7. Die nicht ganz so fabelhafte Welt der Amelie

Amelie Winters Cousine Lara Hoenig, die laut der Mutter Amelies engste Vertraute gewesen sein soll, wäre eigentlich ihre nächste Anlaufstelle gewesen. Allerdings stellte sich heraus, dass sie gerade einen Kurzurlaub in den Niederlanden machte und erst am Sonntag Vormittag wieder zurück nach Münster kommen konnte. Eine ärgerliche Verzögerung, besonders wo sie sonst bisher keine brauchbaren Spuren hatten, denen sie nachgehen konnten.

Insgeheim hatte Jessica gehofft, dass sie nach Hause fahren und endlich eine kalte Dusche nehmen könnte, aber Plattenberg hielt es für eine viel bessere Idee, sich stattdessen in Amelies Wohnung umzusehen.

„Die KTU ist doch schon dort! Was sollen wir da noch?", nörgelte Jessica und blickte aus dem Autofenster. Die Straßen waren ungewöhnlich leer für diese Uhrzeit. Wahrscheinlich hockte der Großteil der Bevölkerung zuhause vor den Fernsehern, in den Kneipen oder in der Hafenarena beim Public Viewing.

„Die könnten etwas übersehen, zumal sie nur noch dieses unsinnige Fußballspiel im Kopf zu haben scheinen", meinte Plattenberg und überholte rücksichtslos einen Radfahrer, der ihm wütend irgendetwas Beleidigendes hinterher rief. Bei seiner Fahrweise war es eigentlich verwunderlich, dass er seinen Führerschein nicht längst schon los war.

Wenig später parkten sie vor einem gepflegten, kürzlich erst sanierten Altbau. Der Transporter der KTU stand bereits schon da, es war aber niemand zu sehen.

Als sie aus dem Wagen stiegen, herrschte draußen eine Hitze, als wäre das Fegefeuer aus der Hölle an die Erdoberfläche emporgestiegen. Die aufgewärmte Luft zwischen den Häusern flimmerte fast im Licht der Nachmittagssonne und am Himmel war immer noch keine einzige Wolke zu sehen. Für Sonntagabend war zwar ein Gewitter vorhergesagt, bis dahin war mit einer Abkühlung nicht zu rechnen.

Jessica zupfte an ihrer verschwitzten Jeans, die unangenehm an ihren Oberschenkeln klebte und blickte neidisch zu ihrem Kollegen, dessen teure Klamotten immer noch genauso makellos wirkten, wie am Morgen. Wie machte er das bloß?

Die Haustür stand sperrangelweit offen, ebenso die Tür zu Amelies Wohnung im dritten Stock. In der Diele standen ein paar vollgepackte Beweismittelkisten und eine junge KTU-Mitarbeiterin im weißen Schutzanzug packte gerade irgendwelche Sachen in eine davon.

„Den Anzug können Sie weglassen, die hier sollten Sie vorsichtshalber schon noch anziehen", begrüßte sie sie und reichte jedem jeweils ein Paar blauer Schuhüberzieher.

Brav zogen sie diese an und traten in die Wohnung. An der Wand neben der Wohnungstür hing ein großes Gemälde, das eine Art buntes Mandala zeigte. Je länger man es anschaute, desto mehr bekam man den Eindruck, die bunten Muster würden sich bewegen, ähnlich wie bei einem Kaleidoskop. Ein interessanter Effekt. Jessica vermutete, dass das Amelies eigenes Werk war. Gegenüber dem Bild war ein großer Wandspiegel angebracht, daneben eine Garderobe, an der ein paar leichte Sommerjacken und Umhängetaschen hingen. Darunter stand ein mit Sandaletten, Ballerinas und Turnschuhen vollgestelltes Schuhregal.

Aus einem der Zimmer waren ausgelassen klingende Männerstimmen zu hören, unterlegt mit den typischen Geräuschen der Fernsehübertragung eines Fußballspiels.

„Das ist hoffentlich nicht das, was ich denke, was es ist?", wandte Plattenberg sich an die Frau von der KTU.

