17. Eine zerstörte, kleine Patchworkfamilie
„Sind Sie eigentlich von allen guten Geistern verlassen, Plattenberg?", wetterte Kriminalrat Brandt und rückte seine Brille zurecht, die ihm vor lauter Entrüstung auf die Nasenspitze gerutscht war. „Sie wollen allen Ernstes jeden einzelnen, der auf dieser gottverdammten Gästeliste steht, vorladen und vernehmen? Den Bürgermeister und seine Frau eingeschlossen?"
„Wenn ich sage ‚jeden einzelnen', dann meine ich auch jeden einzelnen, ganz egal, ob nun Bürgermeister oder Klempner", entgegnete Plattenberg seelenruhig. Er saß entspannt zurückgelehnt auf seinem Stuhl, ein Bein über das andere geschlagen und beobachtete mit milder Belustigung den Kriminalrat dabei, wie dieser hektisch auf und ab ging.
„Und wozu? Sie glauben doch wohl nicht, dass der Bürgermeister oder seine Frau etwas mit dem Tod von dieser Kunststudentin zu tun haben könnten?"
„Ich glaube überhaupt nichts, Herr Brandt. Ich bin nämlich längst schon aus der Kirche ausgetreten."
Brandt schnaubte erbost.
Jessica tat so, als würde sie hoch konzentriert in einem Bericht lesen und überlegte, unter welchem Vorwand sie ganz schnell verduften könnte.
Eigentlich hatte der Tag gar nicht so schlecht angefangen. Sie hatte geschlafen wie ein Stein, bei geöffnetem Fenster und einer wunderbar kühlen Brise und war am Morgen erholt aufgewacht, ohne zu verschlafen.
Im Präsidium angekommen, hatte sie zufrieden festgestellt, dass der Schreibtisch ihres Kollegen wieder blitzblank aufgeräumt war und weit und breit keine mit Drogen gefüllten Tütchen mehr zu sehen waren. Auch gab es keine verdächtigen, süßlichen Gerüche und an seinem Verhalten war, bis auf die üblichen Marotten, nichts Auffälliges.
Das Einzige, was ihre Stimmung etwas geschmälert hatte, war, dass die Kaffeedose immer noch leer war und keiner ihrer lieben Kollegen sich in der Verantwortung sah, sie aufzufüllen. Das würde wohl wieder einmal an ihr hängenbleiben.
Als irgendwann dann auch noch der Kriminalrat zum Meckern auftauchte, war es mit ihrer guten Laune allerdings endgültig vorbei gewesen.
„Fakt ist, dass irgendjemand, der bei dieser Veranstaltung in der Galerie anwesend war, Amelie Winter von dort aus angerufen hatte", fuhr Plattenberg fort, wobei er jedes Wort betonte, als wäre Brandt schwer von Begriff. „Und der Bürgermeister und seine Gattin waren nun einmal unter den Gästen. Sogar wenn keiner der beiden der Anrufer gewesen ist, könnten sie diesen eventuell gesehen haben. Deshalb würde es durchaus Sinn machen, sie zu befra..."
„Das ist absolut ausgeschlossen!", fiel Brandt ihm brüsk ins Wort und blieb endlich stehen. „Vor allem Sie halten sich vom Bürgermeister und seiner Frau fern! Wenn sie unbedingt befragt werden müssen, macht es der Staatsanwalt selbst. Und auch die Galeristin lassen Sie in Ruhe! Sie hat sich schon beim Staatsanwalt über Sie beschwert. Er und ihr Mann kennen sich nämlich."
„Ach, nein!", sagte Plattenberg voller Spott. „Lassen Sie mich raten: die beiden spielen zusammen Golf."
„Falsch, sie sind im gleichen Tennisclub."
„Ich wusste gar nicht, dass der Herr Staatsanwalt so sportlich ist und nicht nur Golf, sondern auch Tennis spielt. Aber Golf ist schließlich gar kein richtiger Sport..."
„Sparen Sie sich Ihre blöden Kommentare!", zischte der Kriminalrat. „Sie sind ja nur neidisch!"
„Auf wen?"
„Was weiß ich! Egal... Was ist denn mit diesem Typ, den Sie gestern festgenommen haben? Ist er nicht der Täter?"
