16. Der eifersüchtige Ex

Durch das gekippte Fenster des Vernehmungsraumes hörte man von draußen das stetige Prasseln des Regens. Hin und wieder blitzte und donnerte es, was für eine düstere Weltuntergangsstimmung sorgte.

Jan Debowski saß mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl und starrte finster vor sich hin. Jessica konnte ihn so gar nicht mit einem Kunststudium in Verbindung bringen, auch wenn er der Kunstakademie bereits verwiesen worden war. Seine Rumpöbelei, das Dealen und das verbotene Messer in seiner Tasche passten da nicht wirklich dazu. Hatte er sich vielleicht nur dort eingeschrieben, weil es da unter den ganzen Kunststudenten, die ihrer Kreativität gerne etwas nachhalfen, einen lohnenswerten Absatzmarkt gab? Andererseits musste man einen Eignungstest bestehen, um an der Akademie angenommen zu werden, also musste er doch eine gewisse künstlerische Begabung haben.

Jan hatte sich hartnäckig geweigert, ohne einen Anwalt auch nur eine Frage zu beantworten. Deshalb saß dieser nun neben ihm, ein sehr dünner und sehr langer Mann, der eine Brille mit halbmondförmigen, randlosen Gläsern trug und eine leichte Ähnlichkeit mit dem Restaurantkritiker aus dem Animationsfilm Ratatouille hatte. Die Augenbrauen etwas angehoben und die schmale Brille auf der Nasenspitze, beobachtete er Plattenberg dabei, wie dieser die Tüten mit Gras und Pillen in fein säuberlichen Reihen auf dem Tisch zwischen ihnen ausbreitete, wobei er die mit den Pillen so zwischen denen mit dem Gras platzierte, dass sie sogar ein Muster ergaben. Jessica fragte sich, ob vielleicht das ganze Kunstthema auf ihn abgefärbt hatte, oder ob das möglicherweise nicht doch die Wirkung des giftgrünen Gebräus aus dem Kuhstall war.

„Würden Sie diese blödsinnige Tätigkeit möglichst zügig zu einem Ende bringen und endlich die Anschuldigungen gegen meinen Mandanten vorbringen?", meldete sich der Anwalt ungeduldig zu Wort. „Schließlich wollen wir heute alle noch zuhause ankommen."

Natürlich ließ sich Plattenberg dadurch nicht aus der Ruhe bringen. „Guter Mann, jetzt hetzen Sie mich nicht so! Sie wissen doch, dass wir Beamte nicht die Schnellsten sind."

Er beendete das nahezu perfekte Quadrat aus Drogentütchen und lehnte sich zufrieden zurück. „Es ist sowieso fraglich, ob Ihr Mandant heute überhaupt nach Hause geht oder die vorzüglichen Übernachtungsmöglichkeiten in unseren Zellen genießen darf."

„Unter welchem Vorwand wollen Sie meinen Mandanten hier festhalten?"

Mit einer theatralisch ausladenden Geste deutete Plattenberg auf den Tisch. „Ich darf Ihre Aufmerksamkeit auf diese nicht unerhebliche Menge bewusstseinserweiternder Substanzen lenken, die wir bei Herrn Debowski sichergestellt haben und bei der es mir äußerst schwer fällt, von Eigenbedarf auszugehen. Bei seiner Vorgeschichte scheint mir die Erlassung eines Haftbefehls allein aus diesem Grund schon nicht unwahrscheinlich zu sein."

Der Anwalt presste seine dünnen Lippen zusammen und warf seinem Mandanten einen nicht sehr freundlichen Blick zu. Dieser starrte genauso grimmig zurück.

„Wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie vom Kriminalkommissariat 11 und somit fallen Drogendelikte gar nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich", fuhr der Anwalt fort. „Mein Mandant hat bereits angedeutet, dass es hier in Wirklichkeit um etwas ganz anderes geht. Also beenden Sie bitte diese Farce und kommen Sie zur Sache!"

Plattenberg bedachte den Juristen mit einem herablassenden Blick.

