8. Kunst-Voll

Mürrisch blickte Jessica auf den gähnend leeren Boden der Kaffeedose aus der Gemeinschaftsküche. Scheinbar hatte irgendein Arschloch sie am Samstag leer geschaufelt und es nicht für nötig gehalten, eine neue Kaffeepackung zu besorgen oder wenigstens Bescheid zu sagen. Nun drohte ihr ein ganzer Tag lang ohne Kaffee, denn die Plörre aus dem Automaten im Eingangsbereich konnte man nicht trinken. Ausgerechnet jetzt hätte sie einen Kaffee aber gut gebrauchen können.

Als sie im Präsidium angekommen war, war es bereits fast halb elf. Eigentlich viel zu spät, aber nachdem sie sich die ganze Nacht lang schlaflos und schwitzend im Bett herumgewälzt hatte und erst im Morgengrauen endlich eingeschlafen war, war sie nach einigen Stunden unruhigen Schlafes entsprechend spät aufgewacht. Doch es brachte nichts, sich deshalb unnötig zu stressen. Schließlich war Sonntag, eigentlich hätte sie freigehabt und die meisten ihrer Kollegen zeigten auch nicht unbedingt großen Enthusiasmus. Das Schlimmste, was ihr passieren konnte, war ein blöder Spruch von Plattenberg, was sie mittlerweile ganz gut ignorieren konnte. Jedenfalls meistens.

Sie knallte die leere Dose auf den Tisch, öffnete den Kühlschrank und holte zwei Red Bull heraus, um ihren Körper wenigstens so mit Koffein zu versorgen. Anschließend schlurfte sie zu ihrem Büro. Dort angekommen, stellte sie erleichtert fest, dass die blöden Sprüche vorerst ausbleiben würden, denn Plattenberg war gar nicht da. Ungewöhnlich, aber anscheinend hatte er an diesem Sonntagvormittag besseres zu tun, als Mordermittlungen durchzuführen. Schön für ihn. Wenigstens würde sie so eine Zeitlang ihre Ruhe haben.

Kaum hatte Jessica ihren PC hochgefahren und einen Schluck Red Bull genommen, klopfte es an der Tür. Das war's also mit der Ruhe.

Nach ihrem trägen „Herein" betrat die Kollegin von der KTU, mit der sie am Vortag Amelies Wohnung durchsucht hatten, überraschend den Raum. Carina hieß sie, wie Jessica inzwischen wusste.

„Hallo. Hofkamp hat mich hergeschickt, weil er – ich zitiere – ‚keinen Bock auf diesen Lackaffen aus Düsseldorf' hat." Sie schaute zu dem verwaisten zweiten Schreibtisch. „Wie ich sehe, ist der aber gar nicht da."

Jessica zuckte mit den Schultern. „Ist wohl anderweitig beschäftigt."

Carina kam zu ihr herüber und reicht ihr ein paar zusammengeheftete Ausdrucke. „Wir konnten schon ein paar Daten vom Handy der Toten wiederherstellen, obwohl es mehrere Stunden lang am Grund des Schlossgrabens gelegen hatte."

Sofort war Jessicas Müdigkeit wie weggeblasen. „Habt ihr was interessantes entdeckt?"

„Wir haben die Anrufliste. Am Freitag, kurz nach 21.00 Uhr, wurde sie von einer Festnetznummer angerufen. Der Anruf war nicht einmal zwei Minuten lang. Die Nummer gehört zu einer Kunstgalerie in der Altstadt."

„Das war nur wenige Stunden vor Amelies Tod", stellte Jessica fest. „Der Anrufer könnte der letzte Mensch gewesen sein, der mit ihr gesprochen hatte, bevor sie getötet wurde." Oder derjenige, der sie getötet hatte.

„Wissen wir schon etwas über diese Galerie?"

