Bekannte und Unbekannte
Mit drei großen Tüten voller Fertigpizzen, Toast, Käseaufschnitt und den letzten drei Äpfeln des Ladens, verließ Phil die Tankstelle. Ihm war klar, dass eine gesunde Ernährung anders aussah, aber damit würde er erst einmal über die Runden kommen müssen. Mit dem Tankstellenbesitzer - ein schmächtiger und sehr gesprächiger Italiener - hatte Phil während des gesamten Einkaufs eine ausgiebige Unterhaltung über die aktuelle Weltlage und das schlecht laufende Tankstellengeschäft führen können. Normalerweise war Phil alles andere als interessiert an Gesprächen mit wildfremden Menschen - einer der Gründe aus denen er große Partys vermied - doch obwohl es nur einen Tag her war, dass er ein normales Leben geführt hatte, tat es nach der ganzen Alien-Geschichte gut, mit einem ganz normalen Menschen über ganz belanglose Themen zu reden. Als er jedoch beim Verlassen der Tankstelle an die bevorstehende Rückfahrt mit Revolt dachte, war all die Entspannung wieder verschwunden. Mit einem Seufzen stellte er die Tüten möglichst sicher in den Kofferraum, atmete vor der Autotür noch einmal tief die frische Luft ein, und setzte sich dann hinein. Der Höllenritt konnte beginnen.
Doch er tat es nicht.
Auch nach zehn Minuten Fahrt mit verkrampftem Festkrallen am Lenkrad erfreute sich Phils Magen bester Gesundheit. Langsam, aber stetig, wurde er sich immer sicherer, dass Revolt etwas plante. Und er bezweifelte, dass es zu seinen Gunsten ablief. Nervös wartete er auf den großen Knall. Doch die gesamte Rückfahrt verlief ruhig und ohne Zwischenfälle. Sie war sogar so ruhig, dass man fast schon behaupten könnte, es sei die angenehmste Fahrt in Phils Leben.
Bei dem Motel auf der Basis angekommen, stieg dieser mehr oder weniger verunsichert aus. Wortlos holte er die Tüten aus dem Kofferraum. Ein paar Sekunden lang starrte er auf den stillen Wagen vor sich. Dann kämpfte er sich mit gerunzelter Stirn durch den wuchernden Vorgarten, trat durch die Glastür und atmete erleichtert aus als diese sich schloss. Vermutlich sollte er sich über die scheinbare Sinneswandlung Revolts freuen, doch ein ungutes Gefühl im Bauch ließ stattdessen einen Schauer über seinen Rücken laufen. Zügig stellte er die Lebensmittel in die Küche, bevor er in das obere Stockwerk eilte und Josto zu sich holte. Hunde konnten ihn wie kein anderes Wesen beruhigen und sicher fühlen lassen, ganz egal wie groß, klein oder ängstlich das Tier war. Das war auch der Hauptgrund, aus dem er neben seinem kriminellen Hauptberuf in einem kleinen Laden für Hundeausstattung arbeitete. Nebenbei war es natürlich außerdem besser, seinen Eltern über Lederleinen und Hundefutter zu berichten, wenn sie ihn fragten, wie es auf der Arbeit lief. Er bezweifelte, dass sie begeistert wären davon zu hören, wie ihr geliebter und einziger Sohn sein Haus durch Diebstahl finanzierte.
Gemeinsam mit Josto begab sich Phil zurück in die Küche und untersuchte den Kühlschrank auf seine Funktionalität. Zwar funktionierte bisher alles in dem Motel, jedoch war er innerlich überzeugt davon, dass irgendetwas einfach kaputt sein musste, nach all den Jahren. Doch mit dem ganzen Schimmel gestaltete sich das Vorhaben schwierig, sodass Phil erstmal seufzend nach irgendetwas zum Reinigen suchte. In einer der letzten Schubladen fand er eine Art Zange, mit der er die vor Schimmel unerkennbaren Lebensmittel in einen Eimer schmiss, um sie dann in eine große Plastiktüte zu entsorgen. Eines der Messer funktionierte er zu einer Spachtel um, mit welcher er den groben Schimmel von den Innenwänden und Ebenen des Kühlschrankes entfernte und zu den Essensresten packte. Zum Schluss wischte er immer wieder durch das Innere des Schrankes, um sicher zu stellen, dass auch wirklich jeder einzelne Fleck verschwunden war.