„In der Tat interessieren mich das ganze Kraut und die Pillen nicht die Bohne." Er lehnte sich leicht vor. „Dafür aber das Schnappmesser, welches sich bei seiner Festnahme ebenfalls in Herrn Debowskis Besitz befunden hatte – und überdies unter das Führverbot gemäß Paragraph 42a des Waffengesetzes fällt – umso mehr. Das Messer befindet sich nun in unserem kriminaltechnischen Labor und wird dort auf Blutspuren untersucht, denn wir gehen davon aus, dass es sich dabei um die Tatwaffe in einem Tötungsdelikt handeln könnte."

„Um welches Tötungsdelikt geht es?"

„Das zum Nachteil von Herrn Debowskis Exfreundin Amelie Winter."

Was?", rief Jan plötzlich und sein Gesicht wurde von einer auf die andere Sekunde totenblass. Seine grauen Augen waren so weit aufgerissen, dass sie fast schon aus den Höhlen zu quellen drohten. „Was... was... was soll das? Was... was ist mit Amelie?"

„Amelie wurde in der Nacht von Freitag auf Samstag getötet."

„Das... das ist unmöglich! Das... kann nicht sein... Das darf nicht sein! Amelie kann nicht tot sein..."

Er fasste sich mit beiden Händen an den Kopf, grub die Finger in seine dunklen Haare, krallte sich regelrecht daran fest. Sollte seine Reaktion gespielt sein, musste er schauspielerisch um einiges begabter sein als so manch ein professioneller Schauspieler.

„Doch, Amelie ist tot, erstochen mit einem Messer, dessen Eigenschaften ganz gut auf dasjenige, welches Sie heute bei sich hatten, passen könnten", führte Plattenberg ungerührt aus.

Sein Anwalt warf Jan einen warnenden Blick zu, doch dieser ignorierte ihn.

„Was? Sie glauben, dass ich Amelie getötet habe?" Jan ließ seine Hände wieder sinken und schüttelte ungläubig den Kopf. „Das würde ich nie machen! Ich liebe Amelie!"

„Ach, ja?" Plattenberg schob die Tütchen mit den Drogen beiseite und zerstörte dadurch sein Kunstwerk. Dann holte er einen Ausdruck aus einer Mappe und legte ihn vor Jan und seinen Verteidiger auf den Tisch. „Diesen Nachrichtenverlauf haben unsere Kollegen auf Amelies Handy gefunden. Die Nachrichten wurden allesamt von einer auf Sie registrierten Handynummer versendet, Herr Debowski."

Wortlos starrte Jan auf den Zettel, auf dem einige Auszüge aus seinem und Amelies SMS-Nachrichtenverlauf zusammengefasst waren:

26.04.2010:

Jan: Wo bist du?

Amelie: Es ist aus. Schreib nicht mehr

Jan: Wie? Und was war gestern?

Amelie: Nichts. Ein ausrutscher. Es ist aus!

Jan: Nein! Lass reden


02.05.2010:

Jan: Ich hab dich gesehen mit diesem typ

Jan: Ich schlag ihm die fresse ein

Amelie: Hör auf damit es ist vorbei


06.05.2010:

Amelie: Bist du total bescheuert?

Jan: Ich hab das nur fur dich getan. Komm zuruck

Amelie: Vergiss es!


11.05.2010:

Jan: Ich war bei dir warum machst du nicht auf?

Amelie: Es ist vorbei! Komm nicht wieder her

Jan: Das kannst du nicht machen! Wir gehören zusammen


14.05.2010

Amelie: Hör auf mir nachzulaufen!

Jan: Es tut mir leid ruf mich an!

Amelie: Hör auf mich anzurufen!


20.05.2010:

Jan: Bitte Amelie ruf mich zuruck


29.05.2010:

Jan: Warum meldest du dich nicht?


04.06.2010:

Jan: Amelie?


09.06.2010:

Jan: Amelie wo bist du


15.06.2010:

Jan: AMELIE!


19.06.2010:

Jan: Hast einen neuen macker?


22.06.2010:

Jan: Du blöde schlampe!


26.06.2010:

Jan: Ich hasse dich!


„Schreibt man einer Frau, die man liebt, wirklich solche Nachrichten? Ist das neuerdings die gängige Umgangsform unter Verliebten?", fragte Plattenberg.

„Sagen Sie dazu lieber nichts", riet der Anwalt, doch Jan missachtete seinen Rat erneut.

„Das, das habe ich gar nicht so gemeint", stammelte er leise und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das... das ist mir nur so ausgerutscht!"

