Philias
"Guten Morgen, Phil. Heute ist der 16. September 2124. Es ist acht Uhr. Das Wetter ist sonnig, mit einer Außentemperatur von 15 Grad Celsius. Ich empfehle eine leichte Jacke zum Überziehen."
Mit einem tiefen Gähnen und noch halb geschlossenen Augen richtete sich Phil in seinem Bett auf. Automatisch erhellte sich der Raum und Sonnenlicht flutete durch die zuvor gedimmten Fenster, was ihn die Augen zusammenkneifen, und mit verzerrtem Gesicht blinzeln ließ. Müde schwang er seine vom Schlaf noch schweren Beine unter der Decke hervor und zwang sich zum Aufstehen. Es war schwer, die verlockende Wärme des Bettes zu verlassen. Er hätte die Nacht nicht durch machen sollen - daran wurde er nun unangenehm erinnert - doch der genaue Fluchtweg für den heutigen Auftrag musste noch einmal auf jede kleine Eventualität überprüft werden. Nichts durfte in dieser Nacht schief gehen.
Mit schlurfenden Schritten schleppte sich Phil in sein Badezimmer und fiel dabei fast über den weißen Hund auf dem Teppich, der ihn mit einem skeptischen Blick beobachtete. Ohne ein Wort ließ Phil seinen Körper während der morgendlichen Routine von dem Hausprogramm durchchecken. Beim Zähneputzen starrte er sich selbst entgegen, müde grüne Augen unter dunkelbraunem Haar hervorschauend, welches ihm in nervenden Strähnen über die Stirn viel, wenn es nicht gerade zu allen Seiten abstand, als hätte er in eine Steckdose gefasst. Die Frauen in seiner Lieblingsbar standen auf diesen Look, doch Phil selbst war schon mehrmals kurz davor gewesen, sich vor lauter Frust eine Glatze zu rasieren.
"Gesundheit liegt bei 82 Prozent. Ich empfehle, den Schlafrhythmus zu korrigieren und Vitamin C zu sich zu nehmen. Körper trägt Rhinoviren in sich. Auf dem Esstisch steht ein Medikament zur Vorbeugung bereit. Um die Wirkung sicher zu stellen ist außerdem Ruhe zu empfehlen", schallte die weiche Stimme des Hausprogramms nach abgeschlossener Analyse durch den Raum.
"Danke", murmelte Phil durch seine Zahnbürste und verließ mit dieser im Mund den Raum. Die Ruhe, welche das Hausprogramm empfohlen hatte, würde er sich an diesem Tag nicht gönnen können. Und auch mit einem besseren Schlafrhythmus sah es erst einmal nicht gut aus.
"Gern geschehen", antwortete das Programm, unwissend darüber, dass dessen Rat unbefolgt bleiben würde.
Kaum war Phil fertig damit, sich anzuziehen und den Inhalt seines kleinen metallenen Spezialkoffers zu überprüfen, da schwang die Tür zu seinem Schlafzimmer auf. Der kleine weiße Haushaltsroboter 'Rupert-610' rollte mit surrendem Motor in den Raum.
"Guten Morgen Master Philias, das Frühstück steht bereit", ließ er mit fröhlicher Stimme verlauten.
"Rupert, mein Name ist Phil. Kein 'Master', kein 'Philias', einfach nur Phil.", entgegnete dieser routiniert wie jeden Morgen und verließ mit dem Koffer in der Hand das Zimmer. Rupert folgte ihm. Er hoffte, der Roboter würde sich dies eines Tages merken können, denn er brachte es nicht übers Herz, ihn gegen einen neuen auszutauschen und verschrotten zu lassen.
"Es tut mir leid, Master Philias, ich werde in Zukunft darauf achten."
Phil rollte mit den Augen. "Das sagst du schon seit mehr als einem Jahr", murmelte er.
Im Kopf ging er jedoch bereits ein letztes Mal den heutigen Ablauf durch, während er den Hund für sein morgendliches Geschäft in den Garten ließ und abwesend ein Glas Wasser leerte. Er würde bis zum Abend bei seinem besten Freund letzte Vorbereitung treffen und dann stellte sich heraus, ob all die schlaflosen Nächte der Observierung und Planung Früchte tragen würden.