„Er hat bedauerlicherweise ein Alibi."
„Ach, ja?"
„Ja, er hat zur Tatzeit Drogen in einer Diskothek namens Kuhstall verkauft und anschließend Geld aus seinen zahlungsunwilligen Kunden herausgeprügelt."
„Das ist jetzt nicht Ihr Ernst!"
„Mein voller Ernst. Der Kuhstall hat uns, aus Angst vor einer Drogenrazzia, das Überwachungsvideo heute früh bereits zugespielt und Frau Schillert hat es sich sehr genau angesehen."
„Jan Debowski war laut dem Video zur angegeben Zeit im Club", bestätigte Jessica. „Und die Kollegen sind unterwegs, um die Leute zu befragen, bei denen er und sein Mitbewohner hinterher waren."
„Das ist aber sehr schlecht, dass Sie diesem Typen nichts nachweisen können", meinte der Kriminalrat daraufhin.
„Wieso?"
„Weil der sich nämlich bei seinem Anwalt darüber ausgeheult hat, dass Sie bei der Festnahme übertrieben brutal vorgegangen wären und ihn sogar mit dem Auto angefahren hätten."
„Das ist doch totaler Blödsinn!", empörte Jessica sich. „Der war einfach nur so dämlich, gegen den stehenden Wagen zu laufen."
„Dem ist nichts hinzuzufügen", stimmte Plattenberg ihr zu.
Grimmig schaute Brandt zwischen ihnen hin und her. „Das ist natürlich klar, dass Sie beide wieder mal zusammen halten wie Pech und Schwefel. Das ist aber noch lange nicht alles: Der Stiefvater des Opfers behauptet, Sie hätten ihn und seine Frau erst kurz nach der Verkündung der Todesnachricht massiv bedrängt und auch noch seinen minderjährigen Sohn ohne seine Zustimmung vernommen."
„Wir haben niemanden bedrängt, sondern ganz gewöhnliche Fragen gestellt. Und er hat der Befragung seines Sohnes nicht aktiv widersprochen", wies Plattenberg die Anschuldigungen zurück.
Das stimmte zwar nicht ganz, denn Oliver Lorenz hatte durchaus angemerkt, dass er es für keine gute Idee hielt, wenn Jessica mit Sebastian sprach. Sie wirklich zurückgehalten, hatte er aber tatsächlich nicht.
„Übrigens gehören der Stiefvater und der Stiefbruder immer noch zum engeren Kreis der Verdächtigen."
„Und sonst? Was haben Sie sonst noch, bevor Sie der Familie weiter auf die Nerven gehen?"
„Die Ehefrau von Amelies Affäre müssen wir noch überprüfen. Und der Mann selbst ist natürlich ebenfalls noch nicht aus dem Schneider. Außerdem ist da immer noch die Gästeliste..."
„Mit anderen Worten: Sie haben nichts konkretes vorzuweisen und stochern wieder einmal nur im Dunkeln herum", stellte der Kriminalrat trocken fest.
„Was soll das heißen, ‚wieder einmal'? Ich darf Sie daran erinnern, dass ich eine hundertprozentige Aufklärungsquote habe, sowohl hier, als auch zu meiner Zeit in Düsseldorf", erwiderte Plattenberg hochnäsig.
„Dann wissen Sie hoffentlich auch schon, was Sie gleich bei der Pressekonferenz sagen wollen, um diesen Mythos aufrecht zu erhalten", meinte Brandt süffisant.
„Gar nichts. Für so einen Blödsinn habe ich keine Zeit. Wozu haben wir einen Pressesprecher? Zur Dekoration?"
„Das gehört, verdammt nochmal, zu Ihrem Job!"
„Warum gehen Sie nicht selbst zu der Pressekonferenz? Solche sinnfreien Aktivitäten sind sowieso eher Ihr Metier."
