Kapitel 2
"Mary."
Eine weit entfernte zarte Stimme ruft nach mir.
"Mary."
Und schon wieder, jedoch dieses Mal deutlich näher.
"Mary."
Die Stimme verwandelt sich urplötzlich. Der zarte weiche Ton, wird durch einen strengen harten ersetzt.
"Mary. Mary. Mary. Mary. Mary"
Die Stimme kommt bedrohlich näher, auf eine penetrante Art und Weise, ertönt immer wieder mein Name.
Wer ist das?
Was will diese Person von mir?
Wo bin ich überhaupt?
Fragen über Fragen, jedoch keine einzige Antwort.
Kinderlachen umspielen meine Ohren.
"Mary."
Da, noch einmal. Aber ganz verändert. Jemand. Ein Kind.
Ich falle hinab. Ich stürze in die Tiefe und weiß nicht wohin.
„Kannst du kurz weggehen. Wir haben etwas zu besprechen. Wir rufen dich dann, wenn wir fertig sind."
Huh?
Was war das?
Und was ist dieses Gefühl?
Ein Stich, der sich auf meiner linken Brusthälfte breitmacht. Doch nehme ich es nicht zu ernst und schlendere durch den Waggon. Mit dem Blick nach vorne, suche ich nach einem geeigneten Platz und setze mich weit weg von ihnen, nehme meine Kopfhörer heraus und wähle irgendeine Musik aus.
Ab und zu wandert mein Blick zu ihnen.
Da ein Lachen.
Hier ein Kichern.
Ganz hitzig tauschen sie sich gegenseitig ihre Geheimnisse aus. Es kümmert sie nicht, wenn ich nicht da bin. Ich brauche eigentlich gar nicht da zu sein. Sie kommen ja ganz gut ohne mich aus.
Sogar besser.
Sie brauchten mich nicht.
Es ist nicht das erste Mal. Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert.
Wieso macht es mir dann nun etwas aus? Warum fühle ich mich nun so unbehaglich?
So ungewollt.
Wieso habe ich nur so einen dicken Kloß im Hals und bin den Tränen nahe? Was ist dieses Mal anders, als die anderen Male zuvor?
Ich beobachte sie weiterhin, doch sie scheinen unbekümmert, würdigen mich keines Blickes.
Ich stehe auf.
Gehe schweren Herzens zu ihnen, um ihnen zu zeigen, dass ich auch noch da bin. Nun sehen sie auf und ihre Blicke ändern sich sogleich.
Trügerisches Lächeln.
„Wir sind noch nicht fertig. Also, würdest du bitte kurz gehen und warten?", heißt es.
Noch ein Stich.
Noch ein Stich, der dieses Mal tiefer viel tiefer geht.
Warum? Warum darf ich nicht auch Teil daran haben? Sind wir denn keine Freunde? Warum.
Ich erwidere nichts, nicke nur stumm und gehe wieder zu meinem Platz zurück.
Warten also, huh?
Darauf, dass sie mich endlich zu ihnen rufen würden.
Aber nein, es kommt anders.
Als mein Blick wieder einmal zu ihnen huscht, weiten sich meine Augen und mir stockt ganz plötzlich der Atem.
Ein paar Jungs gesellen sich zu ihnen. Sofort sind alle in ein Gespräch vertieft. Ich beobachte sie genau. Die beiden Mädchen spielen mit ihren Haaren herum, sind rot im Gesicht und ganz hektisch. Mich haben sie total vergessen. Was auch irgendwie klar war.
Kam es denn nicht immer so?
Ich sehe aus dem Fenster hinaus. Ich sehe zu wie die Landschaft an mir vorbeizieht, doch achte nicht wirklich darauf. Mein Inneres kocht vor Wut, Hass und nicht zu vergessen, vor Trauer. In meinem Kopf herrscht Chaos. So viele Gedanken. So viele Fragen, aber keine einzige Antwort darauf.
Da.
Plötzlich spüre ich Blicke auf mir. Ich linse kurz zu ihnen und bemerke, dass sie es sind. Sie sind diejenigen, die mich anstarren.
Wollten sie mich jetzt etwa zu sich rufen?
Mein Herz fängt an schneller zu pochen. Ich freue mich, dass ich wieder zu ihnen und Teil an dem Gespräch haben darf.
Gerade als ich meinen Kopf umdrehen möchte, vernehme ich ein lautes Geräusch.
