15. Von Bullen im Kuhstall und anderen Wiederkäuern
Jessica nuckelte an dem gelben Wassereis, das sie im Tiefkühlfach des Kühlschranks in der Gemeinschaftsküche gefunden hatte – angeblich Mango-Maracuja, aber in Wirklichkeit schmeckte es nur nach Wasser mit Süßstoff – und blätterte in der Aktenmappe auf ihrem Tisch.
„Jan Debowski ist ein alter Bekannter von uns: mehrfacher Verstoß gegen das BTM-Gesetz, Handel mit Gras und irgendwelchen Pillen, zwei Verurteilungen, einmal Geldstrafe und später sechs Monate Bewährung."
Sie schaute hinüber zu Plattenberg, der allerdings keine Reaktion zeigte, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, seine Hosenbeine akribisch nach Hundehaaren abzusuchen.
„Hören Sie mir eigentlich überhaupt zu?"
„Ich höre Sie klar und deutlich, Sie müssen nicht so schreien."
Er pflückte irgendetwas von seiner Hose. „Woher kommen bloß diese ganzen Haare? Da könnte man fast schon einen zweiten Hund draus machen."
Jessica verdrehte die Augen und leckte an ihrem Eis, bevor es auf die aufgeschlagene Akte tropfen konnte.
„Debowski wohnt in einer WG mit einem gewissen Sven Hirsch zusammen", fuhr sie fort. „Der ist auch bereits aktenkundig, ebenfalls Drogen und eine schwere Körperverletzung, für die er sogar einsaß."
„Das hört sich nach zwei sehr netten Zeitgenossen an", meinte Plattenberg und klopfte ein letztes Mal seine Hose ab. „Sobald Sie Ihr Diabetes am Stiel verspeist haben, sollten wir den beiden Herren einen kleinen Sonntagabendbesuch abstatten."
Jessica biss den Rest des Eises einfach in einem Stück von dem Holzstiel ab.
„Bin schon fertig", meinte sie kauend und warf den Stiel in den Mülleimer unter ihrem Tisch.
„Dass Sie davon keinen Hirnfrost kriegen", sagte Plattenberg kopfschüttelnd.
„Als einziges Mädchen unter vier Kindern, musste ich lernen, schnell zu sein", entgegnete sie und spazierte an ihm vorbei nach draußen.
Diesmal führte ihre Reise sie nach Kinderhaus, einem nördlichen Stadtteil, der – zumindest für Münsteraner Verhältnisse – als Brennpunktviertel galt. Die Wohnung von Jan Debowski und seinem Mitbewohner lag in einem Haus, das noch um einiges schäbiger wirkte als das, in dem Lara Hoenig wohnte. Nachdem sie geklingelt hatten, passierte erst einmal eine ganze Weile lang nichts, bis dann doch endlich der Türsummer ertönte.
In einer Wohnungstür im Erdgeschoss empfing sie ein bulliger Kerl mit kurzgeschorenen, dunkelblonden Haaren, der nur mit einer schwarzen Boxershorts bekleidet war. Dabei handelte es sich – wie Jessica aus den Akten wusste – um Sven Hirsch. Er wirkte leicht untersetzt und seine tätowierten Arme waren so dick wie ein 30-Kilo-Dönerspieß. In einer Hand hielt er den Controller einer Spielkonsole.
„Was wollt ihr hier?", herrschte er sie schroff an und ließ bedrohlich seine enormen Brustmuskeln spielen. Jessica beschlich der Verdacht, dass da nicht nur hartes Training, sondern auch das ein oder andere Anabolikum im Spiel war.
„Wir möchten zu Jan", sagte Plattenberg völlig unbeeindruckt und ohne sie als Polizeibeamte zu entlarven. „Ist er da?"
„Wieso?" Misstrauisch kniff Hirsch seine kleinen Knopfaugen zusammen. „Ihr seid doch wohl keine Bullen?"
„Sehen wir etwa so aus?", erwiderte Plattenberg fast schon beleidigt.
Hirsch schaute sie nacheinander prüfend an. Jessica war froh, dass ihr schlabbriges T-Shirt weit und lang genug war, dass es das Waffenholster an ihrem Gürtel verbarg.
„Nicht wirklich", gab Debowskis Mitbewohner zu. „Was wollt ihr von Jan?"
„Na, was wohl?" Plattenberg hob vielsagend eine Augenbraue.