„Sie heißt Kunst-Voll, die genaue Adresse steht in den Unterlagen. Die Inhaberin ist eine gewisse Beatrix von Teufenfeld. Sie ist wohl die Frau von diesem berühmten Schönheitschirurg. Ein paar Eckdaten aus ihrer Biografie haben wir bereits zusammengestellt, alles weitere müsst ihr selbst herausfinden. Wir haben auch so genug zu tun."

Carina deutete auf die noch ungeöffnete Red Bull-Dose auf Jessicas Tisch. „Kann ich die haben?"

„Klar." Sie schob ihr die Dose hin. „Gibt's sonst noch etwas?"

„Das ganze Blut scheint vom Opfer zu sein. Die Blutgruppe stimmt jedenfalls überein. Die DNA-Analyse steht allerdings noch aus. Wir machen jetzt erst einmal mit dem Handy und dem Laptop weiter." Die Kriminaltechnikerin nahm die Dose vom Tisch. „Danke."

Wenigstens mal ein freundlicher Mensch hier, dachte Jessica.

Sie verabschiedeten sich und Carina machte sich auf den Weg zurück ins Labor, während Jessica die Ausdrucke nahm und die darin zusammengestellten Informationen überflog.

Beatrix von Teufenfeld war 45 Jahre alt, geborene Münsteranerin und aktuell in einer Villengegend in St. Mauritz gemeldet. Sie war tatsächlich mit dem Schönheitschirurg August von Teufenfeld verheiratet, der, wie Jessica aus der lokalen Klatschpresse wusste, die erste Anlaufstelle für die bessere Gesellschaft aus Münster und Umgebung war, um sich das ein oder andere Körperteil richten zu lassen. Die beiden hatten einen 17-jährigen Sohn namens Konstantin, der offenbar in einem Eliteinternat in Baden-Württemberg lebte. Die Galerie Kunst-Voll für exquisite und moderne Kunst führte Beatrix von Teufenfeld bereits seit zehn Jahren. Seit einem Jahr war auf sie ein gelber Porsche 911 Carrera Cabrio neueren Baujahres zugelassen.

Zwischen dieser Frau und Amelie Winter schienen Welten zu liegen. Warum hätte die Galeristin sie anrufen sollen? Wohl kaum aus geschäftlichen Gründen. Amelies Bilder waren zwar ganz nett, aber bestimmt nichts für eine exquisite Kunstgalerie. Könnte es vielleicht sein, dass August von Teufenfeld Amelies älterer Liebhaber war? Soweit sie sich an die Bilder von ihm in den Klatschzeitschriften ihrer Oma erinnerte, passte er überhaupt nicht auf Sebastians Beschreibung des Mannes, mit dem Amelie angeblich im Café gewesen war. Außerdem war er bestimmt nicht so blöd, sich in der Nähe der Galerie seiner Frau mit seiner jungen Liebhaberin zu treffen. Trotzdem konnte man natürlich nicht gänzlich ausschließen, dass er was mit Amelie hatte. Möglicherweise hatte sie mehrere Affären gehabt, so wie ihr Stiefvater es angedeutet hatte. Möglicherweise hatte Sebastian gelogen. Möglicherweise hatte aber auch jemand ganz anderes das Telefon in der Galerie benutzt und nicht die Galeristin selbst. Sie mussten der Galerie einen Besuch abstatten und mit der Besitzerin sprechen.

Jessica öffnete den Browser und rief die offizielle Website der Galerie auf. Die Seite war schlicht, aber modern und ansprechend gestaltet.

Auf der Startseite wurde die aktuelle Ausstellung angepriesen: Der Körper als Kunstwerk – André Rothendorff revolutioniert das Aktbild.

Rothendorff... War das nicht der Künstlertyp, den diese nervige Reporterin am Vortag erwähnt hatte und der an der Kunsthochschule einen Kurs leitete, den Amelie besucht hatte? Konnte das irgendwie interessant für ihren Fall werden? Wahrscheinlich eher nicht. Sie konnten sich das auch später noch ansehen, falls es sein musste.