„Ich fürchte schon."

Er schob sich an ihr vorbei und Jessica folgte ihm, während sie sich auf das bevorstehende Theater gefasst machte.

Bei dem Zimmer, aus dem die Geräusche kamen, handelte es sich offenbar um Amelies Wohnzimmer. Die Wände waren mit ähnlichen Gemälden wie dem in der Diele geschmückt, das Zimmer war mit ihrem Aussehen nach typischen, weißen IKEA-Möbeln eingerichtet, was die knalligen Bilder an den Wänden noch mehr zur Geltung brachte. Die übrige Deko war eher in sanften Pastelltönen gehalten. Die großen Altbaufenster spendeten viel Licht, was den Raum hell und einladend wirken ließ. Auf der Fensterbank standen Blumentöpfe mit verschiedenen Zimmerpflanzen, darunter eine sehr hübsche Monstera mit grün-weißen Blättern.

Auf dem Flachbildfernseher lief die Liveübertragung des Viertelfinales Deutschland gegen Argentinien. Die zweite Halbzeit war in vollem Gange und es stand 1:0 für Deutschland. Auf der hellblauen Couch saßen Hofkamp und ein weiterer Kollege von ihm in ihren Schutzanzügen, jeder eine Bierflasche in der Hand und starrten gebannt auf den Bildschirm. Hin und wieder äußerte einer von ihnen irgendeinen fachmännischen Kommentar zum Spiel.

Schweigend beobachtete Plattenberg dieses Schauspiel mehrere Augenblicke lang, während die zwei keine Notiz von ihm oder von Jessica nahmen.

„Meine Herren, wären Sie bitte so freundlich, mir zu erklären, was in drei Teufels Namen Sie hier machen?"

Hofkamps Kumpel riss sich endlich vom Bildschirm los und drehte seinen Kopf mit genervtem Gesichtsausdruck zu ihm. „Na, wonach sieht's denn aus, Sie Super-Kriminalist?"

Er wandte sich sofort wieder zum Fernseher, als der Sportkommentator aufgeregt irgendetwas rief, während der Ball in die Richtung des deutschen Tores flog, es aber meilenweit verfehlte. Die beiden atmeten erleichtert auf.

Plattenberg verzog abfällig das Gesicht. „Hoffentlich liege ich falsch in der Annahme, dass Sie dieses Bier aus dem Kühlschrank der Toten entnommen haben?"

„Und wenn schon? Die wird es ja wohl kaum noch trinken wollen", entgegnete Hofkamp spöttisch. „Kommen Sie, Plattenberg, setzen Sie sich zu uns und nehmen Sie sich auch eins. Vielleicht wird dann doch noch ein echter Mann aus Ihnen." Er lachte und nahm einen großen Schluck aus seiner Bierflasche. Sein Kumpel stimmte grunzend in das Gelächter ein.

Plattenberg seufzte mitleidig. „Ach, Herr Hofkamp, manchmal könnte man meinen, Sie wären selbst wie ein Fußball."

„Hä?"

„Hohl und mit Luft gefüllt." Mit diesen Worten wandte Plattenberg sich um und verließ das Zimmer.

„Na warte, du Arschloch!", rief Hofkamp wütend, doch das erneute, hektische Geplapper des Kommentators hielt ihn davon ab, aufzuspringen, Plattenberg einzuholen und ihm eins aufs Maul zu geben.

„Was für ein Kindergarten", murmelte Jessica kopfschüttelnd und ging ebenfalls aus dem Raum.

Neben dem Wohnzimmer bestand Amelies Wohnung aus zwei weiteren, kleineren Räumen, einer Küche und einem Bad. Eine Dreizimmerwohnung in einem frisch sanierten Altbau mitten im angesagten Kreuzviertel, nicht schlecht für eine junge Frau, die studierte und keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachging, zumindest offiziell nicht. Ob ihr die teure Wohnung wohl von ihrem älteren Freund gesponsert wurde?