„Nur so ausgerutscht? Genauso, wie deine Faust nur so ins Gesicht von André Rothendorff ausgerutscht ist?", fragte Jessica.

„Ach, dieser alte Wichser! Der hat es doch nicht anders verdient! Was macht der sich auch an Amelie ran!"

„Da haben wir auch schon ein sehr gutes Motiv", meinte Plattenberg. „Amelie hat Ihre Anrufe und Nachrichten einfach ignoriert. Sie hatte ein Verhältnis mit Herrn Rothendorff, möglicherweise auch mit anderen Männern. Das hat Ihnen ganz und gar nicht gefallen, Herr Debowski. Sie waren eifersüchtig. Und wütend. Womöglich ist Ihnen Freitagnacht auch die Hand ausgerutscht? Die Hand mit dem Messer?"

„Darauf müssen Sie nicht antworten", versuchte der Anwalt wenig zuversichtlich erneut sein Glück.

„Nein! Nein, das stimmt nicht! Ich habe Amelie geliebt!", beteuerte Jan und rieb sich über die tränennassen Augen.

„Sie haben ihr vor etwa einer Woche noch selbst geschrieben, dass Sie sie hassen."

„Das war nicht so gemeint!"

„Das haben Sie bereits gesagt", stellte Plattenberg fest. „Oder hassten Sie Amelie tatsächlich aus einem anderen Grund? Amelie war schwanger. Von Ihnen? Es könnte jedenfalls hinkommen, wenn man sich das Datum des ‚Ausrutschers' ansieht. Wussten Sie das?"

„Schwanger? Nein! Nein, das wusste ich nicht. Das hat sie mir nicht gesagt!", behauptete der Verdächtige in weinerlichem Ton.

„Sind Sie sicher?"

„Verdammt, ja!"

„Gut, kann sein, dass sie es Ihnen nicht gesagt hat. Aber vielleicht haben Sie es selbst irgendwie herausgefunden?", sprach Plattenberg weiter. „Vielleicht haben Sie auch erfahren, dass Amelie Ende Mai einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließ? Vielleicht hat es Ihnen nicht gepasst, dass sie möglicherweise Ihr Kind einfach die Toilette heruntergespült hat?"

Mit offenem Mund starrte Jan ihn an.

„Ich darf doch wohl sehr bitten!", beschwerte sich der Anwalt und auch Jessica fand diese taktlose Ausdrucksweise vollkommen unangebracht.

„Sie... Sie reden so eine gequirlte Scheiße!", stieß Jan schließlich hervor.

„Tue ich das?"

„Und wie! Ich wusste nicht, dass Amelie schwanger war. Und ich habe ihr auch nichts getan!"

„Dann verraten Sie uns doch bitte, wo Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag zur Tatzeit waren."

„Wann genau soll das denn gewesen sein?", fragte der Anwalt sofort dazwischen und bewahrte seinen Mandanten davor, sich möglicherweise durch die Kenntnis der genauen Tatzeit selbst zu verraten.

„Zwischen 23:00 und 2:00 Uhr", präzisierte Jessica.

„Ich kam um halb zehn ungefähr in den Kuhstall."

„Ihr Freund an der Bar konnte uns das nicht genau bestätigen", warf Plattenberg ein.

„Mike hatte halt viel zu tun. Aber ich war da!"

„Wie lange?"

„So zwei Stunden vielleicht."

„Kann das jemand bezeugen?"

„Ja, aber..." Jan verstummte mitten im Satz und biss sich auf die Unterlippe.

„Was aber?", hakte Jessica nach.

Er atmete schniefend ein und aus. „Die... werden das bestimmt nicht zugeben."

„Weil das Kunden waren, die Drogen bei dir gekauft haben?"

Jan senkte den Blick und nickte, während sein Verteidiger nur noch den Kopf schüttelte.

„Aber am Eingang gibt es eine Kamera. Die müsste aufgezeichnet haben, wie ich gekommen und gegangen bin", fügte Jan dann noch hinzu.

„Das ist alles schön und gut, Herr Debowski, wenn Sie den Kuhstall jedoch bereits gegen 23:30 Uhr wieder verlassen haben, hätten Sie immer noch mehr als ausreichend Zeit gehabt, in den Schlosspark zu gehen, sich dort mit Amelie zu treffen und sie zu töten."

„Das habe ich aber nicht getan!", rief Jan wütend.

