Kapitel 4

„Mary."

Huh. Wo bin ich? Wieso ist es hier so dunkel? Was ist mit mir geschehen?

„Mary."

Da ist wieder diese, mir fremde, weit entfernte Stimme.
Egal wohin ich blicke, erkenne ich nichts. Denn alles um mich herum, ist in tiefer Schwärze getränkt. Ich bin im Dunkeln gefangen.

„Mary. Mary. MARY!"

Die Stimme kommt mir gefährlich Nahe und ich gerate Panik.

„Wer bist du!? Was möchtest du von mir? Lass mich bitte in Ruhe!", will ich hinausschreien, doch meine Stimme versagt.

Ich fange an zu laufen, aber ich weiß nicht wohin. Jedoch bleibt mir auch nichts Anderes übrig. Ich muss etwas tun. Ich muss dem entkommen.
Es ist die einzige Option.
Meine Kehle ist wie zugeschnürt und ein unbeschreiblich starker Druck lastet auf mir, was mich am Laufen behindert. Ich kann nur langsame, kleinere Schritte machen und steuere in eine, mir unbekannte Richtung zu.

Ich laufe, doch wohin?

„Du kannst von hier nicht weg, Mary.", gibt die Stimme gehässig wieder.

„Genau, wer einmal hier landet, schafft es nicht mehr hinaus!", zischt es aus der anderen Ecke.

Großes Gelächter umhüllt den Raum. Ich will schreien. Kreischen. Ich möchte Rennen. Von hier entkommen. Aber keines davon gelingt mir nicht einmal Ansatzweise.

Mein Herz rast wie bei einem sich zu schnell drehendem Karussell. Es sind mehrere Stimmen, die im ganzen Raum hallen. Und ich kriege kaum noch Luft vor Panik.

Ich versuche mir die Ohren zuzuhalten und forme mit meinem Mund immer wieder die Buchstaben „Nein", wobei meine Tränen heiße Spuren auf meinem Gesicht hinterlassen.

„Hab' ich dich, Mary.", haucht mir eine Stimme ins Ohr.
Urplötzlich schlage ich um mich und es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter, wobei sich meine Nackenhaare sträuben. Reflexartig fange ich an zu kreischen.

Verzweifelt versuche ich vergebens um Hilfe zu rufen.

„HALLO?! IST HIER JEMAND DER MICH HÖREN KANN? HELFT MIR BITTE!", flehe ich schreiend ins Leere.

„Ich ertrage es nicht mehr! Ich möchte hier nicht mehr sein. Bitte. Jemand. Irgendjemand. Hilft mir Irgendeiner aus dieser Hölle heraus! Bitte! Ich flehe euch an.", meine Stimme wird immer leiser bis sie schlussendlich nicht mehr zu hören ist.

Plötzlich sehe ich eine schwache Lichteinstrahlung weiter weg. Ich fange an zu laufen. Nein zu rennen. Ich renne und bin voller Hoffnung. Strahle übers ganze Gesicht, denn ich schaffe es hier hinaus. Ich komme hier endlich heraus.

Grelles Licht blendet meine Augen, sodass ich sie aus Reflex schließe, um sie dann langsam wieder zu öffnen.

„Ich möchte eine!"

Huh. Was war das?

„Ich auch!"

„Ich hätte gerne zwei!"

Langsam, aber sicher gewöhnen sich meine Augen an die Helligkeit und ich blicke um mich.

Ich stehe vor dem offenen Fenster und blicke hinaus. Sehe zu, wie sich die Mädchen, wie wilde Hühner, um die WINX Zeitschrift der neuesten Ausgabe, die Tante H vorbeigebracht hat, reißen. Sie arbeitet in einem Schreibwarenladen und darf sich die Zeitschriften aus dem Vorrat mitnehmen. Das waren immer eine Handvoll, welche sie an die Kinder im Hof jede Woche verteilt.