Sven Hirsch musterte ihn noch einmal skeptisch von Kopf bis Fuß und kratzte sich geräuschvoll am Kopf. „Ich glaube nicht, dass Jan auch Koks hat."
„Das ist nicht schlimm, wir nehmen auch Gras. Jetzt in der Heuschnupfenzeit reizt Koks sowieso nur zusätzlich die Nasenschleimhaut", meinte Plattenberg. So selbstverständlich, wie er daher redete, musste man ihm einfach jedes Wort glauben. Was Sven Hirsch anscheinend auch tat.
„Jan ist nicht da, aber wenn ihr Glück habt, findet ihr ihn im Kuhstall."
„Bitte wo?" Plattenberg warf Jessica einen fragenden Blick zu.
„Das ist eine Disco", erklärte sie. „Ich weiß, wo das ist."
„Das ist Jans Stammclub, er hängt dort häufig rum", führte Hirsch noch hilfsbereit aus. Der Muskelberg schien sich nichts dabei zu denken, wildfremden Leuten den Aufenthaltsort seines drogendealenden Kumpels zu verraten. Der Hellste schien er nicht gerade zu sein, was möglicherweise auf den übermäßigen Konsum von Anabolika zurückzuführen war.
„Vielen Dank, das hilft uns schon sehr weiter", bedankte Plattenberg sich mit engelsgleicher Freundlichkeit.
Bevor Sven Hirsch doch noch Verdacht schöpfen konnte, machten sie sich schnell davon.
Der Kuhstall befand sich im Kuhviertel, Münsters Partymeile am nördlichen Rand der Altstadt. Aufgrund mangelnder Parkmöglichkeiten, ließen sie den Wagen am Münzturm stehen und legten die hundert Meter bis zum Kuhstall zu Fuß zurück.
Über dem Eingang begrüßte das Bild einer grinsenden und leicht schielenden Kuh mit einem Cocktailglas in der Hand – oder eher im Huf – die Besucher.
„Ob wir da drin wohl Rabatt kriegen?", überlegte Plattenberg. „So, als Artgenossen quasi?"
„Ich glaube, eher nicht", erwiderte Jessica. „Es heißt ja nicht ‚Bullenstall'."
Der gelangweilte Türsteher winkte sie einfach durch und wollte nicht einmal Jessicas Ausweis sehen, was sonst eigentlich häufiger vorkam, wenn sie ausnahmsweise abends ausging.
Obwohl Sonntagabend war und am nächsten Tag für die meisten Menschen der Ernst des Lebens wieder losging, war der Club recht gut besucht. Laute, elektronische Musik erfüllte den abgedunkelten Raum und eine unangenehme Mischung aus Parfüm, Zigarettenrauch, Alkohol und Schweißgeruch lag in der Luft. Jessica mochte solche Einrichtungen nicht besonders, auch wenn ihre beste Freundin nicht müde wurde, sie regelmäßig in so eine zu schleppen, damit sie endlich mal jemanden kennenlernte. Entspannen konnte man sich an so einem Abend eher selten, weil man die meiste Zeit damit beschäftigt war, irgendwelche besoffenen Typen abzuwimmeln, die einem an den Hintern oder sonst wohin grapschen wollten.
Plattenberg blieb kurz stehen und verschaffte sich einen Überblick, was ihm bei seiner Größe deutlich leichter fiel als Jessica. Dann begann er, sich zwischen den Besuchern hindurchzudrängen, zielstrebig auf die Bartheke zu. Jessica versuchte, ihm zu folgen, doch auf einmal versperrte ein Typ ihr den Weg, auf dessen T-Shirt der Schriftzug ‚Ich bin ganz heiß, bitte blasen!' aufgedruckt war.
„Hey, Süße! Biste allein hier?", rief er ihr deutlich angeheitert über die laute Musik hinweg zu.
Oh, Mann! Erst Rothendorff und jetzt das!
„Nee, mit meinem Freund!"
Man könnte meinen, die Abfuhr wäre deutlich genug, doch der Typ dachte nicht daran, zur Seite zu treten und sie durchzulassen.
„Vielleicht bin ich ja besser als dein Freund", raunte er ihr zu und blies ihr dabei seinen Alkoholatem ins Gesicht.
„Hör zu, ich bin nicht interessiert! Jetzt lass mich einfach durch!", erwiderte sie und wollte sich endlich an ihm vorbeischieben.
Plötzlich packte er sie grob am Arm. „Hey, wo willst du denn hin? Ich red doch grad mit dir!"
