4. Dicker als Blut?

Während der Fahrt nach Hiltrup, Münsters größtem, südlich gelegenen Wohnviertel, gerieten sie in den zähen Innenstadt-Verkehr, da zu dieser Tageszeit gefühlt die ganze Stadt zum Einkaufen oder sonst wohin unterwegs war. Außenrum zu fahren war jedoch keine wirkliche Alternative, da auch die Bundesstraße hoffnungslos verstopft sein würde.

Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel. Glücklicherweise funktionierte die Klimaanlage im Wagen einwandfrei, sodass es sich darin ganz gut aushalten ließ.

„Die Mutter heißt Wiebke Lorenz. Sie hat einen anderen Nachnamen als Amelie", stellte Jessica fest, während sie wieder einmal ewig lange an einer roten Ampel standen. „Das heißt dann wohl, dass sie nicht mit Amelies Vater verheiratet ist."

„Das soll durchaus vorkommen. Laut Melderegister ist der Vater vor zehn Jahren gestorben. Vor fünf Jahren hat die Mutter noch einmal geheiratet, einen gewissen Herrn Oliver Lorenz. Der hat seinerseits einen Sohn mit in die Ehe gebracht. Sebastian, sechs Jahre jünger als Amelie. Eine nette, kleine Patchworkfamilie."

Jetzt nicht mehr, dachte Jessica bitter und musste an Amelies geschundenen Körper auf dem stählernen Obduktionstisch denken. Schnell versuchte sie, diese Erinnerung abzuschütteln. Die Albträume waren ihr in dieser Nacht wohl sicher.

Sie brauchten länger als eine halbe Stunde für die Fahrt, obwohl es im Normalfall nicht mehr als zwanzig Minuten dauern sollte.

„Ich kenne diese Gegend", sagte Jessica und blickte aus dem Fenster, wo einander stark ähnelnde Einfamilienhäuser vorbeizogen. „Meine Eltern wohnen nicht sehr weit weg von hier."

„In so einem spießigen Häuschen mit perfektem Garten, geometrisch genau geschnittener Hecke, 3-mm-Rasen und Gartenzwergen sind Sie also aufgewachsen?"

„Wir hatten nie Gartenzwerge!", erwiderte sie gereizt. „Wollten Sie nicht eigentlich die Klappe halten?"

„Ich bin schon still." Als ob! Vermutlich würde das nicht sehr lange so bleiben.

Wenige Straßen weiter kamen sie an der richtigen Adresse an. Familie Lorenz bewohnte ein freistehendes, helles Haus mit Erd-und Dachgeschoss und schwarzem Satteldach. Drumherum war ein mittelgroßer, gepflegter Garten mit bunten Blumen-und Gemüsebeeten angelegt. Ein Mann in khakifarbenem T-Shirt, dunklen Shorts und mit beginnender Glatze hockte neben einem der Beete und versuchte, eine riesige, ziemlich hartnäckige Löwenzahnpflanze auszurupfen.

Sie parkten direkt vor dem Haus am Straßenrand und stiegen aus. Als der Mann sie bemerkte, ließ er von dem Löwenzahn ab und richtete sich auf.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" Mit leicht skeptischem Blick musterte er sie nacheinander.

„Sind Sie Oliver Lorenz?", fragte Jessica und versuchte ihre Nervosität so gut es ging zu überspielen.

„Ja, der bin ich. Was kann ich für Sie tun?"

„Mein Name ist Jessica Schillert und das ist mein Kollege Herr Plattenberg. Wir sind von der Kriminalpolizei Münster." Sie zeigten ihm ihre Dienstausweise vor.

„Kriminalpolizei? Ist etwas passiert? Ist etwas mit Sebastian?" Beunruhigt blickte Herr Lorenz zwischen ihnen hin und her.

„Es geht nicht um Sebastian, sondern um Amelie, die Tochter Ihrer Frau", erwiderte Plettenberg.

„Amelie? Was ist mit ihr?"

„Das würden wir lieber mit Ihrer Frau persönlich besprechen. Ist sie zuhause?"

„Ja, sie ist da. Kommen Sie mit."