Als er einige Stunden später in einen blitzblanken Kühlschrank blickte, in welchem er eine integrierte Frosttruhe gefunden hatte, hatte seine Wirbelsäule begonnen bei jeder Bewegung zu knirschen. Er stopfte mit einem Stöhnen die zwischenzeitlich aufgetauten Pizzen hinein und lehnte sich dann erschöpft gegen die geschlossene Tür. Josto reagierte darauf mit mehreren nachdrücklichen Nasenstupsern gegen seinen Oberschenkel, vermutlich um ihn darauf hinzuweisen, dass nun der perfekte Zeitpunkt für einen Spaziergang war. Mit einem Seufzen stieß sich Phil von der Tür ab, nur um daraufhin schmerzhaft festzustellen, dass er trotz all seinem Training, welches er als Dieb benötigte, nicht auf stundenlange Verrenkungen vor einem Kühlschrank vorbereitet war. Also schlurfte er nur bis zum Vorgarten, warf kurz einen misstrauischen Blick auf Revolt, und wartete bis Josto sein Geschäft erledigt hatte. Dieser warf ihm einen verwirrten Blick zu, als er bemerkte, dass Phil keine Anstalten machte, sich vom Eingang fortzubewegen. Etwas planlos schnüffelte er also nur durch das Gestrüpp, verlor ein paar weiße Fellbüschel an die Zweige der vertrockneten Büsche und jagte für ein paar Minuten ein paar Insekten hinterher. Als er sich langweilte und begann, Phil zum Spielen zu animieren, entschied dieser sich, dass es Zeit war, sich ins Bett zu legen und den Rest des Tages damit zu verbringen, ein paar Filme zu streamen. Er hoffte nur, dass die Decepticons sich nicht dazu entschieden, ausgerechnet jetzt anzugreifen, denn er wäre nicht mal in der Lage, ihnen den Mittelfinger zu zeigen. Sehr zu Jostos Missfallen ging es also wieder zurück in das Motel. Beim Anblick seines trübselig aussehenden, treuen Begleiters brachte Phil es nicht übers Herz, tatsächlich zurück in sein Zimmer zu gehen. Am Tag zuvor hatte er auf dem Gebäudeplan gelesen, dass es ganz am Ende des Flures an welches sein Zimmer grenzte - dort wo im Erdgeschoss der Fitnessraum war - einen Aufenthaltsraum gab. Vermutlich war dies nun ein guter Anlass, sich einmal anzuschauen, was seine neue Bleibe alles neben Schlafzimmern, Fluren, Küchen und Speisesälen zu bieten hatte. Also ging er einfach an seinem Zimmer vorbei, was Josto prompt die Ohren spitzen und zu ihm aufblicken ließ. Ein amüsiertes Zucken am Mundwickel konnte sich Phil nicht verkneifen, und auch seine eigene Neugier war geweckt, als er die schwere Holztür am Ende des Korridors aufschwingen ließ. Wie in seinem eigenen Zimmer wurde er mit stickiger Luft begrüßt, die jedoch viel weniger staubig war. Auch der Rest des Raumes schien viel sauberer zu sein, wie er mit Erleichterung feststellte. Zielstrebig steuerte Phil auf das große Sofa zu, welches in einer Ecke des Raumes stand. Langsam setzte er sich auf das weiche Kunstleder, lehnte sich gegen ein Kissen, das die Ecke zierte, und legte die Füße hoch. Es fühlte sich himmlisch an. Wenn ein Rücken seufzen könnte, dann hätte er keinen Zweifel daran, dass seiner genau dies nun tun würde. Ohne den Kopf zu bewegen, ließ er seinen Blick durch den Raum wandern und entdeckte einen Billiardtisch, der in sehr gutem Zustand zu sein schien, ein großes Regal mit Büchern, einen großen Flachbildfernseher an der Wand gegenüber vom Sofa, eine leere Snackmaschine, zwei Spielautomaten, und mehrere vertrocknete Pflanzen. Josto sprang nach kurzer Zeit des umher Schnüffelns zu seinem Besitzer auf das Sofa, und ließ sich von diesem bereitwillig am Bauch kraulen. Phil betrachtete unterdessen die Wanddekoration, ein paar veraltete Fotodrucke von amerikanischen Sehenswürdigkeiten, und entdeckte dann einen uralten Laptop, der auf einem kleinen Tisch unter dem Fernseher platziert worden war. Neugierig stand Phil auf, zuckte kurz zusammen als seine Wirbelsäule protestierte, und holte das Gerät zu sich auf das Sofa. Da er sowieso nichts zu tun hatte, konnte er genauso gut die Technik der Vergangenheit erforschen. Lucas würde sich vermutlich nicht mehr einkriegen bei dem Anblick des historischen Artefakts. Das Einschalten funktionierte zu seinem Erstaunen einwandfrei - zumindest, bis das Gerät plötzlich anfing, sich zu bewegen. Ein erschrockenes: "Woah!", entwich Phil, und der Laptop rutschte geräuschvoll zwischen seinen Fingern auf den Boden, wo er immer größer, zu einem etwa Hüfthohen Transformer wurde. Josto bellte und knurrte, doch die Waffen, mit denen das Wesen auf ihn zielte, hielten ihn von einem Angriff ab.