Jessica navigierte zu den Öffnungszeiten der Galerie und stellte fest, dass sie auch sonntags vier Stunden lang geöffnet war, und zwar von 11.00 bis 15.00 Uhr. Sie schaute auf die Zeitangabe in der Ecke des Bildschirms. Kurz vor elf.

Es war wohl an der Zeit, Plattenberg anzurufen. Beatrix von Teufenfeld und ihr Gatte waren eindeutig sein Klientel.

Nach dem gefühlt hundertsten Klingeln nahm er endlich ab.

„Ja?"

Wie man sich vernünftig am Telefon meldete, schien dem Mann auch nie jemand beigebracht zu haben.

„Wo stecken Sie?", fragte Jessica und verschwendete selbst ebenfalls keine Zeit für eine Begrüßung.

„Vermissen Sie mich schon?"

Sie ignorierte die Frage einfach.

„Die KTU hat was auf Amelies Handy gefunden."

Sie erzählte kurz von dem Anruf, der Galerie und deren Besitzerin.

„Waren Sie schon einmal in einer Kunstgalerie, Frau Schillert?"

„Nee, nur im Museum." Was sollte sie auch in einer Kunstgalerie?

„Dann ist es allerhöchste Zeit, das nachzuholen! Geben Sie mir etwa eine halbe Stunde, dann treffen wir uns vor der Galerie."

„Also lässt Ihre Freundin Sie heute doch noch gehen?"

„Woher kommt eigentlich Ihre fixe Idee, ich hätte eine Freundin?"

„Aber Sie haben doch Besuch, oder nicht?"

„Wer sagt denn, dass es eine Frau ist?"

„Ist es denn ein... Mann?", fragte sie vorsichtig.

„Nein, kein Mann. In einer halben Stunde am Prinzipalmarkt. Bis dann."

Und bevor Jessica noch etwas sagen konnte, wurde die Verbindung nach dieser abrupten Verabschiedung einfach getrennt.

Verblüfft starrte sie ein paar Augenblicke lang auf ihr Handy. Dann steckte sie es in die Tasche ihrer dünnen Stoffhose – den Fehler, bei dieser Affenhitze eine Jeans zu tragen, würde sie sicherlich nicht mehr machen – nahm die angebrochene Red Bull-Dose vom Tisch und ging zu ihrem Wagen.


Der Prinzipalmarkt war voller Menschen, die noch die letzten Stunden des guten Wetters genießen wollten. Die Außenbereiche der zahlreichen Cafés waren jetzt schon voll besetzt und diejenigen, die dort keinen Platz mehr fanden, flanierten mit Eis oder einem kühlen Erfrischungsgetränk über die gepflasterte Straße zwischen den charakteristischen Giebelhäusern. Noch war der Himmel überwiegend strahlend blau, bis auf ein paar weiße Quellwolken, die das für den Abend vorhergesagte Gewitter ankündigten.

Die Galerie Kunst-Voll befand sich relativ am Anfang der berühmten Einkaufsstraße, fast direkt neben dem historischen Rathaus und nur etwa 200 Meter vom Domplatz entfernt. Etwas weiter die Straße entlang ragte der gotisch düstere Turm der Lambertikirche gen Himmel. Auch der Picassoplatz und das Picasso-Museum war in wenigen Minuten fußläufig zu erreichen. Wie passend. Jessica konnte sich noch wage an ihren einmaligen Besuch dort erinnern. Viel anfangen konnte sie mit den gezeigten Werken damals nicht.

Genauso verhielt es sich mit denen im Schaufenster der Galerie. Egal, wie lange sie darauf starrte, für sie blieb es nur willkürliches Krickelkrakel. Auch bei der merkwürdig verdrehten, massiven Stahlskulptur konnte sie sich bei bestem Willen nicht vorstellen, was diese darstellen sollte.

„Das Ding würde eine perfekte Mordwaffe abgeben, meinen Sie nicht auch?"

Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie nicht gemerkt hatte, dass Plattenberg sich neben sie gestellt hatte.