Einige Kinder mag sie mehr als andere, weshalb sie diese stets auswählen lässt, welche Zeitschrift mit welchem Produktinhalt, es bekommen darf. Manchen gibt sie einfach zwei oder mehrere mit, in dem sie einer Zeitschrift den Produktinhalt entreißt.

Der Hof ist bekannt für die Kinder, die dort spielten. Ich war ein Teil von einer Mädchengruppe, die aus vier Mitgliedern besteht. Unter ihnen befindet sich auch R, die Tochter von Tante H.

Tante H, die zu allen nett ist und von sich aus, die Zeitschriften verteilt, indem sie auch allen Kindern Bescheid gibt, verhält sich nur mir gegenüber anders.

„Auch dieses Mal hat sie bei uns nicht geklingelt, was?", sage ich leise zu mir selbst, mit zittriger Stimme.

Ich spüre einen leichten Stich in meinem Herzen und bin den Tränen nahe.

„Ist es nicht jedes Mal so? Fang jetzt bloß nicht an zu heulen!", ermahne ich mich und versuche mich zu beherrschen.

Denn jedes Mal, wenn es Zeit für die neue Ausgabe ist, bekomme ich nur dann eine Zeitschrift, wenn ich danach betteln muss.
Meistens auch ohne Produkt, auf das man sich wohl am Meisten freut.
Manchmal bekomme ich keine und muss zusehen, wie die anderen ihren Spaß haben.

Aber wieso ist dem so?
Ich verstehe es einfach nicht.
Warum nur bei mir?

„Mach dir keine Sorgen. Sei nicht traurig", versucht mich Mama aufzuheitern, die sich zu mir gesellt.

„Ich werde sie dir kaufen, versprochen.", sagt sie mit einem breiten Lächeln und stupst mich an.

Das freut mich. Jedoch ist mir bewusst, dass wir uns das nicht immer leisten könnten. Weswegen ich wieder traurig werde, aber versuche mir dies nicht anmerken zu lassen.

Ich nicke nur stumm und lächle zurück. Dann widme ich meine Aufmerksamkeit wieder den anderen.

Am nächsten Morgen, habe ich das alles schon vergessen und bin aufgeregt. Denn heute würde Tante H die Special Ausgabe vorbeibringen. Ich habe mir am Abend davor einen Plan gemacht.

Ich renne zum Fenster und warte bis ich ihr rotes Auto von der Ecke aus hineinfahren sehe.
Da man nicht weiß, wann sie vorbeikommt und ich sie nicht verpassen möchte, bleibt mir nur die Option zu warten. Voller Aufregung hüpfe ich auf und ab. Mein Grinsen kann ich mir nicht verkneifen.

Dieses Mal wird es klappen! Wenn ich es genauso mache, wie ich es mir überlegt habe.

Und dann höre ich, mir das bekannte Auto und siehe wie Tante H in den Hof hineinfährt.

„Da ist sie ja!", brülle ich und laufe schnell zur Tür, um mir die Schuhe anzuziehen.

„Wohin willst du denn?", schreit mir meine Mutter verwundert hinterher.

„Tante H ist da, Mama! Ich möchte die Erste sein, die sie in Empfang nimmt", erwidere ich voller Freude.

„Es ist soweit."

Nachdem ich schnell in meine Schuhe geschlüpft bin, schließe ich die Tür und renne die Treppen hinunter und mein Herz fängt mit meinem Tempo im Einklang zu rasen.

Ich habe mir nämlich überlegt, wenn ich schnell genug bin... Wenn ich die erste bin, würde ich eine bekommen. Oder noch besser. Vielleicht dürfte ich mir dann auch einmal etwas aussuchen.

Dieser Gedanke lässt mich kurze Luftsprünge machen, als ich aus dem Haus bin und auf Tante H zu renne.

„Tante H! Hallo, Tante H!", schreie ich.