Sowohl die Küche als auch das Bad waren altbautypisch klein, wirkten aber neu und modern. Das kleine Zimmer neben der Küche, das ursprünglich vermutlich als Esszimmer diente, hatte Amelie zu einem kleinen Künstleratelier umfunktioniert. Mitten im Raum stand eine Leinwand auf einer Staffelei, auf der ein unfertiges Bild im Stil der anderen zu sehen war. Es roch intensiv nach Acrylfarben und auf dem mit einer farbverschmierten Plastikplane abgedeckten Boden lagen überall Farbdosen und Pinsel verstreut. An den Wänden lehnten ebenfalls bemalte Leinwände, die allerdings verschiedene Motive zeigten, darunter Landschaften, Stillleben, Porträts und was man sonst so in den Malkursen auf einer Kunsthochschule malen musste. Auch einige Bleistift- und Kohlezeichnungen waren dabei, vermutlich Pflichtaufgaben aus den Grundkursen am Anfang des Studiums. Auch wenn Jessica sich nicht für eine Expertin hielt, fand sie, dass Amelie durchaus Talent hatte. Ob es ausgereicht hätte, um damit ihren Lebensunterhalt zu beziehen, war eine andere Frage. Nun spielte das sowieso keine Rolle mehr.

Sie verließ das Atelier und ging ins Schlafzimmer hinüber, das bereits von Plattenberg inspiziert wurde. Auch hier schmückten Amelies selbstgemalten Werke die Wände, aber auch gerahmte Fotos, die sie mit ihren Freundinnen oder ihrer Mutter und ihrem Stiefbruder zeigten. Eines der Fotos zeigte eine sehr viel jüngere Wiebke Lorenz – damals eher noch Winter – mit einem kleinen, rothaarigen und sommersprossigen Mädchen und einem blonden Mann, der genau die selben, strahlend blauen Augen wie das Mädchen hatte. Bei dem Mann musste es sich um Amelies verstorbenen Vater handeln. In Jessicas Augen wirkte er um einiges sympathischer als Oliver Lorenz, zumindest auf dem Foto.

Über dem ungemachten Bett hing ein riesiges Poster mit dem nächtlichen Manhattan als Motiv, das Bücherregal war vollgestopft mit Büchern über die USA und New York City. Anscheinend war Amelie ein New York-Fan gewesen. Kein Wunder, galt die Stadt doch als Künstlerhochburg schlechthin.

Sämtliche Schranktüren und Schubladen waren geöffnet. Die Frau von der KTU war mit dem Schreibtisch beschäftigt und räumte ein silbernes MacBook in eine weitere Plastikkiste. Hoffentlich wussten die zwei Trolle im Wohnzimmer es zu würdigen, dass sie die ganze Arbeit machte, während sie Fußball schauten und an ihren Bierflaschen nuckelten.

„Nur Frauensachen", stellte Plattenberg nach einem kurzen Blick in den Kleiderschrank fest.

„Im Badezimmer sind auch nur Frauenprodukte und nur eine Zahnbürste", fügte Jessica hinzu. „Sie scheint alleine hier gewohnt zu haben."

„Ich konnte auch keine Anzeichen für einen weiteren Bewohner finden", gab die Kriminaltechnikerin ihnen recht.

„Vielleicht kam ihr geheimnisvoller Freund nur ab und an nachts zum Schäferstündchen vorbei. Oder sie trafen sich bei ihm oder auf neutralem Boden."

Aus einem Stapel, den die Kriminaltechnikerin gerade aus der Schreibtischschublade herausgenommen hatte und den sie auf dem Tisch ablegen wollte, fiel ein einmal zusammengefaltetes, kariertes Blatt Collegeblock-Papier heraus und segelte zu Boden. Plattenberg beugte sich herunter und hob es auf. Jemand hatte ‚von S. für A.' in einer krakeligen Junggenschrift draufgeschrieben. ‚S' wie ‚Sebastian', ging es Jessica sofort durch den Kopf.

Plattenberg faltete das Blatt auseinander. Mehrere in der gleichen Schrift geschriebenen Zeilen kamen zum Vorschein:


Es ist Nacht

und mein Herz kommt zu dir,

hält's nicht aus,

hält's nicht aus mehr bei mir.