„Müssen Sie sich so anschleichen? Ich habe fast einen Herzinfarkt bekommen!"

„Das macht nichts. Ich hätte Sie schon wiederbelebt."

Da würde ich lieber sterben, dachte sie grimmig.

Plattenberg deutete auf ein Plakat im Schaufenster, das wie schon das Banner auf der Website die Ausstellung Der Körper als Kunstwerk bewarb. Rothendorffs revolutionäre Kunst bestand scheinbar darin, dass er nackte Frauen von oben bis unten mit Farbe vollschmierte und das Ergebnis dann von allen Seiten fotografierte.

„Ist das nicht der Künstler, den diese fürchterlich aufdringliche Vanessa Klugge gestern erwähnt hatte?"

„Ja, das ist der. Und seine Kunst besteht nur aus Bildern nackter Frauen. Mal ganz was Neues."

„Das ist seit jeher ein weit verbreitetes Motiv in der Kunstwelt."

„Weil die meisten berühmten Künstler Männer sind, die Frauen nur als reines Sexualobjekt sehen!", wetterte Jessica.

„Oh, in Ihnen steckt wohl eine kleine Alice Schwarzer?", stellte Plattenberg nicht ohne einen leicht belustigten Unterton fest. „So abwegig ist Ihre Theorie aber sicher nicht. Wollen wir?" Er öffnete die Eingangstür und ließ Jessica den Vortritt.

Das Innere der Galerie war – weiß. Die Wände waren weiß, der Boden war weiß und die Decke war ebenfalls weiß. Wahrscheinlich sollte das viele Weiß die Kunstwerke besser zur Geltung bringen, die überall an den Wänden hingen oder in gläsernen Schaukästen und auf kleinen Podesten herumstanden.

„Willkommen bei Kunst-Voll!"

Eine junge Frau in einem hellblauen Kleid trat zu ihnen. Es konnte sich dabei unmöglich um Beatrix von Teufenfeld handeln, denn die Frau wirkte nicht älter als Ende zwanzig. Nicht einmal August von Teufenfeld hätte eine derartige Verjüngung herbeiführen können.

„Ich bin Miriam Schwerter. Was kann ich für Sie tun?" Sie lächelte etwas schüchtern und strich sich das dunkle, glatte, kinnlange Haar hinters Ohr.

„Danke, Miriam. Das übernehme ich", tönte eine strenge Frauenstimme durch den Ausstellungssaal.

Das laute Klackern hoher Absätze auf dem glatt polierten Boden erklang und eine gertenschlanke Frau mit blondierten und zu einer aufwendigen Hochsteckfrisur frisierten Haaren kam mit schnellen Schritten auf sie zu.

„Beatrix von Teufenfeld", stellte sie sich vor und versuchte zu lächeln. Da ihr Gesicht aber offensichtlich bereits nicht die erste Botoxbehandlung hinter sich hatte, wirkte ihr Lächeln eher wie eine Grimasse und erinnerte Jessica ein bisschen an die Grinsekatze aus Alice im Wunderland. Die Frau schien die beste Patientin ihres Mannes zu sein.

Sie streckte Plattenberg ihre Hand entgegen – Jessica beachtete sie gar nicht erst – und musterte prüfend seinen feinen, hellbeigen Anzug, das hellrosa Hemd darunter, die weinrote, gestreifte Krawatte und die braunen, schweineteuren Schuhe an seinen Füßen. Dann fiel ihr Blick auf seine Uhr und als ihr bewusst wurde, dass hier zusammengerechnet ein kleines Vermögen durch die Gegend lief, konnte man die Dollarzeichen in ihren Augen förmlich aufleuchten sehen.

Sie ergriff seine Hand, bevor er sie ihr freiwillig geben konnte. „Sie können mich gerne Beatrix nennen, mein lieber Herr..."

„Plattenberg." Er versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien, doch sie klammerte sich mit ihren dünnen, skelettartigen Fingern fest und legte auch noch ihre zweite Hand auf seinen Handrücken. Ihre Fingernägel waren türkis lackiert und so lang und spitz, dass sie Freddy Krueger Konkurrenz machen konnte.

