14. Der Schöne und das Biest

Vanessa lag in einem Krankenhausbett der Uniklinik Münster, starrte an die weiße Decke und langweilte sich fürchterlich. Seit man die Platzwunde an ihrer Stirn genäht und ein hässliches, riesiges Pflaster draufgeklebt hatte, war bereits einige Zeit vergangen. Ihre Kopfschmerzen waren deutlich schwächer geworden, was möglicherweise aber nur an den Schmerzmitteln lag, die man ihr gegeben hatte. Nicht einmal fernsehen oder lesen durfte sie wegen dieser blöden Gehirnerschütterung. Das hatte ihr der junge, überarbeitete Arzt, der an diesem Sonntag allein für drei Stationen zuständig war, strengstens verboten. Außerdem hatte sie Hunger. Das Mittagessen hatte sie natürlich verpasst und als Abendessen hatte man ihr nur einen Gurkensalat in Aussicht gestellt. Als ob man davon satt werden konnte!

Sie schielte zu ihrer Zimmernachbarin herüber, einer jungen Frau, die sich mit eingegipstem Bein von einem komplizierten Bruch erholte. Sie war die meiste Zeit über damit beschäftigt, mit Kopfhörern Musik zu hören und sprach anscheinend nicht mehr als fünf Wörter am Tag. Allerdings hatte Vanessa sowieso keine große Lust, sich mit ihr zu unterhalten. Sie wollte einfach nur nach Hause, wo es nicht nach Desinfektionsmitteln und fremden Ausdünstungen roch und sich in ihr eigenes, weiches Bett verkriechen. Aber der Arzt wollte sie unbedingt über Nacht da behalten, falls sich ihr Zustand doch noch verschlechtern sollte. Konnte es überhaupt noch schlimmer werden? Wie sollte sie mit ihrer großen Story weiterkommen, wenn sie nichtsnutzig im Krankenhaus lag?

Ihr fiel ein, dass sie Dietmar noch anrufen und ihm von ihrer Misere berichten musste. Er würde sicher nicht erfreut darüber sein und es sich noch einmal gut überlegen, ob er sie weiter an der Sache mit der Schlosspark-Leiche dranbleiben ließ. Und ob er sie überhaupt noch weiter beim Münsterschen Anzeigenblatt beschäftigen wollte.

Seufzend drehte sich Vanessa auf die Seite und blickte durch einen kleinen Spalt im Vorhang aus dem Fenster. Die Wolken waren inzwischen deutlich dichter geworden und ließen das Sonnenlicht nebelig-dunstig wirken, doch es war immer noch unerträglich heiß und sie schwitzte, obwohl sie nur ein dünnes, ärmelloses Top und eine kurze Stoffhose trug.

Glücklicherweise hatte ihre ältere Schwester Sylvia, die sie nach ihrer Ankunft in der Klinik angerufen hatte, ihr ein paar Sachen vorbeigebracht. Die grässlichen Krankenhausklamotten wollte sie unter keinen Umständen anziehen. Dabei hatte ihre Schwester es sich natürlich nicht nehmen lassen, Vanessa Vorhaltungen zu machen, wie dumm ihre Aktion gewesen war und wie sie sich überhaupt immer wieder durch ihre unüberlegten Unternehmungen in Schwierigkeiten brachte. Na klar, die perfekte Sylvia, die als Wirtschaftsprüferin die meiste Zeit auf ihren vier Buchstaben saß und irgendwelche Gutachten erstellte, die einen perfekten Zahnarzt als Mann und zwei perfekte Kinder hatte, machte natürlich nie etwas falsch. Das Blöde war nur, dass sie leider recht hatte. Vanessa ärgerte sich ja selbst über ihre Unachtsamkeit. Man hatte sie ausgetrickst wie eine dumme Anfängerin. Wenigstens konnte sie Sylvia davon überzeugen, ihren Eltern nichts zu sagen, denn die hielten ebenfalls nicht viel von ihrem Beruf und hätten es lieber gehabt, wenn sie Sekretärin oder Versicherungskauffrau oder sonst irgendetwas Langweiliges geworden wäre.

Ein leises Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken.

„Ja?", rief sie genervt.

Ihre Zimmergenossin bekam unter ihren Kopfhörern sowieso nichts mit und reagierte dementsprechend nicht. Vielleicht kam jetzt der angekündigte Gurkensalat?

Sie drehte sich um und erblickte das hübsche Sonnyboy-Antlitz ihres früheren Mitschülers Thorsten, der plötzlich in der Tür stand.

Das Treffen mit ihm! Das hatte sie in dem ganzen Trubel völlig vergessen.