Legt sich dir auf die Brust,

wie ein Stein,

sinkt hinein,

zu dem deinen hinein.

Dort erst,

dort kommt es zur Ruh,

liegt am Grund

seines ewigen Du.


„Christian Morgenstern."

„Wer?"

„Das Gedicht ist von Christian Morgenstern. Ein kleiner Romantiker, unser Sebastian. Obwohl er sich durchaus ein bisschen mehr Mühe hätte geben und das Gedicht wenigstens auf eine hübsche Karte schreiben können, wenn er es schon klaut. Aber es sei ihm angesichts seines jungen Alters verziehen."

„Für mich klingt dieses Gedicht nicht wirklich romantisch, sondern irgendwie gruselig. Wie von einem Stalker, der sich nachts ins Schlafzimmer schleicht und sich ungefragt zu einem ins Bett legt, oder so", meinte Jessica und bekam trotz der stickigen Wärme, die im Raum herrschte, eine Gänsehaut.

„Sie schauen zu viele Horrorfilme, Frau Schillert, und haben überhaupt keinen Sinn für Romantik."

„Aber Sie, oder was?"

„Ich hab hier was, was Sie interessieren könnte", mischte die Kriminaltechnikerin sich glücklicherweise ein und reichte Plattenberg ein paar bedruckte Blätter, die sie aus einem Umschlag genommen hatte.

Er las sie durch und reichte sie dann wortlos an Jessica weiter. Es handelte sich um die Entlassungspapiere aus einer privaten Dortmunder Frauenklinik, denen zufolge Amelie dort Ende Mai zwei ambulante Termine zur Durchführung einer medikamentösen Abtreibung wahrgenommen hatte.

„Die Mutter hat kein Wort davon erwähnt. Wahrscheinlich wusste sie auch nichts."

Jessica dachte daran zurück, wie Wiebke Lorenz zögernd zugegeben hatte, dass Amelie sich etwas von ihr entfremdet hatte. Das war die Untertreibung des Jahres gewesen, denn Amelie hatte ihre Mutter offensichtlich gar nicht mehr richtig an ihrem Leben teilhaben lassen. Nicht einmal bei einem so einschneidenden und belastenden Erlebnis wie einem Schwangerschaftsabbruch hatte sie sich ihr anvertraut. Das sagte einiges über die Mutter-Tochter-Beziehung aus. Oder hatte Amelie ihrer Mutter nichts erzählt, weil sie nicht deren, sondern die Reaktion ihres prüden, kontrollsüchtigen Stiefvaters fürchtete?

„Wenn ich solche Eltern hätte, würde ich denen auch nicht erzählen, dass ich schwanger bin", meinte Plattenberg.

„Wenn Sie Ihren Eltern erzählen würden, dass Sie schwanger sind, würde ich mich an deren Stelle sehr wundern...", kommentierte die Frau von der KTU.

„Glauben Sie mir, ich selbst würde mich nicht weniger wundern."

„Ähm, könnten wir dieses sehr spannende Thema vielleicht auf später verschieben?", unterbrach Jessica und hielt die Rechnung hoch, die den Papieren aus der Klinik beilag. „Das Ganze hat fast 500 Euro gekostet. Nicht gerade wenig Geld für eine 22-jährige Studentin."

„Da wäre eine Packung Lümmeltüten um einiges kostensparender gewesen, nicht wahr?", ließ Plattenberg eine seiner typisch unangemessenen Bemerkungen vom Stapel.

„Ach, daher haben Sie die ganze Kohle für die teuren Klamotten und Schweizer Uhren", konnte Jessica sich die Antwort nicht verkneifen.

„Falls Sie es genau wissen wollen..."

„Nein, will ich nicht!", beeilte sie sich zu sagen.

Die Kriminaltechnikerin schaute mit merkwürdigem Blick zwischen ihnen hin und her.