In einer fließenden Bewegung befreite sie ihren Arm und drehte ihm seinen auf den Rücken, sodass er vor Schmerz aufschrie. Die Leute, die unmittelbar um sie herum standen, wichen erschrocken zurück.
„Was ist an einem einfachen Nein nicht zu verstehen, Arschloch?", zischte Jessica dem aufdringlichen Typen zu und verstärkte den Druck auf seinen Arm noch etwas mehr.
„Es tut mir leid!", wimmerte er und sie ließ ihn los. Daraufhin stolperte er erschrocken davon.
Als sie endlich an der Bar ankam, lehnte ihr Kollege lässig daran und nippte an einem Glas mit einer giftgrünen Flüssigkeit, in der Eiswürfel herumschwammen und anstatt einem Cocktailschirmchen ein Stäbchen mit einer Abbildung der dämonisch grinsenden Kuh vom Eingang obendrauf steckte. Das ganze wirkte irgendwie surreal, wenn nicht fast schon lächerlich.
„Haben Sie die Liebe Ihres Lebens getroffen, oder wo waren Sie so lange?"
Sie antwortete nicht und deutete stattdessen auf das Glas.
„Sie haben die Zeit gut genutzt, wie ich sehe. Dass wir im Dienst sind, wissen Sie aber schon noch?"
„Eben. Ich lasse das einfach als Spesen abrechnen. Dieser Cocktail ist übrigens die Spezialität des Hauses: Die grasende Kuh. Vermutlich heißt er wegen der grünen Farbe so. Soll ich Ihnen auch einen bestellen?"
Ohne Jessicas Antwort abzuwarten, winkte er den Barkeeper herbei, einen kaugummikauenden, blonden Mann in hautengem, schwarzem T-Shirt und mit dem Aussehen eines typischen Boyband-Mitglieds.
„Könnten Sie für die schlecht gelaunte, junge Dame hier auch Ihr spezielles Paarhufer-Getränk zubereiten?"
Der Barkeeper schaute erst zu Jessica und dann wieder zurück zu Plattenberg, wobei er seine Kaubewegungen nicht für eine Sekunde unterbrach.
„Ist die Kleine denn überhaupt schon 18?"
„Die Kleine ist älter, als sie aussieht", entgegnete Jessica gereizt.
„Sie hat zuhause ein Porträt von sich hängen, das an ihrer Stelle altert", fügte Plattenberg hinzu.
Der Barkeeper starrte ihn an, als hätte er ihm gerade die Quantentheorie auf chinesisch erklärt. Offenbar war er mit dem Werk von Oscar Wilde nicht so vertraut.
„Hier, mein Ausweis", sagte Jessica und klatschte ihren Dienstausweis vor ihm auf den Tresen. Er glotzte ein paar Sekunden darauf, ohne mit dem Kaugummikauen aufzuhören, und fing schweigend an, den Cocktail zu mixen.
Einige Augenblicke später stellte er das Glas mit dem grünen Gemisch vor Jessica ab. Sie schnupperte daran, ohne zu trinken. Es roch leicht nach Pfefferminz und irgendetwas anderem, was sie nicht einordnen konnte.
„Wollen Sie nicht wenigstens probieren, wenn wir das schon vom Staat bezahlen lassen?", fragte Plattenberg.
Sie seufzte genervt, nahm das alberne Kuh-Stäbchen aus dem Glas und zog vorsichtig am Strohhalm.
„Ganz schön süß", stellte sie überrascht fest.
„Ja, eigentlich genau das richtige für Sie."
Sie ignorierte die Bemerkung und spürte, wie ihre Wangen mal wieder feuerheiß wurden.
„Ihr Bullen seid nicht zum Feiern hier, oder?", fragte der Barkeeper neugierig, wobei er weiterhin auf seinem Kaugummi herum schmatzte.
„Das hängt ganz davon ab, wie erfolgreich unser Besuch hier sein wird, mein lieber Freund", meinte Plattenberg, griff in die Innentasche seines Anzugs und holte das Foto von Jan Debowski hervor, das er aus dessen Akte entnommen hatte, bevor sie aufgebrochen waren. „Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?"
Der Barkeeper warf einen flüchtigen Blick drauf und schüttelte den Kopf. „Kenn' ich nicht."
Jessica glaubte ihm kein Wort.