Er schien ziemlich aufbrausend zu sein und trotzdem war Jessica immer mehr davon überzeugt, dass er doch nicht der Täter war. Seinem Nebenbuhler die Fresse zu polieren oder seiner Exfreundin eine beleidigende SMS zu schreiben, war eine Sache, aber zig Mal brutal auf sie einzustechen? Nein, das traute sie ihm nicht zu.

„Und was hast du dann gemacht, nachdem du den Club verlassen hast?", wollte sie wissen.

„Ich... war noch unterwegs", kam die zögernde Antwort.

„Wo und mit wem?"

„Mit Sven."

„Mit Sven Hirsch, Ihrem Mitbewohner?", fasste Plattenberg nach.

„Ja."

„Was genau haben Sie gemacht?"

Langsam wurde es ziemlich anstrengend, ihm jedes Wort aus der Nase ziehen zu müssen.

„Das... das kann ich nicht sagen."

„Wieso nicht?"

„Herr Debowski hat das Recht, die Aussage zu verweigern", mischte sich der Anwalt wieder ein.

„In diesem Fall werden wir leider davon ausgehen müssen, dass seine vorherige Behauptung falsch war und er zur fraglichen Zeit womöglich doch nicht mit seinem Mitbewohner unterwegs war. Dessen Aussage diesbezüglich wird ebenfalls mit äußerster Vorsicht zu genießen sein, denn er wäre nicht der erste, der für einen guten Freund eine Falschaussage tätigt. Das wird der Haftrichter vermutlich ähnlich sehen."

„Mann, ist ja schon gut! Ich sag's ja!", gab sich Jan doch geschlagen. Die Aussicht, nicht nur wegen Drogenhandels, sondern wegen Totschlags oder sogar Mordes angeklagt zu werden, schien ihm nicht sehr zu gefallen. Unbehaglich kratzte er an seinen Fingernägeln herum, den Kopf weiterhin gesenkt.

„Also, manchmal, da lasse ich die Leute erst später bezahlen. Und manchmal, na ja, tun sie das halt nicht. Und dann kommt eben Sven ins Spiel..."

Bei dem Gedanken an Svens Michelin-Männchen-Statur, konnte Jessica sich denken, was das zu bedeuten hatte.

„Ihr habt also die Kohle aus den Leuten herausgeprügelt, die nicht zahlen wollten." Das könnte auch das Messer erklären, das als Argument zum Einsatz kam, wenn Svens riesige Fäuste nicht überzeugend genug waren.

„Halten Sie jetzt bloß den Mund!", zischte der Anwalt ungehalten, aber Jan hörte abermals nicht auf ihn.

„Nein, so ist es ja nicht! Nicht ganz... Meistens reicht Svens Anwesenheit allein schon aus, sodass es gar nicht zum Verprügeln kommt."

Das konnte sie sich nur allzu gut vorstellen.

„Um Ihr Alibi zu überprüfen, bräuchten wir die Namen Ihrer zahlungsunfähigen Kunden. Wenn Sie Pech haben, kommt dabei vielleicht auch die ein oder andere Anzeige wegen Bedrohung und schwerer Nötigung zu Ihrem Straftaten-Bouquet hinzu", meinte Plattenberg. „Um dieses Mandat sind Sie wahrlich nicht zu beneiden", fügte er noch an den Anwalt gewandt hinzu. Dieser blinzelte ihn nur verärgert über seine Brille hinweg an.

„Nun, Herr Debowski, wenn Sie Ihre Exfreundin nicht getötet haben – was selbstverständlich noch gründlich zu prüfen ist – haben Sie womöglich eine Idee, wer es sonst gewesen sein könnte?"

Jan hörte auf, an seinen Nägeln herumzufummeln und ballte die Hände zu Fäusten, sodass die Knöchel weiß hervortraten. „Fragen Sie doch diesen blöden Künstler-Arsch, diesen Grottendorff!"

„Welchen Grund sollte Herr Grottendorff haben, Amelie zu töten?"

Er zuckte mit den Achseln. „Was weiß ich denn? Vielleicht hat sie ihn auch nicht mehr rangelassen?"

„Herr Rothendorff macht auf mich den Eindruck, dass er sich in diesem Fall besser zu Helfen wusste als Sie."

„Dann war's vielleicht ihr kleiner Psycho-Bruder!", erwiderte Jan unwirsch.