Sie traten durch das Gartentor und folgten Oliver Lorenz bis zur Haustür. Er streifte sich die dreckigen Gartenhandschuhe ab und steckte sie in die Tasche seiner Shorts, schloss die Tür auf und führte sie ins Haus. In der Tür zu einem Raum blieb er stehen. Darin befand sich eine große, helle Küche in Holzoptik mit einem rechteckigen Esstisch und passenden Stühlen. Eine großgewachsene Frau Ende vierzig stand an der Küchenarbeitsplatte und schnitt mit schnellen, geübten Bewegungen einen Salatkopf klein. Ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, schaute sie kurz in ihre Richtung. Die Ähnlichkeit mit der toten Amelie war nicht zu übersehen, auch wenn die Frau keine roten, sondern blonde Haare hatte, deren grauer Ansatz dringend nachgefärbt werden musste.

„Oh, überraschender Besuch?", fragte sie unbeschwert und Jessica wurde ganz schwer ums Herz.

Herr Lorenz räusperte sich unbehaglich. „Wiebke, die Leute sind von der Polizei. Sie wollen mit dir sprechen."

„Polizei? Habe ich etwas angestellt? Außer, dass ich letzte Woche geblitzt wurde?" Sie lachte nervös.

„Nein, darum geht es nicht. Könnten wir uns an den Tisch setzen?", fragte Plattenberg.

Das mit dem Hinsetzen war nicht einfach nur eine Floskel. Manchen Menschen wurde nach der Verkündung der Todesnachricht buchstäblich der Boden unter den Füßen weggerissen, sodass sie umkippten und sich dabei verletzen konnten. Das brauchte niemand. Die Situation war sowieso schon schwer genug.

Langsam legte Frau Lorenz das Messer auf das Schneidebrett und drehte sich um. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. Wahrscheinlich ahnte sie bereits, dass es um etwas weitaus Schlimmeres als das Blitzen ging.

„Was ist passiert?", wollte sie wissen und machte keine Anstalten, sich zu setzen. Das hatte schon einmal nicht geklappt.

Jessica warf Plattenberg einen Blick zu, doch er schien nicht vorzuhaben, ihr diese schwere Aufgabe abzunehmen. Also holte sie so unauffällig wie möglich tief Luft und begann zu sprechen:

„Frau Lorenz, es tut mir sehr leid, Ihnen diese traurige Mitteilung machen zu müssen: Ihre Tochter Amelie wurde heute morgen tot im Schlosspark aufgefunden."

Das alles klang so offiziell, so kalt und herzlos. Sie hatte das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, was man falsch machen konnte. Aber egal wie man es machte, es gab einfach kein richtig, denn an der Tatsache, dass einem Menschen gewaltsam das Leben genommen wurde, war überhaupt nichts richtig.

Wiebke Lorenz' Kinn klappte nach unten und sie starrte Jessica mit weit aufgerissenen Augen an. Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst, doch sie zwang sich direkt in das schockierte Gesicht der Mutter zu blicken.

„Wie... Das... kann nicht sein!", stammelte diese. „Ich... habe gestern erst mit Amelie telefoniert! Sie wollte heute mit uns essen!" Ihr Blick wanderte zu der Uhr an der Wand über dem Esstisch. „In einer Stunde müsste sie hier sein! Das... muss alles ein schrecklicher Irrtum sein!"

„Es tut mir leid, Frau Lorenz, aber ein Irrtum ist so gut wie ausgeschlossen. Wir haben unweit der Stelle, an der Amelies Körper aufgefunden wurde, ihre persönlichen Sachen gefunden und konnten sie anhand des Ausweisfotos identifizieren", erklärte Plattenberg, wobei er Wörter wie Leiche und Tatort offensichtlich bewusst vermied.

Wiebke Lorenz schwankte leicht und musste sich an der Kante der Arbeitsplatte festhalten. Das schien die Schockstarre ihres Mannes, der bisher nur sprachlos dagestanden hatte, zu lösen. Er trat zu ihr, stützte sie und führte sie zum Tisch. Langsam, wie in Zeitlupe, ließ sie sich auf einen der Stühle sinken. Ihre Unterlippe begann zu zittern. Der Schock in ihren Augen wich einem anderen Ausdruck, einem unfassbaren Schmerz, vermutlich dem schlimmsten Schmerz, den eine Mutter fühlen konnte. Ein ersticktes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, dann schlug sie sich die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.

