Cybertron
Als Phil am nächsten Morgen aufwachte, wummerte sein Schädel und ihm war kalt. Zitternd richtete er sich auf. Seine Augen musste er zusammenkneifen, um sich an das viel zu grelle Licht zu gewöhnen. Übelkeit überfiel ihn, und nur mit Mühe konnte den Inhalt seines Magens daran hindern, die Speiseröhre hochzuwandern. Er spürte Josto, der erfreut versuchte, ihn zum Spielen aufzufordern. Kein Wunder - es war Tage her, dass Phil mit ihm einen echten Spaziergang gemacht hatte. Stöhnend raffte er sich auf, nur um sich dann schwankend an die offenstehende Tür zu lehnen als der Raum gefährlich zu kreisen begann. "Fuck", murmelte er in seine Armbeuge. Es dauerte eine Weile, bis er sich traute, die Tür hinter sich zu schließen und einen vorsichtigen Schritt auf den von Rissen übersäten Parkplatz zu machen. Josto rannte freudig über den Platz, von Phil zu dem alten Wohnhaus und zurück. Offensichtlich hatte er eine Menge aufgestaute Energie. Schlechtes Gewissen überkam Phil. "Sorry", sagte er leise, als Josto sich hechelnd neben ihm auf den Boden legte. "Lass mich das gröbste meines Katers ausschlafen, dann gehen wir, ja?" Der Hund schaute ihn bloß aus treuen Augen an, die Zunge an einer Seite heraushängend. Mit einem Seufzen machte er sich wieder auf den Weg ins Haus, durch die Küche hoch bis in das Wohnzimmer, und schmiss sich dort auf das große Sofa. Es dauerte vermutlich nicht einmal eine Minute, bis er wieder eingeschlafen war - wenn auch diesmal im Warmen.
***
"Wach auf", keifte auf einmal eine Stimme, die Phil erschrocken aus dem Schlaf reißen ließ. "Nur weil Optimus dich mir aufzwingt, is' das kein Grund das Sofa zu blockier'n!" Doddle stand vor dem Sofa und wedelte mit der Fernbedienung vor Phils Gesicht herum.
"Du hast hier doch genug Platz", murmelte dieser verschlafen. Er fühlte sich, als hätte nicht einmal fünf Minuten gehabt, doch ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass es sogar zwei Stunden waren, die vergangen sind seit er das letzte Mal drauf geschaut hatte. Doddle haute ihm als Antwort mit der Fernbedienung auf den Arm und Josto, der neben dem Sofa lag, fing an zu knurren. "Du liegst aber auf mein'm Lieblingsplatz, Arschloch!"
Phil stöhnte und raffte sich auf. Einen Streit wollte er in seinem Zustand nicht vom Zaun brechen, er wusste nicht einmal, was außer einem offensichtlichen Alkoholüberfluss in der Nacht zuvor geschehen ist. Also verzog er sich, gefolgt von Josto, aus dem Wohnzimmer runter in die Küche, um etwas zu trinken zu besorgen. Wasser natürlich - seine Kehle war staubtrocken. Zwei volle Gläser trank er mit einem Mal aus, ein weiteres leerte er innerhalb einer Minute. Als er das Glas abstellte, holte er ein paar Mal tief Luft. Immerhin die Übelkeit war nach den zwei Stunden verschwunden, doch sein Kopf fühlte sich noch immer an, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Er beschloss, trotzdem mit Josto den versprochenen Spaziergang zu unternehmen. Er benötigte dringend frischen Sauerstoff und Ablenkung, sonst würde er in diesem Motel verrückt werden.
Als der Hund bemerkte, dass Phil tatsächlich vorhatte, mit ihm Zeit zu verbringen, war er außer sich. Aufgeregt hechelnd lief er um seinen Besitzer und besten Freund herum, und brachte diesen mehrmals fast zu Fall. "Ist ja gut", sagte er mit einer beschwichtigenden Geste - die das Tier natürlich nicht verstand - und konnte ein schiefes Grinsen nicht unterdrücken.
Als sie aus der Lobby getreten waren atmete er erst einmal tief durch. Die Luft war frischer als am Tag zuvor, der Herbst war im Anmarsch. Gerade trat er vom Motelgrundstück, da meldete sich Revolt zu Wort, der wie immer vor dem morschen Grundstückszaun parkte. "Wohin willst du?"
Phil blieb mit geschlossenen Augen stehen und atmete erneut tief durch. Nicht wegen seiner Kopfschmerzen, sondern um sich selbst daran zu hindern, dem Bot etwas unnötig Gemeines an den Kopf zu werfen. Wenn er für eine Diskussion mit Doddle keine Nerven hatte, dann erst recht nicht auf einen Streit mit Revolt.
"Ich gehe nur mit Josto spazieren", erklärte er so neutral wie möglich. Dieser warf ihm einen fragenden Blick zu, als er bemerkte, dass Phil stehen geblieben war.
Revolt transformierte sich. "Warum?", fragte er dann mit eindeutigem Missfallen.