„Hallo Vanessa."

Er lächelte sie verlegen an. Über seinem hellblauen Uniformhemd trug er eine schwarze Motorradjacke und in der Hand hielt er einen Helm. Vanessa konnte sich nicht mehr dran erinnern, ob Thorsten bereits in der Abschlussklasse schon Motorrad gefahren war, aber es machte ihn in ihren Augen nur noch attraktiver.

„Hey, Thorsten!" Sie setzte sich schnell in ihrem Bett auf, wobei ihr schon wieder leicht schwindelig wurde. „Tut mir leid! Ich hatte ganz vergessen, dir abzusagen."

„Schon gut. Du kannst ja nichts dafür." Er kam ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich und trat zögernd zu ihr ans Bett.

Die andere Frau sah ihm mit deutlichem Interesse hinterher. Man konnte es ihr nicht verübeln, denn er sah wirklich verdammt gut aus mit seiner athletischen Statur, den blonden Haaren und den strahlend blauen Augen.

„Wie geht es dir?", fragte Thorsten besorgt.

„Schon viel besser!", behauptete Vanessa. „Woher weißt du, dass ich hier bin?"

„Ich habe über Funk mitbekommen, dass es in der versiegelten Wohnung von dieser toten Frau aus dem Schlossgraben irgendeinen Tumult gab und dabei jemand niedergeschlagen wurde. Als ich erfuhr, dass du das warst, bin ich nach Schichtende sofort hierher gekommen. Was hast du dort überhaupt gemacht?"

„Ach, das ist eine lange Geschichte!" Sie bemerkte, wie die Kopfhörer-Trulla vom Nachbarbett neugierig zu ihnen herüber glotzte. Wahrscheinlich hatte sie heimlich die Musik ausgemacht und belauschte sie nun.

„Weißt du was, Thorsten? Lass uns von hier verschwinden. Dann erzähle ich dir alles." Sie rutschte vom Bett und begann ihre Sachen zurück in ihren pinken Rucksack zu stopfen, den Sylvia ihr gebracht hatte.

„Aber... musst du denn nicht hier bleiben?" Verwirrt schaute Thorsten ihr beim Packen zu. „Du bist doch verletzt!"

„Ich muss gar nichts. Ich kann mich auch einfach selbst entlassen." Sie streifte sich eine leichte Bluse über – in ihrem dünnen Pyjamatop auf der Straße herumzulaufen, war ihr doch etwas peinlich – und zog sich ihre rosafarbenen Nikes an. „Ist auf deinem Motorrad noch Platz für einen Beifahrer?"

Ihr Beetle stand natürlich immer noch im Kreuzviertel vor dem Haus, in dem die tote Amelie Winter gewohnt hatte.

„Ja, klar. Ich habe sogar einen zweiten Helm dabei, weil ich heute morgen meinen Kollegen mitgenommen habe."

„Prima, dann können wir ja los!"

Vanessa packte den immer noch skeptisch dreinschauenden Thorsten am Arm und zog ihn mit sich aus dem Zimmer.

Im Flur stießen sie beinahe mit einer mürrisch dreinblickenden Krankenschwester zusammen.

„Hey, wo wollen Sie denn hin?", blaffte sie sie mit leichtem, osteuropäischen Akzent an.

„Nach Hause!"

„Aber das können Sie nicht einfach so! Da müssen wir den Herrn Doktor fragen."

„Müssen wir nicht. Mir geht's gut und ich kann gehen, wohin ich will", entgegnete Vanessa, schob Thorsten in den offenen Aufzug, trat selbst hinein und drückte schnell den Knopf für das Erdgeschoss.

„Und die Entlassungspapiere?"

„Die hole ich morgen ab."

Bevor die Krankenschwester weiter widersprechen konnte, schlossen sich die Aufzugtüren endlich.

Wenig später waren sie draußen und liefen zum Besucherparkplatz der Klinik. Thorsten hatte Vanessa ihren Rucksack abgenommen, obwohl er gar nicht so schwer war. Diese fürsorgliche Geste rührte sie irgendwie und sie kam sich ein bisschen gemein vor, weil sie ihn früher so abwertend behandelt hatte und ihn jetzt nur für ihre eigenen Zwecke benutzen wollte.

Vor einem schwarz-blauen YAMAHA blieb Thorsten schließlich stehen.

„Fühlst du dich denn fit genug, um damit zu fahren?", fragte er.

„Na klar, ich liege ja nicht im Sterben", winkte Vanessa ab.

Er zog seine Jacke aus und hielt sie ihr hin. „Zieh du sie an."

„Ist es denn nicht zu warm?"