Ein Geräusch? Es hört sich an wie ein Lachen. Nein. Wie ein Gelächter. Ich linse noch einmal zu ihnen und bemerke, wie sie mich beobachten, etwas sagen und dabei in schallendes Gelächter verfallen.
Sie lachen mich aus.
Ich weiß es einfach.
Sie lachen mich aus.
Tausend Dinge schwirren in meinem Kopf. Fragen über Fragen. Und nur eine, auf die ich die Antwort so unbedingt wissen will, da sie mich nicht in Ruhe lässt.
Warum?
Warum...
Es geht mir einfach nicht in den Kopf.
Waren wir keine Freunde?
Bildete ich mir das etwa nur ein?
Eine Träne huscht über mein Gesicht und reflexartig wische ich darüber.
Sehe zur Decke hinauf. Zur Lichtquelle, mit der Hoffnung, sie würde meine Tränen austrocknen.
Ich fühle mich elend.
Unwohl.
Nicht richtig hier.
Fehl am Platz.
Kurz bevor ich aussteige, rufen sie meinen Namen. Ich drehe mich zu ihnen um. Und so falsch wie sie sind, winken sie mir zum Abschied und setzen dabei ein gespieltes Lächeln auf.
„Bis morgen.", heißt es.
Ich winke zurück, nicke einmal und steige somit aus.
Mir war bewusst, wenn ich etwas gesagt hätte, hätte sich meine Stimme zittrig angehört und ich wäre höchstwahrscheinlich in Tränen ausgebrochen. Vor ihnen. Das möchte ich auf keinen Fall. Ich will es ihnen nicht gönnen.
Ich will mich nicht noch elender fühlen, als ich es eh schon tue.
Ich laufe. Laufe und laufe. Der Weg scheint endlos zu sein. Ich denke nach. Über Gott und die Welt. Über alles und jeden um mich herum.
Denke nach.
Darüber, was ich eigentlich will. Und fasse einen Entschluss.
Es sollte sich etwas ändern. Nein. Es MUSS sich etwas ändern.
Zuhause angekommen, lasse ich mir erstmal nichts anmerken und gehe direkt auf mein Zimmer.
Ich warte ab, bis es endlich abends wird, um ihnen meine Entscheidung mitzuteilen. Meinen Eltern.
Ich wusste, es würde eine sehr unangenehme Auseinandersetzung stattfinden. Aber ich möchte es. Ich bin bereit dazu. Egal, wie hart es werden würde. Wenn sich nichts ändert, dann würde es für immer so bleiben. Ich würde mich für immer so fühlen.
Das wollte ich nicht!
Als es endlich dämmert, gehe ich zu ihnen.
Mein Herz klopft wie verrückt.
Soll ich es wirklich wagen? Wird es mich glücklich machen? Mache ich das Richtige oder ist es eine dumme Entscheidung?
Doch jetzt gerade, ist mir alles egal.
Ich will es unbedingt und muss wohl oder übel mit den Konsequenzen leben. Ich habe mich dazu bereit erklärt.
Egal, wie schwer es auch sein würde.
Es muss sich einfach etwas ändern.
Ich verkünde meine Nachricht und mein Herz setzt für eine Sekunde aus und fängt dann sogleich ganz schnell an zu pochen. Meine Augen fest verschlossen, meine Hände zu einer Faust geformt, bin ich bereit auf das, was kommen mochte.
Doch...
Stille.
Es bleibt still. Ich öffne langsam und neugierig meine Augen.
Sie sehen mich an. Die Enttäuschung steht ihnen ins Gesicht geschrieben.
Stille. Nichts als Stille.
Gerade als ich meinen Mund öffnen wollte, um etwas zu sagen, werde ich zuvor unterbrochen.
Es war also nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen.
Wutverzerrt und enttäuscht sehen sie mich an und werfen mir viele Sachen vor.
Akzeptieren meine Entscheidung nicht.
Ich bleibe ruhig und lasse alles über mich ergehen.
Mir ist von Anfang an klar gewesen, dass so etwas passieren würde.
Ich weiß aber, dass das auch ein Ende haben würde.
Irgendwann.
Sie können mich nicht umstimmen. Ich bin mir noch nie so sicher gewesen. Mein Entschluss steht fest. Ich werde das durchziehen.
Ich berichte ihnen nur noch, dass ich davon überzeugt bin. Es folgt eine weitere Standpauke, die auch irgendwann ihr Ende findet.
Eine Zeitlang wird es nun so weiter gehen, doch sie müssen es wohl oder übel akzeptieren.
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