"Linda, bitte melde mich für die nächsten drei Tage krank", befahl Phil und stellte das leere Glas auf den Esstisch. Das Hausprogramm bestätigte den Auftrag, und Rupert eilte herbei, um das Geschirr wegzuräumen. Mit einem letzten Blick auf das Foto am Spiegel im Eingangsbereich, welches einen sieben Jahre jüngeren Phil breit grinsend mit einem ebenfalls lächelnden kleinen Mädchen zeigte, nahm er seinen Spezialkoffer in die Hand, klemmte sich eine leichte Jacke unter den Arm, und verließ gemeinsam mit dem Hund das Haus.
Es war an der Zeit.
***
"Lucas, bist du soweit?", fragte Phil angespannt in das WalkyTalky, den Griff um seinen Spezialkoffer verstärkend. Er hatte das Gerät schon seit seiner Kindheit und die Sicherheit der Verbindung entsprach in etwa der eines Kühlschrankes. Es war ein Spiel mit dem Feuer und ein großes Risiko - tagelang hatten er und Lucas darüber diskutiert, ob sie nicht doch lieber ihre professionell modifizierten und verschlüsselten Handys zur Kommunikation verwenden sollten. Doch niemand aus dem United States Safety Department, kurz USSD, würde damit rechnen, dass jemand mit Hilfe solch primitiver Technik in eines der sichersten Häuser der Vereinigten Staaten eindringen würde.
"Alles klar, Phil, ich bin so weit. Dir bleiben etwa zehn Minuten, dann geht die Anlage los. Aber pass auf, wenn du in einen Laser trittst, bist du Brei", antwortete Lucas aus der Sicherheit der kleinen Amateurzentrale im Keller seines Hauses.
Phil stockte. "Was?", zischte er. "Hey, du solltest alles lahmlegen! Das war der Plan!"
"Geh rein, die Zeit läuft. Gab eine Planänderung. Ich bin kein Zauberer, die Sicherheitscodes lassen sich so schnell nicht knacken!"
Wütend kickte Phil einen kleinen Stein beiseite, der leise über den rauen Asphalt hüpfte. "Du bekommst sowas von weniger von deinem Anteil, wenn das nicht klappt!"
Mit diesen Worten steckte er das WalkyTalky mit fahrigen Bewegungen an seinen Pullover und schlich zügig in Richtung des riesigen metallenen Eingangstores vor ihm, welches sich mit einem leichten quietschen automatisch öffnete. Vor Jahren wären die erwähnten Laser mit ein wenig Übung schnell zu sehen gewesen und man hätte gewusst, wo man besser nicht hintrat. Doch der rasante Fortschritt der Technik hatte dafür gesorgt, dass winzig kleine, aber trotzdem hoch funktionelle, Lasertaster in Mauern, Bäume, Gartenzwerge und andere Gegenstände hinein getüftelt werden konnten. Kabel waren ebenfalls nicht nötig. Somit war es ohne spezielle Aufspürgeräte unmöglich, diese zu erkennen.
Doch es nützte alles nichts.
Angespannt und möglichst schnell schlich Phil sich in Richtung der riesigen Garage neben der historischen Villa voran, sein Herz klopfend und nervöser Schweiß auf der Stirn.
Er kam sogar bis zur Hälfte der gepflasterten Auffahrt, doch dann ging sein Glück zu ende. Ein ohrenbetäubender Lärm erschallte auf dem gesamten Gelände, und alle sorgfältig überschriebenen Programme waren sofort wieder in Betrieb.
"Scheiße, ich habe die Kontrolle über die Sicherheitssysteme verloren, du musst sofort da raus", rief Lucas durch das WalkyTalky, Panik in der Stimme.
"Ach was!", brüllte Phil aufgebracht zurück und wandte sich um, genau das zu tun. Doch ein übergroßer schwarzer Schäferhund machte ihm einen Strich durch die Rechnung, der mit gefletschten Zähnen direkt vor ihm stand.
"Lucas, hier ist ein Hund!", informierte Phil seinen Komplizen mit leiser, jedoch drängender Stimmer. Er hob beruhigend seine Hände, als könnte das Tier die beschwichtigende Geste verstehen.
"Setz ihn außer Gefecht!", rief Lucas zurück.
Phil konnte sich im letzten Moment ein Schnauben vermeiden. "Das ist ein Regierungshund, du Genie, und der Größe nach einer von den genmanipulierten!", presste er heraus. Das Tier knurrte tief und laut, die Luft um Phil herum schien bei dem Geräusch zu vibrieren. Gerade setzte er zum Sprung an und Phil hob schützend seine Arme, da kam ein schneeweißer mittelgroßer Hund über das Grundstück gelaufen und riss das riesige Vieh um - derselbe, über den Phil am Morgen beinahe gefallen war.