„Und mit Vornamen?", flötete sie kokett.

„Kriminalhauptkommissar."

Beatrix von Teufenfelds Haifischlächeln verrutschte jämmerlich. Augenblicklich ließ sie Plattenbergs Hand los und zog ihre Hände so schnell zurück, als hätte sie in etwas sehr ekliges gegriffen.

„Sie sind von der Polizei? Sie sehen gar nicht so aus." Ihr Ton war auf einmal kälter als die Temperatur im Weltall.

„Tut mir leid, ich habe vergessen, mir das Wort POLIZEI in Großbuchstaben auf die Stirn zu schreiben. Stattdessen habe ich das hier." Er hielt ihr seinen Dienstausweis hin.

Sie betrachtete diesen mit zusammengekniffenen Augen und verschränkte ihre braungebrannten Arme vor der Brust.

„Du kannst gehen, Miriam!", herrschte sie ihre junge Mitarbeiterin an, die sich daraufhin verschreckt zurückzog.

„Und wer ist das?" Sie deutete mit dem Kopf verächtlich in Jessicas Richtung.

„Schillert, auch Kripo Münster." Sie zeigte der Frau ebenfalls ihren Ausweis.

„Falls Sie nach Fälschungen suchen, werden Sie hier nicht fündig. Bei mir ist alles echt."

Außer deinem Gesicht, deinen Haaren und deinen Fingernägeln, dachte Jessica bei sich.

„Kunstfälschungen interessieren uns nicht", erwiderte Plattenberg.

„Was wollen Sie dann von mir?"

Ohne sofort auf ihre Frage zu antworten, schaute er sich in der gleißend weißen Ausstellungshalle um.

„Sie verkaufen also diesen ganzen Schrott an reiche Leute, die nichts besseres mit ihrem Geld anzufangen wissen?", fragte er dann und begann, langsam auf die Mitte der Halle zuzulaufen.

„Ich verkaufe einzigartige Kunstwerke an Menschen, die ein Auge für das Schöne haben", korrigierte die Galeristin schnippisch und folgte ihm zusammen mit Jessica. „Sie gehören offenbar nicht zu diesen Menschen, Herr Kommissar."

„Das hängt davon ab, wie man ‚schön' definiert."

„Zum Glück sind Geschmäcker verschieden."

„Na ja, mit dem Geschmack verhält es sich doch eher so: entweder man hat welchen oder eben nicht." Es war mehr als deutlich, dass er Frau von Teufenfeld zu den Letzteren zählte.

Vor einer breiten, rechteckigen Säule mitten im Saal blieb Plattenberg stehen. Auf jeder Seite der Säule hing ein lebensgroßes, glänzendes Foto. Jedes Foto zeigte einen nackten, mit allen Farben des Regenbogens beschmierten Frauenkörper jeweils von verschiedenen Seiten. Es handelte sich unverkennbar um das Schaffenswerk von André Rothendorff. Der Kopf der Frau war auf allen vier Fotos nicht mit abgebildet, sodass man das Gesicht nicht sah. Aber das war ja auch nicht das wichtigste.

Jessica betrachtete eins der Fotos, das die Frau von der Seite zeigte, etwas genauer. Auf dem rechten Oberarm schimmerte unter einer dicken Schicht gelber Farbe deutlich ein dunkler Vogel hindurch. Ein Kolibri, der genauso aussah, wie der, den Amelie auf ihrer Hüfte tätowiert hatte.

Sie stieß ihren Kollegen an und zeigte auf das Bild. Er betrachtete es mit undurchdringlicher Miene und wandte sich erneut an die Galeristin:

„Frau von Teufelsfeld?"

Teu-fen-feld! Ich heiße von Teufenfeld!", berichtigte diese ihn ungehalten.

„Oh, Verzeihung. Ich muss mich wohl versprochen haben. Ein Freudscher Versprecher."