Genau das war der Grund, warum niemand, wirklich niemand diese Botengänge gerne übernahm. Man fühlte sich verantwortlich für das Elend der Menschen, denen man diese grausame Nachricht überbrachte, obwohl man in Wirklichkeit nichts dafür konnte.

Herr Lorenz stellte sich hinter sie und legte ihr seine Hände auf die Schultern, während sie weiterhin in ihre Handflächen schluchzte.

„Was ist denn überhaupt passiert?", wollte er wissen. „Hatte Amelie einen Unfall?"

„Die Ermittlungen stehen erst am Anfang, doch es ist zum jetzigen Zeitpunkt bereits sicher, dass Amelie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist."

Wiebke Lorenz ließ ihre Hände sinken und starrte Plattenberg mit rotgeweinten, tränennassen Augen an. „Soll... soll das etwa heißen, dass Amelie... dass sie getötet wurde?"

„Es deutet leider alles darauf hin."

„Wie... wie wurde sie getötet?"

„Sie wurde erstochen. Genaueres können wir Ihnen jetzt noch nicht sagen." Und würden sie auch später nicht, aus ermittlungstaktischen Gründen. Außerdem war es besser, wenn sie nicht wusste, dass der Täter wie ein Irrer auf ihre Tochter eingestochen hatte.

„Aber... wer... wer sollte denn so etwas tun?"

„Um das herauszufinden, benötigen wir Ihre Hilfe, Frau Lorenz. Fühlen Sie sich in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?"

Frau Lorenz wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und nickte dann.

„Sie erwähnten vorhin, dass Sie gestern mit Amelie telefoniert haben. Wann war das ungefähr?"

„So um 19.00 Uhr vielleicht..."

„Wie lange ging das Gespräch?"

„Nicht sehr lange, ein paar Minuten." Das würde sich anhand von Amelies Anrufliste bestätigen lassen, sobald diese ausgewertet wurde. Was vor lauter Fußball diesmal länger dauern könnte.

„Wie hat Amelie dabei auf Sie gewirkt? War sie möglicherweise aufgeregt, ängstlich oder bedrückt?"

„Eigentlich war sie so wie immer."

„Sie hat Ihnen also nichts Ungewöhnliches erzählt?", fragte Jessica. „Ob sie Probleme hatte? Vielleicht Streit mit jemandem?"

„Es schien alles in Ordnung zu sein. Ich habe sie zu uns zum Essen eingeladen und sie hat zugesagt."

„Hatten Sie nach dem Telefonat noch einmal Kontakt mit Amelie?"

„Nein, es... war das letzte Mal, dass ich... mit ihr... gesprochen habe." Frau Lorenz' Stimme brach und ihre Lippen begannen erneut zu zittern. Sie schloss die Augen, trotzdem bahnten sich die Tränen ihren Weg durch ihre geschlossenen Lider und kullerten ihre Wangen hinab.

„Es tut mir leid, ich...", presste sie hervor, stand auf und lief aus der Küche. Man hörte irgendwo eine Tür zufallen.

Ein bedrücktes Schweigen erfüllte den Raum. Herr Lorenz trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen und überlegte offenbar, ob er seiner Frau folgen sollte. Schließlich entschied er sich doch dagegen und ließ sich auf den Stuhl, auf dem sie gerade noch gesessen hatte, fallen.

„Das musste ja irgendwann so kommen", murmelte er leise.

„Wie meinen Sie das?"

Der Stiefvater zögerte kurz, bevor er antwortete. „Na ja, Amelie war schon immer etwas... leichtsinnig. Allein schon diese Sache mit der Malerei. Wir hatten versucht, sie dazu zu bewegen, nach der Schule etwas Anständiges zu machen. Man spricht ja nicht umsonst von ‚brotloser Kunst'. Ich hatte ihr sogar vorgeschlagen, eine Ausbildung in der Firma, in der ich selber arbeite anzufangen. Ich bin nämlich Bauzeichner und das hat schließlich auch, wenn auch nur entfernt, etwas mit zeichnen zu tun. Aber sie war nicht von der fixen Idee abzubringen, unbedingt Malerei studieren zu wollen." Er seufzte.