Brands Gesicht nahm augenblicklich die Farbe eines gekochten Hummers an. Bedrohlich beugte er sich zu Plattenberg vor und stützte sich dabei mit beiden Händen auf den Tisch. „Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sie aufgeblasenes, selbstgerechtes..." Er schluckte die Beleidigung gerade noch rechtzeitig herunter, bevor er weitersprach: „Sie werden Ihren rheinländischen Hintern auf der Stelle zu dieser Pressekonferenz bewegen und den Presseleuten und den Bürgern dieser Stadt persönlich erklären, warum Sie nicht in der Lage sind, den Mord an dieser jungen Frau schnellstmöglich aufzuklären und dafür zu sorgen, dass sich die Menschen wieder sicher auf Münsters Straßen fühlen können!"
Plattenberg verzog keine Miene und machte Brandt nicht den Gefallen, auf seinen Ausbruch zu reagieren. Irgendwie bewunderte Jessica seine unerschütterliche Gelassenheit, auch wenn er dabei zweifellos mit dem Feuer spielte.
Der Kriminalrat richtete sich wieder auf. „Und wenn ich noch ein einziges Wort der Widerrede höre, werde ich Sie eigenhändig in eine Kiste verfrachten und per Expressversand in Ihr gottverfluchtes Düsseldorf zurückschicken! Und Sie direkt mit!", fügte er an Jessica gewandt hinzu. Das Gesicht immer noch wutverzerrt, drehte er sich um, stampfte aus dem Raum und schlug die Tür mit lautem Knall hinter sich zu.
„Wir beide in einer Kiste auf dem Postweg nach Düsseldorf... Eine interessante Vorstellung, finden Sie nicht?", meinte Plattenberg.
„Nee, finde ich nicht", erwiderte Jessica und verfluchte Brandt in Gedanken. Was wollte dieser Arsch überhaupt? Der Leichenfund war gerade einmal zwei Tage her und es war Wochenende! Wie hätten sie da den Fall so schnell aufklären können? Der Mann schien den Bezug zu echter Ermittlungsarbeit komplett verloren zu haben und sorgte sich mehr darum, was die Presse dachte oder dass irgendwelche Mitglieder der besseren Gesellschaft während der Ermittlungen nicht behelligt wurden.
„Wie dem auch sei..."
Plattenberg stand auf, strich die an diesem Tag bunt geblümte Krawatte zurecht und knöpfte seine hellgraue Anzugjacke zu. „Da ich mich nun wohl oder übel an diesem schwachsinnigen Spektakel beteiligen muss, werden Sie allein nach Hiltrup fahren und Oliver und Sebastian Lorenz noch einmal auf den Zahn fühlen. Sollte das keine nennenswerten Erkenntnisse bringen, nehmen wir uns anschließend Eleonore Rothendorff vor. Bis dahin sollte sie wieder in der Stadt und diese unnütze Presseveranstaltung hoffentlich vorbei sein."
„Wenn das dabei hilft, dass ich nicht per Paketpost nach Düsseldorf muss...", murmelte sie und steckte ihre Autoschlüssel ein.
Zwanzig Minuten später, stieg Jessica vor dem Gartenzaun der Familie Lorenz aus ihrem Wagen und zupfte ihre Jeansjacke zurecht. Die Sonne schien zwischen ein paar kleineren, weißen Wolken hindurch und es wurde langsam wieder sommerlich warm. Die brütende Hitze der letzten Tage sollte vorerst jedoch glücklicherweise ausbleiben.
Das kleine Haus mit dem perfekten Garten lag ruhig und friedlich da. Es graute Jessica bei dem Gedanken daran, was hinter dieser unscheinbaren Tür wohl alles vorgefallen sein mochte.
Mit ungutem Gefühl trat sie durch das Gartentor und lief auf die Haustür zu. Nachdem sich Oliver Lorenz bereits über sie beschwert hatte, hatte sie keine große Lust, ihm erneut gegenüberzutreten. Aber es musste sein.
Nachdem sie geklingelt hatte, war es Wiebke Lorenz, die ihr die Tür öffnete. Sie trug dunkle Kleidung und hatte verquollene, stark gerötete Augen.
„Oh, Sie sind es wieder", sagte sie tonlos.
Sofort bekam Jessica ein schlechtes Gewissen, weil sie die Frau während ihrer Trauer störte.
„Es tut mir leid, aber ich muss noch einmal mit Ihnen sprechen. Besser gesagt, mit Ihrem Mann und mit Sebastian."
