Moment der Entscheidung

Während Revolt so im stetig schwindenden Licht saß, Phil neben ihm, kreisten seine Gedanken um den Krieg und die menschliche Spezies. Scheinbar waren die Menschen den Transformern unerwartet ähnlich. Vieles von dem, was Phil ihm erzählt hatte, erinnerte ihn an cybertronische Traditionen und Verhaltensweisen. Natürlich gab es auf Cybertron nie so etwas wie Hochzeiten, Geburtstage oder andere Erdensitten. Doch etwas wie das Konzept einer Schule war ihm durchaus geläufig, genauso wie Freundschaft. Nur um eine Sache beneidete er die Menschen insgeheim, und das war Familie. Er hatte zwar seinen Bruder, doch nicht auf die Weise, wie es auf der Erde scheinbar üblich war. Die Menschen schienen ein enges Bündnis zu den Personen zu haben, die sie als ihre Familie bezeichneten. Und, zumindest für sie, erstreckte sich diese Bindung auch über ihre eigene Spezies heraus. Es war eine befremdliche Vorstellung für ihn. Revolt hatte seit dem Krieg keine besondere Zuneigung mehr zu seinem Bruder verspürt und kannte auch keinen anderen Decepticon mit Geschwistern, bei dem das so war. Er wusste, dass das vermutlich zum großen Teil daran lag, dass es einen schwächte, eine engere Beziehung zu jemand anderem zu haben, doch tief in seinem Inneren wünschte er sich, diese Einsamkeit ablegen zu können. Früher hatten er und Mordread oft nach einem besonders anstrengen Kampf zusammengesessen, und sich ein friedliches Cybertron vorgestellt. Eines, dass sie nie gekannt hatten. Er begann, über die Ziele der Decepticons und Autobots nachzudenken und abzuwägen. Die Decepticons wollten ihre Politik durchsetzen, und zwar mit der Tötung eines jeden Gegners. Wenn diese Säuberung allerdings erst einmal von Statten gegangen war, dann würde sein Bruder sich zum Prime ernennen lassen und auf eine strickte Gleichberechtigung in seiner Gefolgschaft bestehen - so wie Megatron es vorgehabt hatte. Die Autobots hatten ursprünglich dasselbe Endziel, jedoch ohne die Säuberung. Inzwischen jedoch legten sie ihren Fokus auf den Schutz der Erde und Menschheit. Bis vor einigen Minuten konnte Revolt das nicht im Geringsten nachvollziehen - doch langsam meinte er, zu verstehen. Seine Ansichten begannen zu verwischen, und er wusste nicht wirklich, auf welche Seite ihn das stellte. Er fand die Menschen noch immer primitiv. Sie wussten nichts über das Universum da draußen, kämpften über Kleinigkeiten - doch trotzdem waren es Lebewesen. Sie hatten Traditionen, sie hatten einen Alltag, und sie schienen in Hinsicht auf Familie sogar weiterentwickelt zu sein als die Transformer. Falls Mordread siegen sollte, wäre dies das Ende dieses Planeten und seiner Bewohner.
Gleichzeitig fühlte Revolt sich jedoch insbesondere jetzt - wo er erfahren hatte was Familie eigentlich bedeutete - in der Verpflichtung, seinen Bruder zu unterstützen. Vielleicht könnten sie eines Tages wieder gemeinsam dasitzen und sich Dinge erträumen, die wie in weiter Ferne schienen. Außerdem hatte Revolt seit er denken konnte für die Decepticons gekämpft. Etwas anderes konnte er sich nicht vorstellen.
Phil hatte neben ihm inzwischen aufgehört zu weinen und starrte mit leerem Blick in die Sonne. Revolt wusste nicht, was Leukämie war - er hatte sich bei seiner Ankunft auf dem Planeten nur über das Nötigste informiert - aber bei der Art, wie der Junge reagierte, konnte es nicht gut sein. Er stellte sich vor, Mordread zu verlieren. Würde er genauso reagieren? Trauern? Er wusste es nicht. Doch wenn es zu einer Reaktion wie der von Phil führte, dann wollte er es auch nicht herausfinden.