„Amelies ungewöhnlicher Berufswunsch ist aber noch lange kein Grund, sie umzubringen, finden Sie nicht?", entgegnete Plattenberg.

Herr Lorenz schaute ihn misstrauisch an. „Was wollen Sie damit andeuten?"

„Überhaupt nichts. Sie sagten gerade, Amelie sei leichtsinnig gewesen. Traf das auch auf andere Bereiche ihres Lebens zu?"

„Ja, eigentlich auf alle."

„Könnten Sie das präzisieren?"

„Amelie ist... war sehr... freizügig", erklärte Herr Lorenz zögerlich und rutschte sichtlich unbehaglich auf seinem Stuhl herum.

„Sie meinen, auf ihr Sexualleben bezogen?"

„Ja. Schon als sie noch zur Schule ging und hier gewohnt hat. Alle paar Wochen ein anderer Junge. Das kommt davon, wenn das Kind ohne Vater aufwächst. Wiebke hat dem Mädchen einfach alles durchgehen lassen."

„Sie sind also der Meinung, Kinder bräuchten eine harte Hand", stellte Plattenberg provokant fest und blickte Herrn Lorenz durchdringend an.

„Sie sagen das so, als hätte ich den Kindern alles verboten und würde sie verprügeln!", empörte dieser sich.

„Ist das nicht so?"

„Natürlich nicht!"

„Warum ist Amelie dann sofort nach dem Schulabschluss von Zuhause ausgezogen? Kaum ein Jahr nachdem Sie ihre Mutter geheiratet haben?" Mit dem Taktgefühl war es nun anscheinend endgültig vorbei.

„Was wollen Sie mir hier eigentlich unterstellen?", regte Herr Lorenz sich weiter auf. „Wollen Sie etwa mich verantwortlich dafür machen, was mit Amelie passiert ist?"

„Ich will niemandem etwas unterstellen. Ich will nur herausfinden, warum Amelie getötet wurde. Wenn sie tatsächlich ein derart freizügiges Liebesleben führte, könnte darin das Motiv liegen."

„Da sind Sie sicher auf der richtigen Spur. Als Amelie hier ausgezogen ist, behauptete sie, sie würde mit ihrer Cousine zusammenziehen. Aber das war gelogen. Sie ist zu einem Mann gezogen. Einem, der auch noch etliche Jahre älter war! Einfach so!"

Die Art, wie er das sagte, kam Jessica seltsam vor. Warum regte es ihn so auf? Amelie war nicht einmal seine leibliche Tochter und fast volljährig gewesen, als er ihre Mutter geheiratet hatte. Konnten sich da wirklich so starke Vatergefühle entwickelt haben? Oder steckte vielleicht etwas ganz anderes dahinter...

„Soweit uns bekannt ist, hat Amelie zuletzt alleine in ihrer Wohnung gewohnt. Sie war also nicht mehr mit diesem Mann zusammen?"

„Bestimmt nicht. Inzwischen hatte es sicher schon viele andere gegeben."

„Wissen Sie, ob sie aktuell einen Freund hatte?"

„Nein, das weiß ich nicht! Seit sie ausgezogen ist, hat sie sich unserer Kontrolle vollkommen entzogen", antwortete Herr Lorenz trocken.

Kontrolle. Wie das schon klang. Der Mann wirkte auf Jessica zunehmend unsympathisch.

In diesem Moment kehrte Wiebke Lorenz in die Küche zurück. Ihr Gesicht war immer noch stark gerötet, doch sie hatte die Tränen weggewischt und schien sich wieder einigermaßen im Griff zu haben, auch wenn ihre Augen immer noch verdächtig glänzten.

Sie setzte sich zu ihrem Mann an den Tisch und strich ihren geblümten Sommerrock glatt. Herr Lorenz erhob sich, füllte ein Glas mit Wasser und reichte es ihr. Mit zittrigen Händen griff sie danach und trank ein paar Schlucke, ehe sie es auf den Tisch stellte.

„Geht es Ihnen etwas besser, Frau Lorenz?", fragte Plattenberg, woraufhin Oliver Lorenz ihm einen offenkundig feindseligen Blick zuwarf. Was war das auch für eine Frage? Wie konnte es der Frau in dieser Situation besser gehen?