"Mistvieh", murmelte der Transformer. Phil schluckte. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er sich so weit gefangen hatte, dass er seine Worte wieder fand. "Wer bist du?", brachte er heraus. Er hatte noch weitaus mehr fragen, doch dies schien ihm erst einmal der logischste Einstieg zu sein.
"Doddle", antwortete der kleine Transformer knapp und ließ die Waffen verschwinden, vermutlich weil er bemerkte, dass Josto keinen Angriffsversuch starten würde.
Phil entspannte sich beim Anblick der verschwindenden Waffen. "Du verwandelst dich nicht in ein Auto?", fragte er dann verwirrt.
"Siehste doch, Dummkopf!", meinte Doddle harsch. "Nich' alle transformiern' sich in Autos, du Arschloch. Allein vonner Körpergröße isses nich' jedem möglich, wie du vielleicht bemerkst, Blindfisch."
Phil nickte stumm. So oft hintereinander wurde er noch nie zuvor beleidigt und er wusste nicht wirklich, was er sagen sollte, um die Wogen zu glätten. Doddle stolzierte unterdessen zu dem Fernseher, schaltete ihn ein und suchte sich ein Programm aus. Phil beobachtete ihn dabei mit gemischten Gefühlen. Als Doddle einen 24h-Sportsender gefunden hatte, setzte er sich mit größter Selbstverständlichkeit auf das Sofa.
"Woher weißt du, wie man einen Fernseher bedient?", fragte Phil geradeheraus. 'Taktgefühl', erinnerte er sich zu spät.
"Is' ja nich' sehr schwer, Blödmann."
"Weshalb bist du in diesem Haus?" Er würde niemals aus seinen Fehlern lernen.
Doddle schnaubte. "Bin zu klein für die andren. Hier isses angenehmer. Zumindest war's das bevor du hier warst."
"Warum bist du so klein?" Es war vermutlich ein Wunder, dass Phil noch lebte.
"Weshalb biste so durchschnittlich?"
Als Phil schwieg, nickte Doddle zufrieden und wandte sich der Sendung zu. Es lief gerade ein Basketballspiel zweier Mannschaften die Phil nicht kannte. "Wohnst du hier?", fragte er dann nach einer Weile angespannter Stille. Josto beobachtete Doddle aus dem Augenwinkel heraus, schien jedoch nicht der Annahme zu sein, dass dieser aktuell eine Gefahr darstellte.
"Du bist außergewöhnlich dumm, stimmt's? Wenn du's so genau wissn willst - ja, ich wohn' hier. Ich bin seit dreißig Jahrn auf diesm Planeten und die Rockmusik eurer Spezies is' annehmbar. Meine Lieblingsfarbe is' grün und was ich am meistn hass' is' Aufdringlichkeit. Also denk nich' erst dran, mich weiter zu nerv'n. Nur weil du 'n Witwicky bist, hast du keine Sonderrechte. Das Fernsehprogramm entscheid' ich und wie laut die Musik is' entscheid' auch ich."