Wütend starrte von Teufenfeld ihn an und Jessica hätte sich nicht gewundert, wenn sie die Skulptur aus dem Schaufenster genommen und sie ihm tatsächlich über den Schädel gezogen hätte.

„Sagt Ihnen der Name Amelie Winter etwas?"

Der plötzliche Themenwechsel schien die Galeristin zu verwirren, was natürlich Sinn und Zweck war.

„Amelie? Ist das nicht die Kleine von André?"

„Von diesem André?" Plattenberg deutete auf die Fotos an der Säule.

„Das ist nicht André", erwiderte sie überflüssigerweise.

„Ach, was Sie nicht sagen! Aber das ist eines seiner Werke, nicht wahr?"

„Ja, ist es. Gefällt es Ihnen?"

„Ehrlich gesagt, leuchtet mir nicht ganz ein, was daran so herausragend sein soll. Wenn ich zum Beispiel einen Eimer Wandfarbe über Sie auskippe, wäre das dann auch Kunst?"

Das rechte Augenlid von Frau von Teufenfeld begann trotz Gesichtslifting nervös zu zucken. „Sie sind ganz schön unverschämt, Herr Hauptkommissar!"

„Sogar ich habe meine Unzulänglichkeiten", entgegnete Plattenberg gleichmütig. „In welchem Verhältnis genau stehen Amelie und Herr Rothendorff zueinander?"

„Sie bezeichnet sich als seine Muse. Aber eigentlich ist sie nur sein Model, denke ich." Sie betonte das Wort Model so, dass Fickmaus vermutlich besser gepasst hätte.

„Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, deswegen korrigieren Sie mich gerne, falls ich falsch liege: Ist es nicht so, dass bei der Beziehung zwischen Künstler und Muse häufig eine gewisse sexuelle Komponente enthalten ist?"

Frau von Teufenfeld verzog spöttisch ihre korallenrot geschminkten Lippen, soweit das Botox es ihr erlaubte.

„Dafür, dass Sie kein Experte sind, kennen Sie sich erstaunlich gut aus."

Also doch! Allem Anschein nach hatte Amelie was mit diesem Rothendorff gehabt. War vielleicht er der Mann mit Sonnenbrille? Hatte er das Aktbild aus Amelies Schublade gezeichnet? Sie mussten sich ihn unbedingt mal anschauen. Trotzdem erklärte das nicht, warum Amelie von der Galerie aus angerufen wurde.

„Und in welcher Beziehung stehen Sie zu Amelie?", fragte Jessica die Galeristin.

„Ich? Wieso? Ich habe vielleicht mal ein paar Worte mit ihr gewechselt. Mehr auch nicht."

Sie senkte den Blick und zupfte ihre ärmellose, weiße, mit kleinen Federn bedruckte Bluse zurecht, die sie zu einer schicken Hose im selben Rotton wie ihr Lippenstift trug.

„André hatte mich gebeten, mir ihre Bilder anzusehen", gab sie dann zu. „Aber ich kann so etwas nicht gebrauchen. Es unterscheidet sich nicht groß von den Werken aus dem Kunstunterricht einer neunten Klasse", fügte sie abfällig hinzu.

Das, was du hier verkaufst auch nicht, dachte Jessica.

„Und letzten Freitag? War Amelie da auch hier?", fragte sie weiter.

„Nein, war sie nicht."

„Haben Sie einen Festnetztelefonanschluss hier in der Galerie?", wechselte Plattenberg abermals unerwartet das Thema.

„Natürlich, einen in meinem Büro und einen weiteren hier in der Halle."

„Welcher davon hat die 11 als Durchwahl?"

„Der im Büro, wieso?"

„Haben Sie Amelie Winter am vergangenen Freitag gegen 21.00 Uhr auf dem Handy angerufen?"

„Warum sollte ich sie anrufen? Ich kenne ihre Nummer überhaupt nicht!"

„Warum ist Ihre Nummer dann in der Anrufliste von Amelies Handy?"