Doch sie schien ihm das nicht übelzunehmen. „Es geht schon."

„Würden Sie uns noch ein paar Fragen beantworten?"

Sie nickte traurig.

„Hatten Sie und Amelie eine enge Beziehung zueinander? Standen Sie sich nahe?"

„Was soll das? Wiebke ist Amelies Mutter!" Langsam wurde Oliver Lorenz ungehalten.

„Ich habe Ihre Frau gefragt, nicht Sie", entgegnete Plattenberg kalt.

Jessica hoffte, dass er es bloß nicht mal wieder übertrieb. Seine Befragungsmethoden waren meistens nicht gerade zimperlich, was ihm in der Vergangenheit bereits jede Menge Ärger eingebracht hatte. Und ihr auch.

„Schon okay, Oliver", winkte Frau Lorenz ab. „Wir haben ab und zu telefoniert, aber in letzter Zeit... da hat Amlie sich etwas... von mir entfremdet..."

„Können Sie uns etwas zu Amelies Freundeskreis sagen? Oder ob sie eine Liebesbeziehung hatte?"

„Ich glaube, da kann Ihnen Amelies Cousine Lara besser weiterhelfen. Sie war von klein auf Amelies beste Freundin, eigentlich waren sie wie Schwestern." Sie schniefte und zupfte unsicher an ihrer cremeweißen, ärmellosen Bluse herum. Scheinbar wurde ihr jetzt erst bewusst, dass sie überhaupt nicht wusste, was im Leben ihrer Tochter abging.

Plötzlich war aus der Diele ein Geräusch zu hören. Kurz darauf stand ein Jugendlicher um die sechzehn in verschwitzter Tenniskleidung in der Küchentür. Aus seiner Sporttasche ragte der Griff eines Tennisschlägers. Das musste Sebastian sein, Amelies Stiefbruder.

„Was ist hier los?", fragte er und strich sich die feuchten, blonden Locken aus der Stirn. „Wo ist Amelie? Wollte sie heute nicht kommen?"

„Sebastian, es ist... etwas ganz schlimmes ist passiert", stieß Wiebke Lorenz hervor, die schon wieder mit den Tränen kämpfte. „Amelie... sie... sie ist tot."

Sebastians vom Sport und von der Hitze geröteten Wangen wurden augenblicklich kreidebleich. Er ließ die Sporttasche fallen, drehte sich wortlos um, stürmte wieder hinaus und polternd die Treppe hoch ins Dachgeschoss. Kurz darauf krachte eine Tür mit lautem Knall zu.

„Sebastian, komm wieder her!", rief sein Vater und wollte ihm hinterher rennen.

Doch Plattenberg hielt ihn zurück:

„Warten Sie, lassen Sie meine Kollegin mit Sebastian sprechen."

Was? Entgeistert starrte Jessica ihn an.

„Das halte ich für keine gute Idee!", protestierte Herr Lorenz und in diesem Punkt stimmte sie ihm vollkommen zu.

„Ich schon. Frau Schillert kann das gut." Auffordernd schaute er sie an.

Was sollte das? Sie war doch keine Seelsorgerin! Wie gern hätte sie ihrem Herrn Kollegen gehörig die Meinung gesagt, doch das konnte sie vor den Eheleuten Lorenz natürlich nicht machen. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen und Sebastian die Treppe hoch zu folgen.

Im Dachgeschoss war es unerträglich warm. Wer war bloß auf die Idee gekommen, dass man unterm Dach gut wohnen konnte?

Sebastians Zimmer war nicht schwer zu finden, denn es war das einzige, dessen Tür abgeschlossen war. Sie klopfte vorsichtig dagegen.

„Sebastian? Ich bin Jessica, ich bin von der Polizei. Könntest du bitte die Tür öffnen? Wir machen uns ein bisschen Sorgen um dich."

„Gehen Sie weg!", hörte sie die gedämpfte Stimme des Jungen von der anderen Seite der Tür. Es hörte sich an, als würde er sein Gesicht in ein Kissen drücken. Vielleicht sollte sie einfach wieder gehen und ihn in Ruhe lassen.