„Während der Fahrt wird es ziemlich windig. Und in erster Linie hat die Jacke eine Schutzfunktion."

Sie nahm ihm die Jacke ab und zog sie an. Sie war viel zu groß, besonders an den Schultern, aber es ging.

„Den Rucksack musst du leider anziehen. Er passt wohl nicht in das Gepäckfach."

„Das macht nichts."

Er half ihr, den Rucksack anzuziehen, holte den zweiten Helm aus dem Gepäckfach hinten und half ihr auch, den Helm vorsichtig über ihren Kopf zu stülpen, ohne dabei das Pflaster auf ihrer Stirn zu beschädigen. Dann zog er seinen eigenen Helm an und setzte sich auf das Motorrad. Vanessa kletterte hinter ihm auf den Sitz und schlang ihre Arme um seinen Oberkörper. Sie konnte seine harten Muskeln durch den Stoff der Uniform spüren und ein leichtes Kribbeln durchfuhr ihren Körper, bei dem sie sich nicht sicher war, ob es nur die Aufregung vor der Fahrt oder etwas anderes war.

„Halt dich gut fest!", rief Thorsten ihr zu und sie schmiegte sich noch etwas fester an ihn.

Er startete den Motor und sie fuhren los. Obwohl Thorsten Vanessa zuliebe extra vorsichtig fuhr, klammerte sie sich die ganze Zeit ängstlich an ihm fest. Der Fahrtwind zerrte trotz der nicht sehr hohen Geschwindigkeit an ihr. Das Motorradfahren würde wohl nie zu ihren Lieblingsbeschäftigungen werden.

Die Fahrt von der Uniklinik nach Gievenbeck, wo Vanessa eine kleine, gemütliche Zweizimmerwohnung bewohnte, dauerte keine zehn Minuten. Sie atmete erleichtert auf, als sie endlich wieder von der Maschine herunterklettern konnte. Ihre Beine fühlten sich etwas wackelig an und die Kopfschmerzen hatten sich ein bisschen verstärkt.

Zusammen stiegen sie die Treppe in den ersten Stock zu ihrer Wohnung hoch.

„Du kannst ja schon einmal in die Küche gehen, ich komm gleich nach", sagte sie, nachdem sie die Wohnung betreten hatten und zeigte Thorsten die Tür zur Küche.

Selbst eilte sie in ihr Schlafzimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Dort warf sie ihren Rucksack aufs Bett und holte eine geblümte, ärmellose Bluse und eine etwas präsentablere Hose aus ihrem Kleiderschrank. Sie zog sich schnell um und trippelte dann hinüber ins Badezimmer, wo sie sich die Haare kämmte und etwas Lipgloss und Wimperntusche auftrug. Dann schnupperte sie prüfend an ihren Achseln und sprühte vorsichtshalber ein bisschen Parfüm auf ihr Handgelenk. Bevor sie das Badezimmer verließ, warf sie einen Blick in den Spiegel und verzog das Gesicht. Sie sah ziemlich beschissen aus, mit den dunklen Schatten unter ihren Augen und dem Pflaster auf der Stirn, aber im Moment würde da wohl keine Schminke der Welt großartig helfen.

Sich mit ihrem desolaten Aussehen abfindend, ging sie in die Küche, wo Thorsten leicht verloren herumstand und von einem Fuß auf den anderen trat.

„Setzt dich doch und fühl dich wie zuhause", forderte sie ihn lächelnd auf. „Willst du etwas trinken? Eine Cola vielleicht?" Ein alkoholisches Getränk bot sie ihm gar nicht erst an, denn er war schließlich mit dem Motorrad unterwegs und auch noch Polizist. Und sie selbst konnte in ihrem jetzigen Zustand und mit Tabletten vollgedröhnt sowieso keinen Alkohol trinken.

„Ja, gerne." Er hängte seine Jacke über die Stuhllehne und setzte sich an den Esstisch.

Vanessa holte eine Flasche Cola Zero aus dem Kühlschrank und befüllte zwei Gläser damit, von denen sie eins Thorsten reichte.

„Möchtest du etwas essen? Ich sterbe gleich vor Hunger! Soll ich uns was bestellen?", schlug sie vor.

„Ähm, okay, wenn es dir keine Umstände macht..."

„Nein, nein. Ich bestelle uns einfach Pizza. Welche hättest du gern?"

„Ich würde eine Diavolo nehmen."

Aha, Thorsten mochte es also scharf, ging es ihr durch den Kopf.

Sie holte ihr schnurloses Telefon aus dem Wohnzimmer und bestellte bei ihrem Stammitaliener eine Diavolo für Thorsten und eine Frutti Di Mare für sich selbst.