Irritiert schaute Beatrix von Teufenfeld zwischen Jessica und Plattenberg hin und her.

„Worum geht es hier eigentlich wirklich?"

„Darum, dass Amelie Winter wenige Stunden nachdem sie von Ihrer Galerie aus angerufen wurde, auf brutale Weise getötet wurde", klärte Plattenberg sie auf.

Wenn ihr Gesicht nicht so sehr mit Botox vollgepumpt wäre, hätte man darin vielleicht irgendeine stärkere Gefühlsregung erkennen können, doch so blieb es nur eine starre Maske. Allerdings lag in ihren graublauen Augen eindeutig ein entsetzter Ausdruck.

„Was haben Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag zwischen 23.00 und 2.00 Uhr gemacht, Frau von Teufenfeld?"

„Ich... ich war hier!", stammelte die Galeristin, deren Selbstsicherheit inzwischen massive Risse bekam.

„Kann das jemand bezeugen?"

„Alle!"

„Wer ist ‚alle'?"

„Alle, die hier waren! Wir hatten eine Wohltätigkeitsveranstaltung und haben eins von Andrés Werken aus der aktuellen Serie verkauft. Für einen wohltätigen Zweck. Ein Käufer aus Liechtenstein hat es gekauft."

„Also war André Rothendorff auch hier?"

„Natürlich! Er, sein Agent Christian, die Presse. Sogar der Bürgermeister und seine Frau waren hier und noch viele andere!"

„Hatten die Besucher dieser Veranstaltung Zutritt zu dem Telefon in Ihrem Büro?"

„Ja. Ich schließe mein Büro nicht ab, während ich mich in der Galerie aufhalte."

„Wir brauchen eine Liste mit den Namen aller, die am Freitagabend hier waren."

„Miriam!", brüllte von Teufenfeld durch die ganze Galerie.

Ihre Assistentin trippelte sofort unterwürfig herbei. „Ja, Beatrix?"

„Gib den Herrschaften von der Polizei die Gästeliste von letztem Freitag."

„Mache ich sofort." Es hätte Jessica nicht überrascht, wenn sie noch ein Ma'am oder Eure Hoheit hinzugefügt hätte.

„Einen Moment, Frau Schwerter", hielt Plattenberg sie zurück. „Sie waren am Freitagabend sicherlich auch hier?"

„Ja, war ich."

„Haben Sie während der Veranstaltung telefoniert?"

„Nein, nur vorher am Nachmittag. Mit dem Cateringservice."

„Haben Sie gesehen, wie jemand während der Veranstaltung im Büro Ihrer Chefin telefoniert hat?"

„Nein, ich war fast die ganze Zeit in der Halle oder in der Küche."

„Kannten Sie Amelie Winter?"

„Nur oberflächlich. Sie war ein paarmal hier, mit André. Aber sonst hatte ich nicht viel mit ihr zu tun."

„Danke, Sie können jetzt die Gästeliste holen."

Die Assistentin lief davon und kehrte wenig später mit der Liste zurück.

„Ihr Mann steht gar nicht drauf, Frau von Teufenfeld", stellte Plattenberg fest, nachdem er die aufgelisteten Namen überflogen hatte. „War er denn auch da?"

„Nein. Er war auf einem Symposium am Bodensee und ist gestern Abend erst wieder zurück nach Münster gekommen."

„Dafür gibt es sicher einen Beleg. Eine Hotelrechnung oder etwas ähnliches."

„Bestimmt. August hat aber sowieso nichts mit dieser Amelie zu tun. Genauso wie ich selbst", beteuerte die Galeristin. „Sind Sie jetzt endlich fertig?"

„Nein. Wir brauchen noch den Telefonapparat aus Ihrem Büro. Wir nehmen ihn gleich mit, wenn Sie nichts dagegen haben."

„Wozu denn das? Ich brauche ihn!"