"Guter Junge", murmelte er.
Während die Tiere gegenseitig versuchten, sich lautstark knurrend ihre Augen und Beine auszureißen, nutzte Phil die Chance und rannte weiter in Richtung des Ausganges. Doch nach nur wenigen Sekunden wurden seine Schritte langsamer, bis er mit rasselndem Atem und rasenden Gedanken stehen blieb. In der Garage warteten 16 Millionen auf ihn. Davon konnte er nicht nur alle Schulden seiner Eltern begleichen, sondern auch sein eigenes Leben für die Zukunft absichern. Mit zusammengekniffenen Augen biss er sich auf die Zunge. Dieser Job könnte sein Leben verändern. Doch gleichzeitig würde ihm dies nichts nützen, wenn er tot war.
Er spürte das Adrenalin durch seine Adern fließen und in den Ohren rauschend, beinahe die heulenden Sirenen und das Knurren der kämpfenden Hunde übertönend. Er verfluchte seine Dummheit, als er sich wieder umwandte und in Richtung der Garage des Anwesens sprintete.
16 Millionen.
In Rekordzeit erreichte er sein Ziel. Mit flinken Fingern tippte er den kurzen Code in die Sicherheitstafel neben der kleinen Tür, die ihn ins Innere lassen würde, und vernahm ein bestätigendes Piepen als das Schloss sich öffnete. Doch bevor er die Klinge herunterdrücken konnte, ertönte in der Nähe ein Schuss und mit einem Knallen und Knirschen bohrte sich eine Kugel in die metallene Tür, nur Zentimeter neben Phils Kopf. Erschrocken fuhr er herum. Als er niemanden sah, fluchte er erneut. Natürlich waren auch die Shooter wieder in Betrieb, welche automatisch ihr Ziel fixierten und schossen. Der einzige Grund, weshalb Phil jetzt noch lebte, war wahrscheinlich ein Kalibrierungsproblem, und somit auch die einzige Chance für ihn, das Grundstück wieder lebend zu verlassen. Schnell schob er sich mit seinem Koffer durch die Tür, ein weiterer Schuss direkt hinter ihm einschlagend.
Sobald er im Inneren der Garage war, schlug er die Tür geräuschvoll hinter sich zu. Sofort war der Lärm von außen gedämmt und er konnte sich auf seine Arbeit konzentrieren.
Automatisch schaltete sich das Licht in der Garage ein und das Hausprogramm meldete sich.
"Guten Abend, Herr Premierminister. Hatten Sie einen schönen Tag? Es gab während Ihrer Abwesenheit einen Eindringling. Die örtliche Polizei und das United States Safety Department sind informiert. Ein Tee steht im Speisesaal bereit."
Phil seufzte. Es würde eine lange Nacht werden.
Zügig ließ er seinen Blick durch die hallenähnliche Garage schweifen, auf der Suche nach seinem Ziel. Zwischen einem Jeep und einem hochmodernen Ferrari stand ein verhülltes Fahrzeug mit einem Mercedes-Logo auf dem schützenden Tuch. Das musste es sein. Ohne einen Moment innezuhalten, ging er auf den Wagen zu, seine Schritte durch den Raum hallend. Beim Auto angekommen stellte er den Koffer auf den Boden und zog mit einem Ruck die Verhüllung herunter.
Einen bewundernden Pfiff konnte er sich nicht verkneifen, als sein Blick auf den Wagen viel. Man sah sofort, dass dieses Auto eines der teuersten auf dem Markt sein musste. Ein alter, schwarzer Mercedes, der vermutlich schon zum Höhepunkt seiner Zeit ziemlich wertvoll gewesen war. Aber jetzt, als sehr gut erhaltener Oldtimer, war er wahrscheinlich noch viel mehr wert. Sicherlich nicht 16 Millionen, deshalb würde sich die teure Bezahlung von Phil für seinen Auftraggeber nicht wirklich lohnen, aber das würde er gegenüber diesem wohl weißlich nicht erwähnen.
Mit einem Knistern meldete sich Lucas zu Wort.