Erst die Obduktion, dann das hier. Sie hatte absolut keine Lust mehr. Dennoch versuchte sie es noch einmal.

„Ich weiß, dass du jetzt traurig bist. Aber wenn du mich reinlässt und wir uns kurz unterhalten könnten, dann hilfst du mir vielleicht, schneller herauszufinden, was mit Amelie passiert ist."

Sie kam sich erbärmlich vor, wie eine elende Lügnerin. Doch es zeigte Wirkung: Nach einem kurzen Moment hörte sie Schritte und der Schlüssel wurde herumgedreht. Dann entfernten sich die Schritte wieder. Behutsam drückte sie die Türklinke herunter, öffnete die Tür und trat ins Zimmer.

Durch die zugezogenen Vorhänge war das Licht gedämpft, doch es half trotzdem nicht gegen die stickige Hitze. Dafür, dass es von einem Teenager bewohnt wurde, war das Zimmer erstaunlich ordentlich. Keine überall verstreuten Klamotten, kein benutztes Geschirr. Die Einrichtung war eher schlicht und funktional, ein Schreibtisch, ein paar Regale, ein Bett. An der Wand hing ein BVB-Poster. Auf dem Tisch stand neben einem Computermonitor ein gerahmtes Foto, auf dem eine blond gelockte Frau einen Jungen im Grundschulalter an der Hand hielt. Bei dem Jungen handelte es sich offensichtlich um Sebastian selbst, die Frau musste seine verstorbene Mutter sein. Der Vater war nicht auf dem Foto und auch sonst war nirgendwo ein Bild mit ihm zu sehen.

Sebastian saß mit gesenktem Kopf auf seinem Bett und starrte auf ein zerknittertes Foto in seiner Hand. Er schniefte leise, auf seinen Wangen glänzten nasse Tränenspuren. Jessica setzte sich neben ihn, mit etwas Abstand, um ihm nicht zu sehr auf die Pelle zu rücken. Das Bild in seiner Hand zeigte Amelie in einem kurzen weißen Kleid, die an einem Balkongeländer lehnte. Sie schaute nicht in die Kamera und Jessica hatte den Eindruck, dass sie im Moment der Aufnahme gar nicht gewusst hatte, dass von ihr ein Foto geschossen wurde.

„Du hast Amelie sehr gemocht, oder?", fragte sie.

Sebastian fuhr mit dem Finger liebevoll über das Foto und nickte. „Sie war von Anfang an nett zu mir, obwohl ich nicht ihr richtiger Bruder war. Sie war immer für mich da, wenn es mir scheiße ging."

Er drehte seinen Kopf zu ihr und schaute sie mit seinen braunen, verweinten Rehaugen an. „Amelie ist nicht einfach gestorben, oder? Jemand hat sie umgebracht, oder?"

Jessica schluckte schwer. Ihr Hals fühlte sich so trocken an wie eine Wüste. Woher wusste er das? Hatte er sich das zusammengereimt, weil die Polizei da war? Oder wusste er womöglich mehr? Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit ihm umgehen sollte. Eigentlich durften sie Minderjährige nicht einfach so befragen, ohne Beisein der Eltern oder eines Jugendpsychologen. Andererseits würde sich eine Gelegenheit, sich ungestört mit ihm zu unterhalten, möglicherweise nicht mehr ergeben. Sie beschloss, ehrlich mit ihm zu sein:

„Ja, das stimmt. Amelie wurde getötet."

Er wandte sich wieder ab und blickte erneut auf das Foto. „Sie war so schön. Der schönste Mensch, den ich gekannt habe."

Das hörte sich nicht gerade nach Geschwisterliebe an. Hier waren andere Gefühle im Spiel. Romantische Gefühle, wie ihr schien.

„Habt ihr viel zusammen unternommen, du und Amelie?"

„Früher war es mehr. In letzter Zeit hatte sie nicht mehr so viel Zeit. Sie hatte viel zu tun, mit ihrem Studium und ihrer Kunst und so. Und dann..." Er stockte.

„Ja?"

„Da war noch dieser Typ."

Ihr Herzschlag beschleunigte sich vor Aufregung. „Welcher Typ?" War das vielleicht die erste, richtige Spur?