„Vielleicht hat der ältere Mann mit Sonnenbrille, mit dem Sebastian Amelie im Café gesehen hat, die Abtreibung bezahlt", sprach Jessica schnell weiter.

„Kann sein. Aus eigenen Stücken – oder auch nicht."

„Das wäre ein mögliches Motiv! Vielleicht ist er verheiratet und sie hat ihn mit der Schwangerschaft erpresst", spekulierte sie. „Oder er hat sie zu der Abtreibung gezwungen und sie hat gedroht, ihn deswegen anzuzeigen."

„Oder Amelie hat die Schwangerschaft abgebrochen, weil sie das Kind nicht wollte, er aber schon", schlug Plattenberg vor.

„Ich weiß nicht", erwiderte Jessica skeptisch. „Meistens sind Männer eher froh, das Kind und damit die Verantwortung losgeworden zu sein."

Die KTU-Mitarbeiterin nickte zustimmend.

„Ihr schreckliches Männerbild in allen Ehren, aber das ist bei weitem nicht immer der Fall. Zumindest würde es das brutale Vorgehen und die zahlreichen Messerstiche erklären. Außerdem haben wir außer dem mysteriösen Herren mittleren Alters noch weitere Kandidaten für die unverwirklichte Vaterschaft."

„Und wen?"

„Unseren jungen Freund der Liebeslyrik, beispielsweise."

„Sie glauben doch nicht wirklich, dass Amelie von ihrem sechzehnjährigen Stiefbruder schwanger war!"

Obwohl die beiden keine Blutsverwandten waren, fand Jessica diese Vorstellung irgendwie nicht ganz richtig. Doch die Art und Weise, wie Sebastian von seiner Stiefschwester gesprochen hatte, das heimlich aufgenommene Bild, das fast schon voyeuristische Hinterherschleichen, dieses merkwürdige Liebesgedicht, das alles ließ fast schon keinen Zweifel daran, dass er in Amelie verliebt war. Aber war es andersrum genauso? Stand Amelie nicht eher auf ältere Männer? Oder war der Mann mit Sonnenbrille nur eine Erfindung und die ganzen Andeutungen des Stiefvaters nicht mehr als heiße Luft?

„Ich glaube gar nichts, Frau Schillert. Ich stelle nur Vermutungen an, wo uns im Moment nichts anderes übrig bleibt. Dem nach, was Sie von Ihrer Begegnung mit Sebastian erzählt haben, könnte ich mir sehr wohl vorstellen, dass er der Idee, eine kleine Familie mit seiner Stiefschwester zu gründen, nicht abgeneigt gewesen wäre. Und weil sie diese Idee nicht ganz so reizend fand, ist er möglicherweise ausgerastet und hat sie beinahe in Stücke gehackt. Eine andere Möglichkeit wäre, dass das Kind gar nicht von ihm gewesen wäre und er einfach nur eifersüchtig war."

„Dann hätte Oliver Lorenz auch ein Motiv", gab sie zu bedenken. „Weil er dagegen war, dass Amelie was mit Sebastian hatte oder er meinte, dass sie ihn verführt hatte. Oder weil er nicht wollte, dass seine Frau was davon erfuhr."

„Oder weil Amelie von ihm schwanger war."

Verblüfft blickte Jessica Plattenberg an. „Das wäre ja..." Ihr fiel kein passendes Wort ein. Widerlich? Abscheulich? So ganz abwegig fand sie diese Theorie aber nicht. Wenn man bedachte, wie Oliver Lorenz über seine Stieftochter gesprochen hatte. Sie hatte schon das Gefühl gehabt, dass das nicht wirklich nach väterlicher Fürsorge klang, sondern vielmehr nach – ja, nach Eifersucht.

„Hier ist noch was schönes", meldete sich die Kriminaltechnikerin erneut zu Wort und zeigte ihnen eine Bleistiftzeichnung.