Als die Sonne schließlich endgültig verschwunden war, richtete Revolt sich auf, um seinen gewohnten Platz dem Gebäude einzunehmen.
"Stopp, Revolt." Er hielt inne und blickte auf Phil hinab. "Ich wollte mich bei dir bedanken." Revolt neigte fragend den Kopf. "Fürs Zuhören", fügte der Junge dann hinzu. "Und du hast mich davor bewahrt, beim Premierminister erschossen zu werden. Natürlich habt ihr mich erst in die Situation gebracht, aber trotzdem wäre ich vermutlich ohne dich nicht mehr am Leben." Revolt beobachtete den Menschen eingehend, und suchte nach Hinweisen auf einen Scherz oder etwas Ähnlichem. Doch es schien ein ernsthaftes Friedensangebot zu sein. Er zögerte. Es war seine Aufgabe, mit dem Jungen klarzukommen. Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb er geneigt war, das Dankeschön anzunehmen - Phil hatte Revolt immer wieder überrascht. Mit Dingen, die er ihm nie zugetraut hatte und über alles hinaus gingen, was er bei einem Menschen für möglich gehalten hatte. Er war für ihn gegen Hive eingetreten - etwas, was noch nie irgendwer für ihn getan hatte. Er war bei den Autobots geblieben - obwohl er es nicht wollte. Und trotz aller Bemühungen Revolts, ihn zu hassen, konnte er nicht anders, als zu einem gewissen Grad beeindruckt zu sein. Also nickte er. Phil begann zufrieden zu grinsen. Gerade wollte der Junge etwas sagen, da entdeckte Revolt Firelive, der auf sie zu kam. Er erstarrte und blickte aus dem Augenwinkel auf Phil hinab, der den Überläufer nun ebenfalls entdeckte und fragend die Stirn runzelte. "Ich denke, den Weg in das Haus findest du alleine", sagte Revolt angespannt. Was wollte Firelive von ihm? Begann der Angriff? Phil wollte etwas erwidern, spürte jedoch scheinbar, dass er gerade keine Fragen stellen sollte und verschwand.
"Was treibst du da mit dem Menschen?", fragte Firelive misstrauisch, als er beim Motel angekommen und Phil verschwunden war. Sofort wechselte Revolts Stimmung von angespannt zu genervt. "Was geht dich das an?"
"Eine ganze Menge, schließlich haben wir hier als einzige das Ruder in der Hand. Jeden Moment könnte Lord Mordread sich bei uns melden und du hast nichts Besseres zu tun, als mit dem Menschen einen stundenlangen Smalltalk zu führen!" Nun wurde Revolt sauer. Was erlaubte dieser eingebildete Schleimbeutel sich eigentlich?
"Ich glaube nicht, dass du dich über die Befehle setzen kannst, die mein Bruder mir gab", sagte er. Er hasste es, die Bruder-Karte zu spielen, doch sie war wirksam.
"Dein Bruder?" Schlagartig war Firelive wie ausgewechselt. "Natürlich. Tut mir leid. Lord Mordread weiß, was er tut." Revolt verengte seine Augen. Er verabscheute kaum etwas mehr als Charaktere wie Firelive. Er war vielen von ihnen begegnet, als Mordread die Führung der Decepticons übernahm. Sie behandelten jeden ohne Respekt, außer sie erhofften sich, dass es ihnen etwas bringen könnte. "Wenn du nichts dagegen hast, werde ich mich jetzt weiter darum kümmern, meinem Auftrag zu folgen", sagte Revolt nicht ohne eine gewisse Schärfe in der Stimme. Firelive nickte, offensichtlich beschämt, und machte sich mit gesenktem Haupt auf den Weg zu den Hallen, während Revolt sich transformierte, einen Entschluss fasste und wie jede Nacht auf ein Angriffssignal wartete.

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