"Phil, warum zum Teufel zeigt das GPS dich noch auf dem Gelände an? Verpiss dich von da! Im Moment sind vier Wagen und ein Hubschrauber auf dem Weg, dir bleiben noch etwa fünf Minuten!" Schnell öffnete Phil seinen Spezialkoffer und kramte nach einem kleinen metallischen Draht, der ihm wortwörtlich schon sämtliche Türen geöffnet hatte. Normalerweise würde er den Wagen mithilfe einer kleinen Fernbedienung entsperren, die er lediglich auf das Modell und Baujahr des Fahrzeugs vor ihm kalibrieren müsste, doch der Mercedes war so alt, dass die Öffnung mit einem solchen Gerät nicht funktionierte.
Es dauerte viel zu lange, bis er den Draht unter ein paar Schraubenziehern entdeckt hatte, und ebenfalls nochmal eine weitere Minute, bis das Schloss geknackt war.
Schnell steckte er den Draht nach vollbrachter Tat in die Vordertasche seines Pullovers, klappte den Koffer zu, schmiss ihn in den Fußraum des Beifahrersitzes und setzte sich dann hinter das Steuer.
Da es ein so altes Auto war, bekam Phil es glücklicherweise schnell in Gang. Man brauchte lediglich zu wissen, welche Knöpfe man drücken und welche Kabel man ziehen musste. Er stieß ein erleichtertes Seufzen aus, als der Motor brummend ansprang. Doch diese Erleichterung hielt nicht lange an.
"Wie lange noch? Die Karre läuft!", meldete er sich bei Lucas, während er sich mit geübtem Blick kurz eine grobe Orientierung darüber verschaffte, wo sich welche Knöpfe am Armaturenbrett befanden.
Sein Freund antwortete sofort. "Wird aber auch Zeit, dir bleiben noch zwei Minuten bis der Helikopter eintrifft, wenn's hoch kommt! Die gesamte Eskorte kommt aus Osten!"
"Seh' ich aus wie ein Kompass?!", erwiderte Phil ärgerlich.
"Fahr' nach rechts", war alles, was Lucas darauf antwortete.
Doch das reichte.
Phil rief dem Hausprogramm des Ministers zu, dass die Garage geöffnet werden sollte, was dieses auch sofort gehorsam tat. Sobald die Öffnung groß genug schien, gab er Gas und fuhr mit schwindelerregendem Tempo die Auffahrt hinab. Er betete, dass das Kalibrierungsproblem so stark war, dass die Shooter das große Auto nicht zu oft trafen und den Lack allzu sehr zerstörten, und brachte kurz noch einmal den Wagen schlitternd zum Stehen. Er beugte sich über den Beifahrersitz und stieß nach kurzen Schwierigkeiten die Tür auf, um den Hund, der das genmanipulierte Riesenvieh inzwischen außer Gefecht gesetzt hatte, in den Wagen springen zu lassen.
"Braver Josto!", lobte er das Tier, welches hechelnd im Fußraum des Mercedes Platz nahm während Phil die Tür wieder zu knallte und Gas gab. Wie vorgegeben bog er rechts auf die Straße ab so bald als er das Grundstück verließ, und heizte durch die spärlich besiedelte Nachbarschaft. Mit zusammengekniffenen Lippen sah er den Helikopter bereits im Rückspiegel auf sich zu kommen.
"Lucas, wo kann ich mich verstecken? Ich werde nicht schnell genug aus dem Radarfeld der USSD kommen!", gab Phil durch das Funkgerät bekannt.
"Ein paar Kilometer weiter ist ein ehemaliges Militärgelände, d-"
Phil fluchte. Das Signal war abgebrochen. Er zückte sein Handy. Ebenfalls kein Signal!
Wütend schlug er mit der flachen Hand auf das Lenkrad und warf das nutzlose Telefon auf die Rücksitzbank.
Nun war er vollends auf sich allein gestellt.
Vor ihm tauchte eine Kreuzung auf, und er riss das Lenkrad rechts herum - doch es funktionierte nicht.
Erschrocken trat er auf die Bremse, was ebenfalls keine Wirkung zeigte. Ohne langsamer zu werden jagte der Wagen geradeaus über die Kreuzung. Zum Glück war die Gegend um diese Zeit menschenleer.
Mit klopfendem Herzen zerrte Phil weiter am Lenkrad und trat auf die Pedale, obwohl er schon längst wusste, dass er die Kontrolle über den Wagen vollends verloren hatte.
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