Sie blickt von den Zeitschriften auf und schaut mich lächelnd an.

„Hallo, Mary, du bist ja früh dran!" sagt sie etwas verdutzt.

Ich kann es nicht mehr abwarten und bin außer Puste.

Endlich ist meine Zeit gekommen.

„Tante H, heute gibt es ja die Special Ausgabe von WINX." erwähne ich und meine Augen glitzern.

„Ah ja, genau. Hier für dich." meint sie und überreicht mir eine.

Ich war so hibbelig voller Freude und zappelte herum. Doch dies alles verblasste binnen Sekunden.

Ein Stich in meiner Brust machte sich in mir breit, als ich bemerke, dass das Produkt herausgerissen wurde.

Ich versuche meine Traurigkeit nicht zu zeigen und fasse meinen Mut zusammen, um sie darauf anzusprechen.

„Umm... Tante H? Es gibt doch immer ein Produkt dazu. Hast du denn nicht noch eine mit?", stammle ich.

Sie überlegt kurz und antwortet mit: „Nein Liebes, alle Zeitschriften sind ohne die Produkte. Ich habe sie nur so mitnehmen können."

Enttäuscht, aber zufrieden mit der Antwort, bedanke ich mich bei ihr, wobei ich eine Erleichterung spüre und schlendere wieder den Weg nach Hause zurück.

„Wenigstens habe ich dieses Mal die Zeitschrift erwischen können."

Kurze Zeit später gehe ich wieder hinaus, um mit meinen Freundinnen zu spielen. Sie haben alle ihre Zeitschrift mitgebracht und ich bin froh, wieder ein Teil von ihnen zu sein.

Glücklich und munter, galoppiere ich zu ihnen.

„Hallo, Mary, du hast ja auch die Special Ausgabe.", begrüßt mich M.

Stolz nicke ich und präsentiere ihnen meine Zeitschrift.

„Wo ist denn das Produkt dazu?" fragt B verwundert.

Huh? Wie jetzt. Was meint sie?

Eine Art Unwohlsein macht sich nun bemerkbar.

Wie auf Kommando, klappen alle gleichzeitig ihre Zeitschriften zu und meine Augen weiten sich. Ich muss schwer schlucken, als ich ihre nigelnagelneue Zeitschrift mit Produkt, betrachte.

Ein beklemmendes Gefühl breitet sich nun schlagartig in mir aus.
Ich verstehe die Welt nicht mehr.

„Aber Tante H hat gesagt, es gibt dieses Mal nichts!", flüstere ich, da ich Angst habe, in Tränen auszubrechen.

Plötzlich packt R meine Haare und zieht an ihnen. Vor Schmerz und Schockt schreie ich kurz auf.

„Willst du etwa sagen meine Mami ist eine Lügnerin!?", droht sie und durchbohrt mich mit ihrem wütenden Blick.

Ich kann mich vor Angst kaum rühren und fange vor Schmerz an zu weinen.

„Nein...aber...", stammle ich, doch werde direkt unterbrochen.

„Aber was? Sei mal froh, dass du überhaupt etwas bekommen hast.", bringt sie zähneknirschend hervor und zieht noch mehr an meinen Haaren.

Ich kreische noch einmal auf vor Schmerzen und blicke um mich. Ich bin umzingelt von ihnen. Meinen sogenannten Freunden.

„Sei leise sonst tun wir dir ernsthaft weh." droht R mir und lässt mich los.
Sie blickt zu den Anderen und erwartet Zuspruch von ihnen.
Ich blicke flehend zu ihnen, jedoch nicken sie nur stumm und schauen mich dann verunsichert an.
B merke ich es an, dass sie Angst hat. Bei M bin ich mir nicht ganz sicher.

R sieht wieder zu mir und entreißt mir meine Zeitschrift aus der Hand, um sie dann auf den Boden zu werfen.