Plattenberg lehnte sich zu ihm vor. „Und wenn ich unsere Freunde von der Drogenfahndung anrufe, damit sie hier eine große Party schmeißen und dabei den ganzen Laden auf Links drehen?"
Einen Moment lang vergaß der blonde Mann sogar zu kauen. Dann setzte er seine wiederkäuerähnlichen Kaubewegungen langsam wieder fort.
„Okay, Mann. Das ist Janni. Der kommt manchmal her."
„Und vertickt Drogen", ergänzte Jessica.
Der Barkeeper zuckte mit den Schultern. „Davon weiß ich nichts."
Ist klar!
„Was ist mit dem vergangenen Freitag?", fragte Plattenberg weiter. „War Janni an dem Abend auch hier?"
Erneutes Schulterzucken. „Ich glaub schon."
„Wie lange?"
„Ey Kumpel, weißt du eigentlich, was hier Freitags los ist? Da kann ich nicht auf jeden achten, Mann."
Das war Jessica sogar noch bereit, ihm zu glauben.
„Und heute? Ist Janni heute da?"
Erneut zuckte der Barkeeper betont ahnungslos mit den Achseln und wandte sich einer Horde junger Frauen zu, die ihn bereits ungeduldig herbeiriefen.
„Jede Wette, der ist doch hier irgendwo." Prüfend schaute Jessica sich um.
Plötzlich erblickte sie hinten, neben dem Gang, der zu den Toiletten führte, einen jungen Mann mit dunklen Haaren, der dem auf dem Polizeifoto aus der Akte zum Verwechseln ähnlich sah. Trotz der Hitze trug er eine leichte Jacke und hatte die Hände in die Taschen gesteckt, während er sich mit einem Pärchen unterhielt.
Sie stieß Plattenberg an und deutete so unauffällig wie möglich auf den dunkelhaarigen Mann. „Das ist der doch, oder?"
„Sieht ganz so aus."
Sie beobachteten, wie der Mann von dem Pärchen Debowski einen Geldschein reichte, woraufhin dieser dem anderen Mann irgendetwas zusteckte, was er sofort in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Dann rauschte das Pärchen eilig ab.
„Verkauft der da in aller Öffentlichkeit ganz dreist das Zeug!", regte Jessica sich auf. „Müssten wir ihn jetzt nicht verknacken?"
„Die Drogen interessieren mich ehrlich gesagt herzlich wenig", meinte Plattenberg und wandte sich erneut an den Barkeeper: „Könnte ich bitte einen Bewirtungsbeleg haben?"
Der Barkeeper zog kauend die Augenbrauen hoch, stellte aber ohne Widerrede den Beleg aus. Plattenberg warf einen kurzen Blick darauf. „Ist in diesem Gebräu etwa flüssiges Gold drin?"
„Für unsere Ordnungshüter nur das Beste", erklärte der blonde Mann frech grinsend.
Umständlich kramte Plattenberg einige Geldscheine und Münzen hervor, zählte den Betrag auf den Cent genau ab und verstaute den Beleg in seiner Anzugtasche. „Tut mir leid, das Trinkgeld kann sich unsere Behörde leider nicht leisten."
Mit grimmigem Gesichtsausdruck sammelte der Barkeeper das Geld ein.
„Sie wollen das doch nicht wirklich bei der Rechnungsstelle einreichen?", fragte Jessica, während sie Jan Debowski, der immer noch vor dem Gang herumlungerte und sich eine Zigarette drehte, weiterhin nicht aus den Augen ließ.
„Wieso nicht? Das sind schließlich Dienstausgaben. Oh, schauen Sie, unser neuer Freund kommt sogar von selbst zu uns."
Debowski hatte sich die fertige Kippe angesteckt und schlenderte rauchend auf die Bar zu. Ein Stück von Jessica entfernt lehnte er sich an die Theke und stützte die Ellenbogen drauf.
„Hey, Mike! Lass mal ein Bierchen rüberwachsen."
Mike, der ewig kauende Barkeeper, legte einen ebenfalls mit dem Kuh-Maskottchen bedruckten Bierdeckel vor ihn auf den Tresen, öffnete eine Bierflasche und stellte sie darauf ab. Debowski trank ein paar Schlucke, stellte die Flasche wieder hin und rauchte weiter. Wiederkäuer-Mike begann, geschäftig mit einem Lappen auf dem Bartresen um die Bierflasche herum zu wischen. Dabei lehnte er sich vor und flüsterte Debowski irgendetwas zu.