"Weil Hunde nicht auf die Toilette gehen können und Auslauf brauchen". Revolt verengte seine Augen. Er schien mit sich selbst eine Debatte zu führen, die Phil geduldig abwartete. "Dann muss ich mit", sagte er dann.
"Warum?", erwiderte Phil entgeistert. "Ich kann das auch alleine - und zwar schon seit vielen Jahren." Er hatte sich auf Ruhe und Zweisamkeit gefreut.
Revolt schnaubte. "Ich kann mir auch was Besseres vorstellen, aber ich habe den Befehl, auf dich aufzupassen, ist das klar? Die Decepticons könnten die Basis beobachten und dich außerhalb gefangen nehmen, ohne dass es irgendwer von den Autobots bemerken würde."
Phil stöhnte. "Ich will einfach nur normal spazieren gehen, okay?", meinte er wütend.
"Und ich will ganz normal auf meinem Planeten leben und gar nicht auf dich angewiesen sein, okay? Es gibt aber Dinge, die nicht gehen, und wenn ich auch nur ein einziges Mal etwas richtig machen kann, dann werde ich das tun. Mir ist dabei egal ob es dir passt oder nicht!", erwiderte Revolt wütend und transformierte sich. Phil runzelte die Stirn, während Revolt ohne ein weiteres Wort seinen Motor startete. Es klang nicht so, als sei der Bot bei seinem Ausbruch noch beim aktuellen Thema gewesen. Dann zuckte er jedoch mit den Schultern und stapfte los. Revolts Gefühlswelt war nicht sein Problem, solange sie ihn nicht von seinem Spaziergang abhielt. Josto trabte glücklich neben ihm her, rannte mal aufgeregt voraus, um an einer besonders interessanten Stelle zu schnüffeln und dann wieder zurück, um neben Phil her zu traben. Das Trio bekam einige skeptische Blicke, als sie den Hauptteil der Basis durchquerten, doch da Revolt sie begleitete, schien niemand etwas einzuwenden zu haben. Als sie endlich hinter dem Ausgang zwischen den Bäumen des dichten Waldes verschwanden, wurden Phils Schritte spürbar leichter und entspannter. Eine Weile lief er, gefolgt von Revolt, so durch das unwegsame Gelände, und verlor sich dabei immer weiter in seinen eigenen Gedanken. Es dauerte jedoch nicht lange, bis diese wieder zurück zu den Transformern wanderten. Er hatte noch immer so viele Fragen. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete, wie Revolt über die Blätter auf dem Boden rollte. Vermutlich sollte er es nicht riskieren - er hatte noch immer Kopfschmerzen und war gerade erst einem Streit entkommen. Nach einer Weile siegte jedoch seine Neugier.
"Weshalb musstet ihr euren Planeten verlassen?", fragte er geradeheraus. Nicht der beste Einstieg, jedoch hatte er Gespräche auch schon schlechter begonnen. Revolt rollte geräuschvoll über ein paar Zweige und schwieg. "Ich meine, ich weiß, dass Optimus gesagt hat, dass Cybertron komplett zerstört ist und ein Krieg herrschte. Aber worum ging es in dem Krieg überhaupt?"
Revolt schwieg weiterhin - zumindest für ein paar Sekunden. "Megatron und Optimus Prime wollten gemeinsam die Gleichheit aller Transformer erreichen, heißt es. Allerdings kam es zu Streit darüber, wie das ganze angegangen werden sollte. Megatron wollte seine Ziele durchsetzen, indem er die damaligen Herrscher vom Thron stoßen würde, um die Macht an sich zu reißen, während Optimus der Ansicht war, man solle das ganze diplomatischer umsetzen. Letztendlich eskalierte der Streit in einen Bürgerkrieg und entzweite den gesamten Planeten über tausende von Jahren, bis irgendwann das Energon vom Planeten verschwunden und der Großteil der Bevölkerung tot war. Wir waren gezwungen, uns im All zu zerstreuen und nach neuem Energon zu suchen. Sonst würde niemand überleben. Unser Fokus lag dabei auf dem Allspark. Ein Würfel, der für alles Leben auf Cybertron verantwortlich und unsere größte Hoffnung auf einen Wiederaufbau des Planeten war. Wir fanden ihn schließlich auf der Erde und der Rest ist Geschichte. Sam zerstörte den Allspark und tötete Megatron - zumindest für eine Weile. Bis er mit einem Splitter des Würfels wiederbelebt wurde."
"Hmh", machte Phil und hob einen Stock vom Boden auf, um ihn für Josto zu werfen. Der rannte sofort begeistert hinterher. "Wie konnte euer Krieg so lange andauern? Du hast gesagt, Optimus und Megatron waren auf dasselbe Ziel aus. Wie konnte eine Meinungsverschiedenheit über die Methode einen solchen Krieg ausgelöst?"
Revolt schnaubte. "Pure Arroganz. Megatron wollte um jeden Preis über Cybertron herrschen und somit sicherstellen, dass Ungleichheit nie wieder einen Platz in der Gesellschaft haben würde. Er scheute sich nicht davor, im Fall des Falls zu töten. Optimus hingegen war der Ansicht, dass das Ziel auch friedlich und diplomatisch erreicht werden konnte. Keiner der Beiden war bereit für einen Kompromiss und der Konflikt wurde immer persönlicher. Irgendwann drängte alles in den Hintergrund, was nicht mit dem Krieg zu tun hatte. Es gab nur noch Decepticons oder Autobots."
