Atemzug nehme.

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