Sofort überkam Jessica ein ungutes Gefühl. Sie warf Plattenberg einen kurzen Blick zu, der die Szenerie jedoch weiterhin völlig gelassen beobachtete und dabei mit dem Kuh-Stab die Eiswürfel in seinem Glas zermatschte.
Plötzlich ließ Debowski seine Zigarette fallen, wirbelte herum und rannte wie von der Tarantel gestochen los, auf den Ausgang zu, wobei er die anderen Besucher rücksichtslos aus dem Weg schubste.
„Verdammte Scheiße!", fluchte Jessica und stürmte ebenfalls los, dem Flüchtigen hinterher.
„Ich hole zwischenzeitlich den Wagen!", hörte sie Plattenberg, der natürlich wieder einmal keine Anstalten machte, Debowski zu folgen, ihr seelenruhig zurufen.
Überanstrenge dich bloß nicht, du blödes Arschloch!
Debowski war inzwischen am Ausgang angekommen und stürmte durch die Tür. So schnell es die ihr im Weg stehenden, angetrunkenen Discobesucher erlaubten, folgte sie ihm.
Mittlerweile war es draußen ziemlich düster geworden, obwohl es um diese Uhrzeit im Sommer normalerweise noch hell war. Schwere, dunkle Gewitterwolken bedeckten den Himmel und die Luft fühlte sich so warm und feucht an, wie in einem tropischen Gewächshaus.
Jessica blickte sich um und entdeckte Jan Debowski, wie er die Straße entlang rannte. Vor sich hin fluchend, sprintete sie ihm hinterher. Trotz der Tatsache, dass er längere Beine und dementsprechend größere Schritte hatte, schaffte sie es, seinen Vorsprung zu verringern und an ihm dranzubleiben.
An der Straßenecke angekommen, bog er rechts ab und rannte die Überwasserstraße entlang in die Richtung, in der das Schloss Münster lag. Ein paar Passanten traten hastig zur Seite, um erst ihn und dann Jessica durchzulassen. Die Szene musste reichlich merkwürdig auf sie wirken.
Hartnäckig blieb sie Debowski auf den Fersen. Plattenberg soll sich bloß etwas Gutes einfallen lassen, um das wieder gut zu machen!, dachte sie verärgert.
Ohne nach links und rechts zu schauen, überquerte Debowski die breite Hauptstraße, auf deren anderer Seite der Schlossplatz und das Schloss der WWU lagen. Ein Wagen kam mit quietschenden Reifen zum Stehen, nur knapp, bevor er Debowski über den Haufen fahren konnte. Dieser rannte, ohne auch nur ein bisschen langsamer zu werden, weiter, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Auch die folgenden Autos bremsten scharf, einige Fahrer gaben wüste Beschimpfungen von sich, doch Jessica hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Dadurch, dass sie den bremsenden Autos ausweichen musste, war der Vorsprung des Flüchtigen größer geworden und sie musste sich weiter auf die Verfolgung konzentrieren.
Jan Debowski ließ die Fahrbahn hinter sich und rannte zwischen zwei Parkplätzen weiter auf das Schloss zu. Wahrscheinlich wollte er Jessica im Botanischen Garten oder dem dahinter liegenden Schlosspark abhängen.
Gehetzt sah er sich um und bemerkte deshalb nicht, wie etwas weiter vorne ein schwarzer Mercedes Benz von rechts angefahren kam und mitten auf dem gepflasterten Weg stehen blieb. Als Debowski den Kopf wieder nach vorne drehte, war es bereits schon zu spät. Er prallte mit voller Wucht gegen den Wagen, knallte auf die Motorhaube und rutschte dann unter schmerzerfülltem Stöhnen zu Boden.
Keuchend blieb Jessica stehen, beugte sich leicht vor und stützte die Hände auf die Knie, um etwas zu Atem zu kommen.
Die Fahrertür des Mercedes schwang auf und Plattenberg stieg aus. Penibel strich er seine Klamotten glatt, warf die Autotür wieder zu und blickte auf den immer noch auf dem Boden liegenden und stöhnenden Debowski herab.
„Hoffentlich hat der Lack nichts abbekommen", sagte er trocken und begutachtete, den sich theatralisch krümmenden Mann zu seinen Füßen ignorierend, den schwarzen Lack auf der Motorhaube.
„Ich darf mich wie immer abstrampeln und der feine Herr fährt einfach gemütlich mit dem Wagen vor!", japste Jessica und richtete sich wieder auf. „Woher haben Sie gewusst, dass er ausgerechnet hierher läuft?"