„Wer ist da, Wiebke?", hörte sie die unliebsame Stimme von Oliver Lorenz und im nächsten Augenblick stand er schon neben seiner Frau. Anscheinend hatte er sich an diesem Tag freigenommen, um ihr beizustehen. Oder hatte er möglicherweise ein schlechtes Gewissen?
„Was wollen Sie denn wieder hier?", blaffte er Jessica an. „Haben Sie endlich etwas Neues, oder schickt Ihr Vorgesetzter Sie, damit Sie sich für Ihr unverschämtes Verhalten entschuldigen können?"
Kurz wünschte sie sich, Plattenberg wäre bei ihr. Doch dann sagte sie sich, dass sie solche Situationen auch alleine meistern konnte. Vielleicht nicht unbedingt so, wie er es tat, sondern auf ihre Art. Schließlich wollte sie irgendwann selbst Mordermittlungen leiten – falls der Kriminalrat nicht dafür sorgte, dass ihre Karriere vorzeitig beendet wurde.
„Gut, dass Sie da sind, Herr Lorenz. Ich muss mit Ihnen sprechen. Und mit Sebastian", erklärte sie.
„Was wollen Sie denn noch von Sebastian? Sie haben beim letzten Mal schon genug Schaden angerichtet! Seitdem sitzt er nur in seinem Zimmer, redet nicht mehr mit uns und kommt nur heraus, um sich etwas zu essen zu holen. Wenigstens isst er überhaupt noch! In die Schule wollte er heute auch nicht gehen."
Das war wohl kaum verwunderlich, nachdem der Junge kürzlich erst von dem Tod seiner Stiefschwester erfahren hatte. Oder, nachdem er sie selbst umgebracht hatte...
„Vielleicht lassen Sie mich erst einmal hereinkommen", sagte Jessica, ohne auf seine Vorwürfe einzugehen. „Dann können wir in Ruhe reden, meinetwegen erst ohne Sebastian."
„Kommen Sie rein", mischte Frau Lorenz sich ein, bevor ihr Mann weiter widersprechen konnte. Widerwillig trat dieser ebenfalls zur Seite und ließ Jessica eintreten.
Im Gegensatz zu ihrem letzten Aufenthalt in diesem Haus, gingen sie diesmal ins Wohnzimmer. Es wirkte ein bisschen wie auf einem Bild aus einem Werbeprospekt für ein Möbelhaus, ganz hübsch und perfekt eingerichtet. Zu perfekt, für Jessicas Geschmack. Schein und Sein, ging es ihr durch den Kopf.
Wiebke Lorenz stellte sich vor das sandfarbene Ecksofa, ohne sich zu setzen. Ihr Mann blieb neben der Wohnwand stehen und vergrub seine Hände tief in seinen Hosentaschen.
„Worüber möchten Sie mit mir sprechen?", fragte er Jessica.
„Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns unter vier Augen unterhalten."
„Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Frau."
Dann halt nicht.
„Ich muss Sie das jetzt fragen: Was haben Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag gemacht?"
Ein paar Augenblicke lang starrte Oliver Lorenz sie nur sprachlos an. „Sie... fragen gerade nicht wirklich nach meinem Alibi?"
„Das ist mein Job, ich muss das tun. Also?"
Er sah unsicher zu seiner Frau, deren Blick einen argwöhnischen Ausdruck angenommen hatte.
„Wiebke, Sebastian und ich haben uns am Freitagabend das Fußballspiel um halb neun angesehen, Uruguay gegen Ghana. Danach ist Sebastian auf sein Zimmer gegangen und wir haben uns noch etwas raus in den Garten gesetzt, weil es immer noch so warm war. Kurz nach halb zwölf sind wir dann ins Bett gegangen."
„Können Sie das so bestätigen?", fragte Jessica an Frau Lorenz gewandt."
„Ja", war die einsilbige Antwort.
„Und dann haben Sie die ganze Nacht geschlafen?"
„Ja, das tun normale Menschen so", erwiderte Herr Lorenz ungehalten.
„Könne Sie bezeugen, dass Ihr Mann die ganze Nacht im Haus war?", wandte Jessica sich erneut an seine Frau.
„Ich... ich habe selbst geschlafen."