„Sebastian Lorenz?"

„Ja. Basti der Spasti. Der ist Amelie ständig hinterher gedackelt, wie so ein Blöder. Als ob sie von so einem Bubi etwas wollen würde! Und dann hat er auch noch versucht, sich mit mir anzulegen aber ich hab ihm schnell gezeigt, wo der Hammer hängt und ihm auch eins aufs Maul gegeben." Selbstzufrieden lehnte er sich zurück und verschränkte erneut die Arme vor der Brust.

Sehr heldenhaft, sich mit einem Sechzehnjährigen zu schlagen, dachte Jessica. Was hatte Amelie sich bloß dabei gedacht, sich mit solchen Typen wie Jan oder auch Rothendorff einzulassen? Die Frau schien tatsächlich einen eher fragwürdigen Männergeschmack gehabt zu haben. War ihr das am Ende zum Verhängnis geworden?

„Und sonst haben Sie keine weiteren Verdächtigungen?"

Jan dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. „Wenn ich das Schwein aber in die Finger kriege, mache ich es kalt!"

Der Anwalt seufzte schwer und überlegte vermutlich angestrengt, wie er sich möglichst schnell vom Acker machen konnte.

„Mit solchen Äußerungen sollten Sie sich lieber zurückhalten. Sie stecken sowieso schon ganz schön in der Klemme", bemerkte Plattenberg. „Ich hätte eine weitere Frage an Sie: Ist Ihnen diese Zeichnung bekannt?" Er holte die Aktzeichnung von Amelie aus der Mappe und legte sie vor Jan auf den Tisch.

„Von wem ist das? Von diesem Scheißkerl Rothendorff?" Wütend wollte er nach der Zeichnung greifen, doch Plattenberg konnte sie schnell genug zurückziehen und aus seiner Reichweite bringen.

„Nein, es sieht nicht danach aus, als wäre Herr Rothendorff der Erschaffer dieses Kunstwerkes. Und Sie sind es offenbar ebenfalls nicht?"

„Nein! Ich habe dieses Scheißbild noch nie gesehen! Sonst hätte ich es längst schon zerrissen!", knurrte Jan verächtlich und sein Gesicht rötete sich vor Wut. Er schien sogar über Amelies Tod hinaus eifersüchtig zu sein.

„Haben Sie überhaupt keinen Verdacht, wer der Zeichner sein könnte, abgesehen von Herrn Rothendorff? Die Signatur kommt Ihnen auch nicht bekannt vor?"

„Verdammte Scheiße, nein!", rief Jan aufgebracht und klatschte laut mit seiner Handfläche auf den Tisch.

„Wenn Sie unser Mobiliar zerlegen, werden Sie für den Schaden aufkommen müssen", sagte Plattenberg vollkommen unbeeindruckt. „Gibt es sonst noch etwas, was Sie sich gerne von der Seele reden würden, Herr Debowski?"

„Das würde ich an Ihrer Stelle lassen", warnte der Anwalt. „Sie haben sich schon tief genug reingeritten."

Daraufhin presste Jan die Lippen zusammen und schwieg.

„Ich werte das mal vorsichtig als ein Nein", bemerkte Plattenberg. „Solange wir Ihre Angaben überprüfen, werden Sie bis auf Weiteres bei uns residieren müssen. Die Kollegen bringen Sie gleich auf Ihr luxuriöses Hotelzimmer. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht."

Mit diesen Worten packte er die Zeichnung und den Ausdruck mit dem Nachrichtenverlauf zusammen und verließ den Raum. Das Einsammeln der Tütchen mit den Pillen und dem Gras überließ er großzügig Jessica.


„Ich glaube, er war es wirklich nicht", meinte sie, als sie zurück in ihrem Büro waren. „Seine Reaktion wirkte doch ganz echt auf mich."

Jan schien Amelie tatsächlich geliebt zu haben, wenn auch auf eine ziemlich verdrehte Art und Weise. Außerdem schien er ein Alibi zu haben, in Form von anderen Straftaten zwar, aber er konnte trotzdem schlecht an zwei verschiedenen Orten gleichzeitig gewesen sein.

„Ich befürchte, damit könnten Sie durchaus Recht haben", stimmte Plattenberg ihr zu. „Aber erst einmal sollten wir die Untersuchungsergebnisse bezüglich des Messers und die Überprüfung seines Alibis abwarten."