„Hör auf!", brülle ich mit weinerlicher Stimme. Sie fangt an bitter zu Lachen und tretet auf meine Zeitschrift, während sie mich genau beobachtet.

„Wenn du noch einmal so undankbar bist, wird es nicht dabeibleiben."

„Nein, hör auf!" schreie ich und Eile zu Boden, um sie aufzuheben.

Doch sie zerrt an ihr, bis die Seiten zerreißen.

„Ups, war nicht meine Absicht.", gibt sie lachend von sich und schaut sofort zu den Anderen, die abrupt in schallendes Gelächter ausbrechen.

Enttäuscht, wütend und ängstlich renne ich nach Hause, während ich meine Tränen unaufhaltbar weiterfließen.

Ich möchte zu Mama!

Ich renne so schnell ich kann. Doch dann stürze ich zu Boden und schürfe mir dabei die Knie sowie Hände auf.

„Du schaffst auch gar nichts.", kommt es von hinten.

Und da wieder das Gelächter.

Ich halte mir die Ohren zu und renne die Treppen hoch. Dabei versuche ich den Kloß im Hals hinunterzuschlucken und die körperlichen sowie innerlichen Schmerzen zu ignorieren.

Oben angekommen, klingele ich sturm und hämmere wie verrückt gegen die Tür.

Dann endlich macht sie meine Mama auf und ich fange sofort an zu schluchzen.

„Was ist denn lo-"

Mehr kann sie nicht herausbringen, als sie meinen jämmerlichen Zustand bemerkt.

„Kind! WAS IST DENN PASSIERT?", fragt sie lauter mit besorgter Stimme und zieht mich in die Wohnung.

Ich will es herausschreien, doch es kommt kein Ton heraus, stattdessen umarme ich sie einfach nur und weine. Ich weine und schluchze, wie noch nie zuvor.

„Mary, sag Mama was passiert ist."

„Mama, Mama, Mama", kann ich nur herausbringen.

Warum tut mein Brustbereich so weh. Als hätte jemand mehrmals mit aller Kraft draufgeschlagen.

„Mama, wieso mag mich keiner? Was stimmt mit mir nicht Mama?", wimmere ich.

Meine Mutter drückte mich fest an sich, hebt mich hoch und schließt die Tür.

„Aber was redest du da?", sagte sie sanfter, zittriger Stimme.

„Wie kann man dich nicht lieben? Du bist so ein nettes, aufmerksames,hilfsbereites, liebenswertes Mädchen! Wer etwas anderes behauptet, kennt deinen wahren Wert nicht."

Mama, warum ist deine Stimme so hoch und weinerlich, während du versuchst mich zu trösten?

„Aber Mama. Wieso kriegen alle Kinder neue Zeitschriften und ich nicht? Meine sind immer zerrissen und der Inhalt fehlt fast immer. Wieso klingelt Tante H nie bei uns?"

„Oder ich bekomme gar nichts Mama. Ich war die erste Mama. Aber wieso haben alle anderen trotzdem bessere Zeitschriften mit Produkt und wieso sind sie so gemein zu mir."

„Wieso müssen wir immer so oft nachfragen und die anderen nie?"

Ich weine und verstehe die Welt nicht mehr.
So viele Fragen und auf keine habe ich auch nur eine annähernde Antwort.
Ich weine und schaue auf die Mama, die stumm dasitzt und auf keine Frage, eine Antwort hat. Auf die Mama der genauso Tränen fließen.
Ich weine und mein Herz tut weh.

Das Gefühl ist mir nicht fremd. Denn ich habe schon einmal, vielleicht sogar mehrmals die Erfahrung gemacht, unerwünscht zu sein. 

Tief im Inneren ist es mir bewusst. Das Gefühl , das ich versucht habe zu verdrängen, ihr keinen Wert zu schenken. 

Doch nun werde ich überwältigt von diesem Gefühl und mein Herz blutet. 

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