Da Phil nicht wusste, was er dazu sagen sollte, nickte er einfach nur.
"Und der Köter fliegt vom Sofa", ergänzte Doddle. "Nur weil Optimus dir erlaubt hat in mein Zuhause einzudring'n, heißt das nich', dass du dir alles erlaub'n darfst."
Erneutes Nicken. Zufrieden wandte sich der kleine Autobot dem Fernsehprogramm zu, während Phil zusammen mit Josto langsam den Raum verließ. Als er die Tür hinter sich schloss, atmete er erstmal tief ein und aus. Er würde eine Woche vor lauter Glück das Haus nicht verlassen, wenn er wieder in seine eigenen vier Wände durfte, so viel stand bereits fest.
Da er nicht wusste, was er nun mit sich anfangen sollte, trottete er zurück in sein erkorenes Zimmer und blickte aus dem Fenster. Revolt parkte noch immer direkt vor dem Garten, und Phil begann sich selbst zu bemitleiden. Erst diesen Morgen war er von dem Alien bedroht worden, welches ihn beschützen sollte, um kurze Zeit später erst durch eine Fahrt gefoltert und anschließend behandelt zu werden, als sei nie etwas gewesen. Dann hatte er sich von einem ächzenden Rücken erholen wollen, da tauchte das nächste unfreundliche und verwirrende Alienwesen auf - diesmal nicht vor, sondern im Motel. Gleichzeitig waren die einzigen Autobots mit denen er zurechtkam entweder mit dem Anführer unterwegs oder bewachten seine Eltern. Und überhaupt wusste Phil noch immer nicht, weshalb er eigentlich genau jetzt hier war, anstatt zu Hause den nächsten Job zu planen oder die versprochenen Millionen zu verwalten. Er beschloss, dass eine Fertigpizza gerade so klang, als könne sie ihm immerhin etwas Trost spenden. Also machte er sich auf den Weg in die Küche, froh um Jostos Begleitung, und holte sich die fettigste Pizza aus der Gefriertruhe, die er finden konnte. Dreifach-Käse, mit Salami und würziger Soße.
Während er die Packung öffnete, wurde Josto unruhig und wandte sich in Richtung der Tür. Phil wollte ihn gerade beruhigen und folgte seinem Blick, da wurden seine Augen feucht.
Ein kleiner Autobot stand am Eingang und starrte ihn an. Noch einer.
"Hi", sagte Phil matt. Er war zu erschöpft für mehr.
"Hallo", antwortete der Transformer zögerlich. "Sind Sie Philias Witwicky?"
Phil nickte schwach und wischte sich über das Gesicht. Kopfschmerzen machten sich breit. Zügigen Schrittes ging der neue Autobot zu ihm hinüber und hielt seine kleine metallene Hand entgegen. Phil schüttelte sie freudlos.
"Hallo Mr. Witwicky, mein Name ist Hobble. Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen!" Phil nickte und blinzelte. "Ich nehme an, Doddle haben Sie schon kennen gelernt."
Phil nickte erneut. Zu mehr fühlte er sich derzeit einfach nicht in der Lage. "Optimus wollte ihn eigentlich für Ihre Ankunft umsiedeln, aber er lässt partout nicht mit sich reden. Eher würde er sterben, als dieses Motel zu verlassen. Ich habe seit Jahren die Aufgabe, täglich zu schauen ob hier alles vernünftig läuft, und ich kann Ihnen sagen, dass Sie sich schnell an ihn gewöhnen werden. Er ist ein unfreundlicher Arsch, aber nicht ohne Grund ein Autobot."
Wieder nickte Phil. Josto begann unterdessen, den kleinen Autobot von oben bis unten zu inspizieren. Überschwänglich begann Hobble daraufhin, das Tier zu grüßen und streicheln, was Josto dazu brachte, sich begeistert auf den Boden zu werfen, um seinen Bauch zu präsentieren. Phil lächelte leicht bei dem Anblick. Seine mürrische Laune begann abzunehmen. Hobble schien das komplette Gegenteil von Doddle und Revolt zu sein: Freundlich, hilfsbereit, verständnisvoll und höflich. Und wenn er täglich vorbeikam, wer weiß - vielleicht würde er sogar klar kommen.
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