Phil stellte sich vor, das alles würde auf der Erde geschehen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die paar Autobots, die überlebt hatten, einmal Teil einer gesamten Planetenbevölkerung waren und wie viele Transformer dementsprechend scheinbar ihr Leben lassen mussten. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er nahm den Stock entgegen, den Josto ihm vor die Füße warf, und schmiss ihn erneut ins Gebüsch. Kein Wunder, dass Revolt immer so schlecht gelaunt war. Er selbst würde vermutlich ähnlich reagieren.
"Wie war euer Planet so?", fragte er nach einer Weile.
Abrupt bremste Revolt ab. Verwundert blieb Phil stehen und blickte fragend auf den Bot, der anfing sich zu transformieren. Dann kniete er sich mit zusammengekniffenen Augen über Phil, der mit gerunzelter Stirn zu ihm aufsah.
"Warum willst du das alles wissen?", fragte der Transformer forsch.
"Warum nicht?", entgegnete Phil mit gerunzelter Stirn und steckte seine Hände in die Hosentaschen. Als merkte, dass diese Antwort nicht zufriedenstellend war, senkte er mit einem Seufzen seinen Blick. "Ich habe Angst", fügte er verkniffen hinzu.
Nun war es Revolt, der verwirrt schaute. "Du hast Angst?", wiederholte er.
"Ja", sagte Phil genervt. "Vielleicht ist euch Blechbüchsen das Konzept nicht bekannt, aber Menschen haben Angst. Und ich habe besonders große, denn wie ich freundlicherweise schon oft drauf hingewiesen wurde, könnte meinem gesamten Planeten dasselbe Ende wie Cybertron widerfahren, wenn diese Decepticons an die Matrix gelangen. Vielleicht stört es dich nicht, aber ich würde gerne in einer Welt leben, in der ich meine Eltern wiedersehen kann. Und zwar lebendig! Ich bin kein Soldat." Revolt schwieg und Phil seufzte frustriert. "Ich will es einfach wissen", fügte er dann flehend hinzu. Das schien endlich zu wirken, denn Revolt lehnte sich zurück und beobachtete Phil scharf. Dann begann er, zu erzählen.
"Cybertron ist mit der Erde nur bedingt vergleichbar. Organisches Leben ist dort nicht möglich. Nicht einmal der Himmel gleicht sich - wir haben zwei Sonnen und keinen Mond. Cybertron kann man mit bloßen Worten einem Menschen nicht begreiflich machen."
Phil missfiel die letzte Bemerkung und hob eine Augenbraue. "Ich denke, ich kann dich ganz gut verstehen. Dein Planet besteht also nur aus Metall und ist karg."
"Nein", erwiderte Revolt. "Zwar besteht unser Planet überwiegend aus Fels und Materialien, die ihr durchaus als Metall bezeichnen würdet. Karg war er sonst nur an Pflanzen. Vor dem Krieg war Cybertron voll von riesigen und prachtvollen Gebäuden, Städte aus edlen Materialien, und es gab Feste, Wettkämpfe, ... Ein normales Leben. Wir waren einmal Individuen - bevor nur noch zwischen Autobot und Decepticon unterschieden wurde. Dieser Äon wird auch als das Goldene Zeitalter bezeichnet." Revolts Blick begann in die Ferne zu schweifen. "Laut den Erzählungen derer, die das miterlebt haben, war Cybertron ein Paradies." Kurz schwieg er, und Phil wartete geduldig, bis er fortfahren würde. "Aber inzwischen ist unser Planet komplett verwüstet und mit Leichen übersät, wohin man auch guckt. Nach einer gewissen Zeit zerfielen oder änderten sich Werte und Prioritäten, die einmal Teil unserer Kultur und unseres Miteinander waren. Es ist ewig her, seitdem das letzte Mal jemand würdevoll beerdigt wurde."
Phil spürte, wie sehr Revolt scheinbar unter diesem Fakt litt - selbst, wenn diese Art von Gefühlen zu ihm nicht wirklich passte. Er schluckte, als er Jostos Stock in seiner Hand nachdenklich herumdrehte.
"Gibt es für euch keine Hoffnung, zurückzukehren?", fragte er dann.
Revolt blickte wütend zu ihm herunter. "Hast du nicht zugehört? Der Allspark ist zerstört! Eine andere Möglichkeit zum Wiederaufbau ist uns nicht bekannt. Nicht einmal Optimus hat einen Plan. Wir sind auf ewig heimatlos. Und jetzt bring deinen Spaziergang zu Ende, wir müssen auf die Rückkehr von Optimus und Skymark jederzeit vorbereitet sein."
Nur wenige Augenblicke später stand Revolt in seinem Fahrzeugmodus vor Phil, der tief seufzte. Einmal mehr wünschte er sich, einfach in eine andere Familie geboren worden zu sein.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top