„Die ganze Nacht, ohne aufzuwachen?"
„Etwa um drei bin ich einmal aufgewacht und da lag Oliver neben mir."
„Die Tatzeit liegt zwischen 23:00 und 2:00 Uhr", sagte Jessica.
Ein angespanntes Schweigen folgte.
„Verdächtigen Sie etwa meinen Mann?", fragte Wiebke Lorenz schließlich leise. „Wieso?"
„Das würde ich auch gerne wissen!", fügte Oliver Lorenz hinzu und verschränkte die Arme vor der Brust.
Jessica atmete tief durch und sah ihn direkt an. „Vor einigen Jahren, als Amelie noch hier bei Ihnen gewohnt hat, sollen Sie ihr gegenüber einen Annäherungsversuch unternommen haben."
„Was?" Schockiert blickte Frau Lorenz zwischen ihr und ihrem Mann hin und her. „Was soll das bedeuten?"
„Herr Lorenz soll Amelie geküsst haben."
Entgeistert schnappte Amelies Mutter nach Luft.
„Was soll daran so schlimm sein? Hat Ihr Vater Ihnen denn nie einen Kuss gegeben?", versuchte Oliver Lorenz, sich herauszureden.
„Sie sind aber nicht Amelies Vater", entgegnete Jessica. „Sie hat sich einer Freundin anvertraut und ihr erzählt, dass das kein Kuss wie zwischen Vater und Tochter war..."
„Du mieses Schwein!", brüllte plötzlich jemand.
Im nächsten Augenblick kam Sebastian ins Zimmer gestürzt. Offenbar hatte er sich die Treppe hinuntergeschlichen und ihr Gespräch belauscht.
„Du bist schuld daran, dass sie weggegangen ist! Warum konntest du deine dreckigen Finger nicht von ihr lassen!"
Jessica versuchte, ihn zurückzuhalten, doch er schubste sie einfach weg. Außer sich vor Wut, ging er auf seinen Vater los. Dieser bekam ihn an den Handgelenken zu fassen und hielt ihn fest.
„Beruhige dich, Sebastian!", schrie er ihn an. „Es ist nichts passiert. Da war nichts, gar nichts!"
Mit einer heftigen Bewegung riss Sebastian sich los.
„Du lügst!" Seine sich überschlagende Stimme brach beinahe. „Ich hab doch gesehen, wie du sie ständig angegafft hast, du perverses, mieses Arschloch!"
Die Handfläche seines Vaters traf sein Gesicht mit lautem Klatschen. Die Ohrfeige war so heftig, dass der Junge sogar kurz ins Taumeln geriet.
„Hey, aufhören!", rief Jessica warnend und griff instinktiv an ihr Waffenholster. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und jeder Muskel ihres Körpers schien sich anzuspannen. Sie hoffte, dass die Situation nicht noch weiter eskalierte.
Sebastian fasste sich an seine Wange und starrte seinen Vater ungläubig an. Dieser wirkte selbst fast genauso geschockt. Wiebke Lorenz presste sich schluchzend die Hand vor den Mund.
„Sebastian... es... es tut mir leid...", stammelte Oliver Lorenz und streckte die Hand nach seinem Sohn aus.
Dieser schlug sie weg, drehte sich um und stürmte aus dem Zimmer.
„Mist!", entfuhr es Jessica, nachdem sie sich wieder gefangen hatte und sie eilte ihm hinterher.
Die Haustür stand offen und als sie nach draußen trat, sah sie nur noch, wie Sebastian über den Gartenzaun sprang und die Straße entlang rannte. Er war um einiges schneller als Jan, sodass sie ihn nicht mehr einholen würde.
Sie kehrte ins Haus zurück. Im Wohnzimmer herrschte eisiges Schweigen. Wiebke Lorenz hatte sich auf das Sofa gesetzt und starrte ihren Mann aus blutunterlaufenen Augen an.
„Was hast du Amelie angetan, Oliver?", flüsterte sie kaum hörbar.
„Nichts! Ich habe ihr nichts getan!", beteuerte er. „Du musst mir glauben, es war damals nur ein harmloser Kuss. Es war Silvester, ich war betrunken und wusste nicht, was ich da tat! Danach habe ich sie nie wieder angefasst! Und Freitagnacht, da war ich hier und habe geschlafen. Das weißt du doch!"