„So ein blöder Kerl halt! Ich hab sie mal zusammen gesehen. In einem Café in der Innenstadt. Sie haben sich geküsst." Der letzte Satz klang richtig wütend. Oder eher eifersüchtig. Und sie glaubte auch nicht, dass Sebastian Amelie und diesen Mann nur zufällig gesehen hatte. Wahrscheinlich war er seiner Stiefschwester heimlich gefolgt, um herauszufinden, warum sie keine Zeit mehr für ihn hatte.

„Weißt du noch, wie dieser Mann ausgesehen hat? Kannst du ihn beschreiben?"

„Ich weiß nicht. Der trug normale Freizeitkleidung und hatte so ein bisschen zerzauste, dunkle Haare und einen Dreitagebart. Das war so einer, der auf jung tut, aber eigentlich war der bestimmt schon vierzig oder so. Er trug eine Sonnenbrille, deshalb konnte ich sein Gesicht nicht richtig erkennen."

„Wann war das?"

„Vor zwei Wochen ungefähr. Vielleicht eineinhalb."

„Und hast du Amelie danach noch einmal gesehen?"

Er schüttelte den Kopf. Jessica war sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach, ließ es aber vorerst so stehen.

„Vielen Dank, Sebastian. Du hast mir sehr geholfen. Ich lass dich jetzt allein. Es tut mir wirklich leid." Sie wusste, dass das kein Trost war, doch was sollte sie sonst sagen?

Bedrückt stand sie auf und war schon auf dem Weg zur Tür, als Sebastian erneut zu sprechen begann.

„Jetzt habe ich niemanden mehr", flüsterte er.

Sie wandte sich noch einmal zu ihm um. „Und was ist mit deinem Vater? Du hast doch ihn."

„Ach, mein Vater! Der nörgelt doch nur die ganze Zeit an mir herum. An Amelie hat er auch herumgenörgelt. Er ist doch schuld daran, dass sie ausgezogen ist!"

Aha. So war das also. Von wegen nette, kleine Patchworkfamilie.

„Ich wünschte... ich wünschte, er wär tot und nicht Mama", fügte er noch kaum hörbar hinzu.

Trotz der Hitze erschauderte Jessica. Unschlüssig blieb sie in der Tür stehen, darauf wartend, dass der Junge noch etwas sagte. Das tat er nicht. Sie wandte sich endgültig ab und ging wieder nach unten.


In der Küche herrschte unangenehme Stille. Wiebke Lorenz starrte abwesend vor sich auf die Tischplatte. Ihr Mann blickte mit gerunzelter Stirn aus dem Küchenfenster. Plattenberg lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und beobachtete die beiden, wie ein Wissenschaftler seine Versuchstiere beobachtete. Jessica blieb neben ihm stehen.

„Wie geht es Sebastian? Hat er mit Ihnen gesprochen? Was hat er gesagt?", überfiel Oliver Lorenz sie sofort, als er sie bemerkte.

„Vielleicht sollten Sie ihm etwas Zeit lassen", meinte sie nur. Offensichtlich hatte Sebastian keinen Bock auf seinen Vater, was sie irgendwie verstehen konnte.

Herr Lorenz schnaubte verächtlich und bestätigte damit nur ihre Meinung.

„Nun, falls Sie uns nichts mehr zu sagen haben, würden wir jetzt gehen", sagte Plattenberg, griff in seine Anzugtasche und holte seine Visitenkarte heraus. „Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, was Sie uns mitteilen möchten, melden Sie sich." Er legte die Karte auf den Tisch.

„Sie finden ihn doch, oder?", flüsterte Frau Lorenz plötzlich. „Sie finden denjenigen, der Amelie das angetan hat, ja?"

Da war sie. Die Frage, auf die es keine richtige Antwort gab. Jessica presste die Lippen zusammen und schielte zu ihrem Kollegen. Unter keinen Umständen würde sie darauf antworten. Das konnte er schön selber machen.

„Wir versuchen, unser Bestmögliches zu tun, Frau Lorenz", zog er sich geschickt aus der Affäre.

Als nach ein paar weiteren, quälend langen Augenblicken niemand mehr etwas sagte, verließen sie endlich das Haus.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top