Es war ein sorgfältig gezeichnetes, detailliertes Aktbild von einer Frau. Nicht von irgendeiner Frau, sonders von Amelie selbst, wie Jessica an dem Vogel-Tattoo auf der rechten Hüfte sofort erkannte. Sie lag vollkommen nackt in eindeutig aufreizender Pose da, die Arme über den Kopf gestreckt, die Brust etwas durchgedrückt, das rechte Knie leicht angewinkelt, ihre Lockenpracht breitete sich auf dem angedeuteten Bettlaken oder der Decke unter ihr aus. Die Strichführung des Bleistiftes wirkte weich, fast schon sanft, spielte gekonnt mit Licht und Schatten und betonte die Rundungen von Amelies wohlgeformtem Körper. Die Zeichnung war unverkennbar erotisch angehaucht, jedoch nicht geschmacklos oder gar pornographisch, sondern durchaus ansprechend. Der Künstler hatte gute Arbeit geleistet.

„Sieht nicht so aus, als hätte sie das selbst gezeichnet", stellte Plattenberg fest. „Die Zeichnungen in ihrem Atelier sehen anders aus."

„Warum sollte sich jemand auch selbst nackt zeichnen?", fragte Jessica.

„Als Übung vielleicht?"

„Ich würde mir ziemlich blöd dabei vorkommen."

„Sie würden also lieber jemanden anderen nackt zeichnen?"

„Ich würde lieber niemanden nackt zeichnen!" Sie spürte, wie ihr Gesicht aus unerfindlichen Gründen heiß wurde und ärgerte sich zum unzähligen Mal darüber.

„Gibt es auf der Zeichnung eine Signatur?"

„Hier unten ist was", die Kriminaltechnikerin deutete auf einen runden Krakel unterhalb der Zeichnung.

„Wie ein ‚S' sieht es nicht aus", meinte Plattenberg. „Von Sebastian scheint die Zeichnung also nicht zu sein."

„Sieht eher wie ein ‚O' oder ein ‚Q' aus", sagte Jessica. ‚O' wie... ‚Oliver'?

Aber Amelies Stiefvater machte beim besten Willen nicht den Eindruck, so etwas zeichnen zu können. Andererseits, hatte er nicht erwähnt, er wäre Bauzeichner? Mussten die nicht auch zeichnen können? Trotzdem konnte sie es sich nicht so recht vorstellen. Vielleicht war die Zeichnung auch von jemandem ganz anderen und es war der Anfangsbuchstabe eines Nachnamens oder eines Pseudonyms. Gab es überhaupt Namen mit Q am Anfang?

„Hoffentlich kann diese Lara uns morgen sagen, mit wem Amelie alles so zu tun hatte." Es schien, als wäre das im Moment die einzige Möglichkeit, an irgendwelche relevanten Informationen zu kommen.

„Soll ich dieses Bild jetzt auch mitnehmen?", fragte die Kriminaltechnikerin unsicher.

„Sie sollen alles mitnehmen, was uns irgendeinen Hinweis auf die Identität von Amelie Winters Freund – oder ihren Freunden – liefern könnte. Wie weit sind Sie eigentlich schon mit ihrem Handy?"

„Soll das ein Witz sein?", empörte sich die Kollegin von der KTU. „Wann soll ich das denn geschafft haben? Wir waren erst stundenlang am Tatort und dann hier. Sie sehen doch, dass ich alles allein machen muss, weil sich gewisse Leute nur für Fußball interessieren und sonst kein Schwein da ist, wegen Urlaub und Personalmangel und was weiß ich nicht was!"

„Da sehen Sie mal, wie es mir tagtäglich geht."

„Wohl eher, wie es mir tagtäglich geht", korrigierte Jessica grimmig doch Plattenberg ignorierte ihren Einwand einfach.

„Wenn Sie wieder zurück im Labor sind, werten Sie als erstes ihre Handydaten, ihre Emails und ihre sonstigen Kommunikationskanäle aus. Irgendwo wird unser großer Unbekannter schon noch auftauchen. Heutzutage kann man so gut wie nicht mehr anonym bleiben, es sei denn, man kommuniziert nur mithilfe von Brieftauben oder Flaschenpost. Spätestens bis morgen Mittag will ich einen Namen haben. Uns ausschließlich auf die Aussage der Cousine zu verlassen, können wir uns nicht leisten."