Wortlos senkte Frau Lorenz den Blick. Eine dicke Träne quoll aus ihrem Augenwinkel und tropfte auf den Boden. „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll."
Auch Jessica wusste es nicht so recht. So verzweifelt, wie er klang, neigte sie dazu, Oliver Lorenz zu glauben. Doch konnte sie das wirklich?
„Was ist mit Sebastian?", fragte sie. „War er auch die ganze Nacht hier?"
„Was soll das denn schon wieder?", regte sich Herr Lorenz auf. „Sebastian hat nichts mit Amelies Tod zu tun!"
„Er war in Amelie verliebt. So sehr, dass er auf jeden Mann eifersüchtig war, der sie auch nur angesehen hat. Sogar auf Sie!"
„Lassen Sie meinen Sohn endlich in Frieden! Er war die ganze Nacht auf seinem Zimmer!" Seine Stimme zitterte heftig, während er das sagte.
„Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie selbst doch die ganze Nacht durchgeschlafen haben?", warf Jessica ein.
Herr Lorenz öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn dann aber wieder und blickte wie ertappt zu Boden. Seine Frau schluchzte leise in ihre Handfläche. In diesem Augenblick wäre Jessica sogar lieber auf einer Pressekonferenz als hier.
„Hat Sebastian ein Messer?", fragte sie nach einer Weile unerträglichen Schweigens.
„Was für ein Messer?"
„Ein Schnappmesser, ein Jagdmesser, etwas in der Art."
„Warum sollte er so etwas haben? Er hat nur so ein kleines, rotes Schweizer Taschenmesser. Aber das haben doch viele. Damit kann man doch niemanden umbringen!"
Ja, so ein Messer war sicher nicht die Tatwaffe, aber vielleicht hatte Sebastian noch ein anderes, von dem sein Vater nichts wusste.
„Wo kann er jetzt hingegangen sein?", fragte sie weiter und versuchte ruhig und gefasst dabei zu klingeln.
„Ich weiß es nicht."
„Herr Lorenz, bitte! Wir müssen ihn sofort finden! Was, wenn er...", sie stockte. „... wenn er jetzt etwas unüberlegtes macht?"
Erschrocken schaute Herr Lorenz sie an. „Vielleicht ist er zum Friedhof gegangen. Zum Grab seiner Mutter."
„Der Alte Friedhof hier in Hiltrup?"
„Ja."
„Okay, ich fahre hin und schaue nach." Sie wandte sich wieder Richtung Tür.
„Ich komme mit!", sagte Sebastians Vater und wollte ihr folgen.
„Nein, Sie bleiben hier!", entgegnete sie bestimmt. Sie hielt es für keine gute Idee, die beiden wieder aufeinander treffen zu lassen, nachdem, was gerade passiert war.
„Ich halte Sie auf dem Laufenden", versprach Jessica.
Sie ließ sich den genauen Standort des Grabes beschreiben und eilte hinaus zu ihrem Wagen.
Der Alte Friedhof lag nicht sehr weit entfernt. Jessica kannte ihn, schließlich war sie selbst in Hiltrup aufgewachsen. Während der kurzen Fahrt überlegte sie, Plattenberg anzurufen, entschied sich dann aber dagegen. Er konnte ihr jetzt sowieso nicht helfen. Außerdem befand sich in der Nähe des Friedhofs eine Polizeiwache, sodass sie im Fall der Fälle schnell Hilfe holen konnte.
Ihr mulmiges Gefühl verstärkte sich, als sie durch das Friedhofstor trat. Viele Menschen fanden diese Stille tröstlich und beruhigend, doch auf Jessica wirkte sie eher bedrückend und die Vorstellung, irgendwann selbst unter der Erde zu liegen und vor sich hin zu faulen, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Schnell verwarf sie diese düsteren Gedanken und folgte dem von Oliver Lorenz beschriebenen Weg.
Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie Sebastian nach einigen Minuten erblickte. Er saß vor einem schwarz glänzenden Grabstein auf dem Boden und starrte mit tränennassem Gesicht vor sich hin. Dabei scharrte er abwesend mit den Fingern durch die Kieselsteine auf dem Friedhofsweg. Schweigend setzte sie sich neben ihn und blickte auf das Grab.