„Wenn er es nicht war, können wir wieder von vorne anfangen", brummte Jessica enttäuscht.

„Wir haben immer noch Eleonore Rothendorff als Verdächtige. Zudem sollten wir der Vollständigkeit halber das Alibi von Sebastian Lorenz überprüfen und auch das von seinem Vater."

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sebastian der Täter ist", erwiderte sie. „Er war so traurig, als er von Amelies Tod erfahren hatte." Bei Oliver Lorenz war sie sich nicht ganz so sicher, besonders nach dem, was Lara über ihn erzählt hatte. Doch eigentlich traute sie ihm die Tat auch nicht wirklich zu.

„Es könnte auch jemand ganz anderes sein, den oder die wir noch nicht auf dem Schirm haben", überlegte Plattenberg weiter. „Schließlich gibt es da immer noch den geheimnisvollen Zeichner des Aktbildes, den Anrufer aus der Galerie und die Angreiferin, die die Möchtegern-Journalistin heute Mittag niedergeschlagen hat."

„Und bei allen drei haben wir immer noch keinen blassen Schimmer, wer das sein könnte", erinnerte Jessica ihn. „Und es sieht auch nicht so aus, als würde sich daran in nächster Zeit etwas ändern."

„Warum so pessimistisch, Frau Schillert? Vielleicht sollten Sie sich zur Entspannung so ein kleines Tütchen mitnehmen." Er hob eine von den Grastüten hoch, die Jessica alle auf seinem Tisch abgeladen hatte, und warf sie ihr zu. Die Tüte landete treffsicher auf ihrer Tastatur.

„Bitte was?"

„Solange das Ganze noch nicht katalogisiert und in der Asservatenkammer gelandet ist... auf eine Tüte mehr oder weniger kommt es da nun auch nicht an. Ich habe gehört, dass man daraus auch Kekse backen kann, falls Sie das Zeug nicht rauchen möchten."

„Nur gehört? Oder auch ausprobiert?", fragte Jessica und pfefferte das Tütchen wieder zurück. Es verfehlte seinen Kopf nur um wenige Zentimeter, klatschte gegen die Magnetwand hinter ihm und fiel zu Boden.

„Selbstverständlich nur gehört."

„Na klar, und ich bin der Kaiser von China."

„Na, dann eben nicht." Er stand auf, hob das Tütchen hoch und legte es zu den anderen auf den Tisch.

Kopfschüttelnd trat Jessica ans Fenster und öffnete es. Sofort strömte ihr die nun deutlich kühlere, nach Regen und Ozon riechende Luft entgegen. Es regnete immer noch, aber das Gewitter schien bereits weitergezogen zu sein.

„Endlich", seufzte sie und hoffte, dass sie in dieser Nacht besser schlafen konnte als in denen zuvor.

„Ja, endlich wieder Regen in Münster", sagte Plattenberg und stellte sich zu ihr ans Fenster. „Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung, nicht wahr?"

„Ich denke nicht, dass es in Düsseldorf so viel weniger regnet als hier", meinte sie spitz.

„Das mag sein", gab er zu. „Aber es regnet dort anders."

Sie fragte sich, was er wohl mit ‚anders' meinen könnte. Weniger nass? Oder hatte da etwa jemand Heimweh?

Ein paar Augenblicke lang sahen sie einfach nur schweigend hinaus in den Regen.

„Haben Sie heute eigentlich noch vor, nach Hause zu gehen?", fragte Plattenberg plötzlich.

„Eigentlich schon..."

„Worauf warten Sie dann noch?"

Wollte er sie möglichst schnell loswerden?

„Und was ist mit dem Papierkram?"

„Den erledige ich, als kleine Wiedergutmachung dafür, dass Sie Jan Debowski durch die halbe Münsteraner Innenstadt jagen mussten."

Überrascht schaute sie ihn an. Was war da auf einmal bloß los? Sie wurde einfach nicht schlau aus diesem Mann.

„Okay", nahm sie das Angebot an, bevor er es sich wieder anders überlegen konnte. „Aber nicht das ganze Gras wegrauchen!"

„Keine Angst, ich lasse Ihnen genug übrig. Gute Nacht."

„Gute Nacht."

Immer noch etwas überrumpelt, machte sie sich auf den Heimweg.


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