Plötzlich ertönten aus dem Wohnzimmer laute „Los, Poldi! Loooos!"-Rufe gefolgt von „Klose, mach ihn rein!" und anschließend von einem triumphierenden „Tooooooor!"

„Wie bedauerlich", seufzte Plattenberg. „So wird dieser Schwachsinn heute immer noch kein Ende finden."

„Sagen Sie das den beiden drüben bloß nicht ins Gesicht. Sonst geben sie Ihnen noch eins auf die Rübe", warnte Jessica. Eine zweite Leiche brauchte sie an diesem Tag ganz bestimmt nicht.

„Ich habe nicht vor, mich mit diesen beiden Neandertalern zu unterhalten. Wir sind hier für heute fertig, denke ich", meinte er und machte sich auf den Weg zur Wohnungstür.


„Und was machen wir jetzt?", fragte Jessica, als sie wieder draußen vor dem Haus standen und wischte sich mit der Hand über ihren verschwitzten Nacken. Die Hitze hatte immer noch nicht merklich nachgelassen und sie stellte sich jetzt schon auf eine weitere schlaflose Nacht ein.

„Was Sie machen, kann ich nicht sagen, aber ich für meinen Teil fahre jetzt nach Hause. Und Ihnen kann ich nur wärmstens empfehlen, dasselbe zu tun."

„Was?", rief Jessica überrascht aus. „Jetzt schon?"

„Wieso nicht? Mit bahnbrechenden Erkenntnissen ist heute sowieso nicht mehr zu rechnen."

Damit hatte er sicherlich recht. Sogar, wenn Hofkamp und sein Kumpane sich doch noch dazu aufraffen sollten, mit der Auswertung der Spuren vom Tatort und aus Amelies Wohnung zu beginnen, würden sie an diesem Tag keine nennenswerten Ergebnisse mehr erzielen können.

„Stimmt, ich hab eigentlich auch keine Lust mehr." Außerdem spürte sie, wie sie langsam wieder Hunger bekam. Vielleicht würde sie sich auf der Heimfahrt einfach etwas holen, denn aufs Kochen hatte sie bei der Hitze wenig Lust. Und zum Nachtisch eine schöne, große Portion Eis...

„Na, sehen Sie, da sind wir uns ausnahmsweise sogar einig. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend."

„Hey, Moment! Sie fahren doch noch ins Präsidium zurück, oder?"

„Nein, das hatte ich eigentlich nicht vor."

„Aber mein Wagen steht noch dort! Wie soll ich denn sonst dorthin kommen?"

„Zu Fuß? Laufen soll gesund sein, wissen Sie. Oder Sie warten darauf, dass dieses dämliche Fußballspiel zu Ende ist und fahren mit unseren hopfenliebenden Freunden von der KT mit." Er setzte seine ultracoole Sonnenbrille auf, setzte sich hinters Steuer, schlug die Tür zu und ließ den Motor an.

„Nee, nee, so nicht, Freundchen!"

Bevor er losfahren konnte, hastete Jessica zur Beifahrertür, riss sie auf und pflanzte sich auf den Sitz. Sie hatte die Tür noch nicht richtig geschlossen, da fuhr er auch schon los, wobei er fast den vor ihnen parkenden KTU-Transporter rammte.

„Sie sind wirklich ein richtiges Arschloch, wissen Sie das?", sagte sie verärgert und schnallte sich an.

„Ich meine, heute schon so etwas ähnliches gehört zu haben."

„Und das stimmt auch! Wieso haben Sie es denn auf einmal so eilig? Können Sie es nicht erwarten, endlich wieder mit Ihrer Liebsten vereint zu sein?"

„Aber Sie sind doch hier."

Was?"

„Nichts."

Sie biss sich auf die Lippen und beschloss zu schweigen, bis sie am Präsidium angekommen waren. Ihr Gesicht fühlte sich erneut glühend heiß an, obwohl die Klimaanlage immer noch perfekt funktionierte.


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