Hier ruht in Gottes Frieden
Sybille Lorenz
* 12.04.1969
† 23.09.2002
Jessicas wurde ganz schwer ums Herz, als ihr klar wurde, dass Sebastian erst acht Jahre alt gewesen war, als seine Mutter starb.
„Ich habe am Samstag nicht alles erzählt", sagte er auf einmal, seine Stimme nicht mehr als ein Flüstern.
„Dann erzähl es mir jetzt."
Er seufzte schwer.
„Ich war am Donnerstag bei Amelie", gab er zu. So etwas hatte sie sich schon gedacht. „Sie hat mir erzählt, dass sie weggehen will."
„Wohin weggehen?"
„Weg aus Deutschland. Sie wollte nach Amerika. Nach New York."
„Aber du wolltest nicht, dass sie weggeht", stellte Jessica leise fest.
Sebastian nickte traurig. „Ich hab ihr vorgeschlagen, dass ich mitkommen könnte. Aber sie meinte, dass das nicht geht. Weil ich erst sechzehn bin und noch zur Schule gehe. Und weil mein Vater sowieso dagegen wäre."
War er es doch? Weil Amelie ans andere Ende der Welt ziehen und ihn allein bei seinem ungeliebten Vater und der Stiefmutter zurücklassen wollte? Oder war der eigentliche Grund, dass sie nicht allein nach New York gehen wollte, sondern mit jemandem anderen zusammen? Mit einem Mann? Mit André Rothendorff? Hatte Lara nicht so etwas angedeutet? Aber hatte sie nicht auch gesagt, dass Rothendorff gar nicht vorhatte, mit Amelie nach New York zu gehen? Er selbst hatte auch nichts in der Richtung gesagt. Wenn Amelie alleine auswandern wollte, woher hatte sie das Geld dazu? Für das Flugticket, eine Wohnung und die sonstigen Lebenserhaltungskosten in einer der teuersten Städte der Welt? Hatte sie Rothendorff doch erpresst? Aber womit? Seine Frau wusste angeblich von seinen Weibergeschichten und billigte diese auch noch. Angeblich.
„Sebastian, hast du...?", sie sprach die Frage nicht zu Ende, doch er hatte sie auch so verstanden.
„Nein, ich habe Amelie nicht umgebracht. Warum sollte ich? Ich liebe sie! Am Samstag beim Essen wollte sie es ihrer Mutter auch erzählen. Dass sie auswandern will. Und ich habe gehofft, dass Wiebke sie vielleicht davon überzeugen konnte, es nicht zu tun. Oder wenigstens noch etwas zu warten. Nur ein paar Jahre. Dann wäre ich achtzehn und hätte mitkommen können. Jetzt ist aber sowieso alles egal."
Er senkte den Kopf und schniefte. Ein paar Tränen tropften hinab und hinterließen dunkle, nasse Tupfer auf seiner Jeans.
Jessica glaubte ihm. Er liebte Amelie, kopflos, verklärt – aber ehrlich.
Sie blieben eine ganze Weile lang schweigend vor dem Grab von Sybille Lorenz sitzen. Irgendwann stand Jessica auf und klopfte sich den Staub von der Hose.
„Komm, ich bringe dich wieder nach Hause."
„Ich will nicht nach Hause!", protestierte Sebastian.
Das konnte sie verstehen. Sie würde auch nicht nach Hause wollen, wenn ihr Vater ihr vorher eine gescheuert hätte. Zum Glück war das in ihrem Leben nie vorgekommen.
„Gibt es irgendwelche Verwandten, bei denen du vorerst bleiben könntest? Großeltern vielleicht?"
„Ja, die Eltern meiner Mutter. Die wohnen hier ganz in der Nähe."
„Dann bringe ich dich jetzt dorthin."
Sebastian rappelte sich auf und warf einen letzten Blick auf das Grab seiner Mutter. Dann wischte er sich mit dem Arm die Tränen aus dem Gesicht und sie gingen zusammen zwischen den Gräbern entlang zurück zum Tor.
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