„Um mögliche Spuren darauf sicherstellen zu können. Wenn Sie sich weigern, kommen wir mit einem Durchsuchungsbeschluss wieder und nehmen hier alles auseinander, sodass Ihre hübsche Galerie mindestens die ganze Woche lang geschlossen bleiben muss. Und manchmal", fügte Plattenberg mit einem süffisanten Lächeln hinzu, „lassen unsere Kollegen gerne auch etwas fallen..."

„Mein Gott, dann nehmen Sie das vermaledeite Telefon eben mit!", zeterte von Teufenfeld aufgebracht. „Sie werden ohnehin nichts darauf finden. Die Putzfrau hat gestern gründlich gewischt. Ich hasse es, wenn überall Staub und Flecken sind."

„Unsere Kollegen finden häufig noch Spuren, wo vermeintlich keine sind."

Beatrix von Teufenfeld verdrehte nur demonstrativ die Augen. „Bin ich jetzt verdächtig? Muss ich meinen Anwalt anrufen?"

„Sie müssen gar nichts. Aber es steht Ihnen selbstverständlich frei, sich rechtlichen Beistand hinzuzuziehen", meinte Plattenberg. „Eine Sache noch: die Frau auf diesen Fotos", er zeigte erneut auf die Bilder an der Säule, „Sie wissen nicht zufällig, wer das ist?"

„Keine Ahnung. Das müssen Sie André fragen."

„Das werden wir. Vielen Dank, dass Sie uns Ihre kostbare Zeit geopfert haben. Wären Sie jetzt so freundlich, das Telefon einzupacken, Frau Schillert?"

Natürlich Frau Schillert, wer auch sonst?

„Meinen Sie, wir finden da was drauf?", fragte Jessica skeptisch, nachdem sie die Galerie mit dem Telefongerät, das sie unter strenger Beobachtung aus Beatrix von Teufenfelds Argusaugen in eine Beweismitteltüte gepackt hatte, nun endlich verließen.

„Unwahrscheinlich. Aber man kann nie wissen. Häufig ist das Putzpersonal nicht so sorgfältig, wie der Auftragsgeber annimmt."

Da konnte Jessica nicht mitreden, denn sie putzte ihre Wohnung selbst.

„Was ist eigentlich mit Amelies Cousine, Lara Hoenig?", fragte sie. „Die müsste doch schon angekommen sein, aber sie hat sich immer noch nicht gemeldet, oder?"

„Nicht, dass ich wüsste. Fragen Sie doch mal nach."

Machte der Typ eigentlich irgendetwas noch selbst?

Wenigstens nahm er ihr das eingepackte Telefon ab, während sie im Präsidium anrief.

„Eine Lara Hoenig hat sich nicht gemeldet", erklärte die Kollegin am anderen Ende durch den Lautsprecher.

„Versuchen Sie sie zu erreichen und sagen Sie mir sofort Bescheid, sobald es Ihnen gelungen ist", befahl Plattenberg.

Sie beendeten das kurze Telefonat.

„Was jetzt?"

„Jetzt, Frau Schillert, fahren Sie zurück ins Präsidium, liefern dieses schöne Mitbringsel in der KTU ab und stellen anschließend Nachforschungen über den großen Meister André Rothendorff an. Sammeln Sie alles, was Sie über ihn finden können, besonders seine Wohnadresse, die Adresse seines Ateliers und nach Möglichkeit ein aktuelles Bild von ihm. Der Name dieses Mannes taucht etwas zu häufig im Zusammenhang mit unserer Toten auf, wenn Sie mich fragen."

Auch Jessica kam dieser Rothendorff inzwischen nicht ganz geheuer vor, und das nicht nur wegen seiner ‚Kunst'.

„Und was machen Sie?"

„Ich? Ich sorge dafür, dass meine Besucherin wohlbehalten am Bahnhof ankommt und von dort aus ihre Heimreise antreten kann."

Ohne eine weitere Erklärung wandte er sich einfach ab und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen.

„Also ist es doch eine sie?", rief Jessica ihm hinterher, doch ihre Frage blieb abermals unbeantwortet.


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