„Mein kriminalistisches Genie ließ mich das vorhersehen", meinte Plattenberg selbstgerecht. Dann wandte er sich an Debowski:
„Sie können nun mit diesem Schmierentheater aufhören, mein Lieber. So schwer verletzt sind Sie nun auch wieder nicht."
„Du hast mich fast totgefahren, du beschissenes Bullen-Arschloch!"
„Ich darf Sie darauf hinweisen, dass sich mein Fahrzeug zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes mit Ihnen in ruhendem Zustand befand", belehrte Plattenberg ihn und streifte sich zum zweiten Mal an diesem Tag Handschuhe über. „Würden Sie dem guten Mann aufhelfen, Frau Schillert?"
Jessica zog Debowski hoch auf die Füße und stieß ihn mit dem Gesicht voran gegen den Wagen.
„Hände aufs Dach und Beine auseinander!"
„Das ist Polizeiwillkür! Ich hab nichts gemacht!", jammerte er.
„Und wieso bist du dann abgehauen?"
„Vielleicht wollte er für die nächsten Olympischen Spiele trainieren?", schlug Plattenberg vor. „Haben Sie Waffen oder andere Gegenstände, die Sie als solche benutzen können, bei sich?"
„Fick dich ins Knie!"
„Herr Debowski! Wo haben Sie bloß Ihr Benehmen gelassen? Zuhause in der Schublade?", tadelte Plattenberg und klopfte Debowskis Jacke ab. Er griff in die Taschen und förderte mindestens zehn Tütchen zutage, die offensichtlich mit Gras gefüllt waren und ein paar weitere, die irgendwelche verdächtig wirkenden, blauen Pillen enthielten.
„Ich gehe davon aus, dass es sich hierbei nicht um Salatkräuter und Smarties handelt?"
„Das ist für den Eigenbedarf!", behauptete Jan Debowski.
„Wenn du das alles selber rauchen würdest, würde dir der Rauch schon aus dem Hintern rauskommen", erwiderte Jessica.
Plattenberg ließ die Fundstücke in den Taschen seiner Anzugjacke verschwinden und kontrollierte anschließend Debowskis Hosentaschen. In einer davon wurde er fündig und zog ein Schnappmesser mit Metallgriff daraus hervor. Er ließ die Klinge aufschnappen. „Das ist bei Weitem interessanter als das Gras und die Pillen in Ihrer Jacke."
Er zauberte eine Beweismitteltüte aus den unerschöpflichen Tiefen seines Anzuges hervor, klappte das Messer wieder zu und packte es in die Tüte. „Wissen Sie, dass das Mitführen eines Springmessers dieser Art laut Waffengesetz in Deutschland verboten ist? Wozu benötigen Sie eine solche Waffe?"
„Um mich zu verteidigen!", erklärte Debowski trotzig.
„Na, klar! Hier in Münster, dem Sin City von NRW", bemerkte Jessica spöttisch.
„Womöglich ist das unsere Tatwaffe", meinte Plattenberg wie nebenbei.
„Tatwaffe? Welche Tatwaffe?", fragte Debowski panisch. „Was wollt ihr Arschlöcher mir hier anhängen?"
„Darüber werden wir uns gleich in Ruhe bei uns im Präsidium unterhalten. Sie sind nämlich vorläufig festgenommen, wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittel- und das Waffengesetz. Und dann schauen wir, was da sonst noch so hinzukommt..."
Einladend öffnete Plattenberg die Hintertür seines Wagens. „Heute dürfen Sie unser Gast sein, sogar mit persönlichem Chauffeurdienst."
„Das dürft ihr nicht! Ich hab nichts gemacht!", wiederholte Jan Debowski und versuchte, sich aus Jessicas Griff zu winden. Doch sie legte ihm schnell Handschellen an und bugsierte ihn auf den Rücksitz.
Kaum hatten sie die Tür hinter ihm geschlossen, durchzuckte ein Blitz den dunklen Himmel und kurz darauf folgte lautes Donnergrollen. Ein starker Windzug zerrte an Jessicas Haaren und die ersten Regentropfen landeten auf ihrem Kopf.
„Wir sollten uns schleunigst auf den Weg machen", sagte Plattenberg.
Sie konnten sich geraden noch schnell genug ins Auto retten, bevor über ihnen die Hölle losbrach.
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