„Dauert etwas", sagte sie, nachdem sie das Telefonat beendet hatte und setzte sich zu ihm an den Küchentisch.

Ein paar Augenblicke lang nippten sie nur verlegen schweigend an ihren Gläsern.

„Wolltest du mir nicht erzählen, was du in der Wohnung von der toten Frau gemacht hast?", fragte Thorsten irgendwann. Da war schon wieder dieses unterschwellige Misstrauen in seiner Stimme. Vermutlich konnte man es als Bulle nie ganz ablegen.

Vanessa seufzte. „Da muss ich etwas weiter ausholen."

„Wir müssen sowieso auf die Pizza warten." Abwartend schaute er sie an und erneut bewunderte sie das intensive Blau seiner Augen.

Sie begann ihre Erzählung mit ihrem grausigen Leichenfund am Samstagmorgen – die Jagd nach dem Schlosspark-Flasher erwähnte sie dabei lieber nicht – erzählte von ihrer Recherche in der Kunstakademie, dem Gespräch mit Amelies Eltern und schloss damit, wie die unbekannte Frau sie in der Wohnung des Mordopfers hinterhältig angegriffen hatte.

„Ich bin Journalistin. Ich sehe es als meine Pflicht, zur Aufklärung dieses schrecklichen Mordfalls beizutragen!", erklärte sie schließlich.

„Aber dabei musst du dich doch nicht derartig in Gefahr begeben! Was, wenn es dich noch schlimmer erwischt hätte?", widersprach Thorsten tadelnd. „Außerdem ist es illegal, eine versiegelte Wohnung zu betreten."

Nicht diese Leier schon wieder! Hatte sie das heute nicht schon einmal gehört?

„Kann man da nichts machen?"

„Wobei jetzt?"

„Dieser Typ von der Kripo, dieser Plattenberg, meinte, ich würde eine Anzeige kriegen, weil ich in die Wohnung reingegangen bin. Kann man das nicht irgendwie verhindern?"

„Na ja, da solltest du lieber einen Anwalt fragen. Vielleicht lässt die Staatsanwaltschaft die Anzeige auch einfach fallen, weil das zu geringfügig ist. Die haben bestimmt keine große Lust auf unnötige Arbeit."

So wie es aussieht, haben die überhaupt keine Lust auf Arbeit. Die sollten lieber schleunigst die Tussi finden, die ihr eine übergebraten hatte. Was natürlich nicht bedeutete, dass sie selbst nicht ebenfalls nach ihr suchen würde. Nun galt es aber erst einmal ihr Vorhaben, Thorsten als Informanten für sich zu gewinnen, voranzubringen.

„Kennst du den eigentlich?", fragte sie neugierig.

„Wen?"

„Plattenberg."

„Nicht persönlich. Nur vom Hörensagen", gab er widerwillig zu.

„Und was sagt und hört man so über den?"

Thorsten zuckte mit den Schultern. „Soll ein ziemliches Arschloch sein."

Ach, nee! Erzähl mir lieber mal was Neues!

„Es geht das Gerücht um, dass der von Düsseldorf hierher strafversetzt wurde", fügte er dann aber noch hinzu.

Sofort horchte Vanessa auf. „Was heißt das?", wollte sie wissen und lehnte sich interessiert vor. „Ist das schlimm? Was muss man anstellen, um strafversetzt zu werden?"

„Keine Ahnung", druckste Thorsten herum. „Gegen Dienstvorschriften verstoßen, vielleicht. Oder richtig Stress mit dem Vorgesetzten haben."

Enttäuscht lehnte Vanessa sich wieder zurück. Sie hatte schlimmeres erwartet und sich bereits schon irgendwelche Korruptionsskandale oder etwas Ähnliches vorgestellt.

„Aber wie gesagt, es ist nur ein Gerücht. Vielleicht stimmt das auch gar nicht", ruderte Thorsten zurück.

Na, klar! Wieso sollte jemand – jemand, der über deutlich bessere, kognitive Fähigkeiten als Thorsten verfügte – freiwillig aus der Landeshauptstadt ins beschauliche Münster wechseln? Das war genauso, als wenn man von der WAZ zum Münsterschen Anzeigenblatt wechseln würde.

Sie wartete, dass Thorsten weitersprach, doch er hatte anscheinend nicht vor, seinen Kollegen weiter anzuschwärzen. So war es eben in diesem Verein: Die Bullen hielten immer zusammen, egal, ob nun Arschloch oder nicht.

„Und was ist mit seiner Kollegin?", fragte Vanessa vorsichtig weiter.

Verständnislos schaute Thorsten sie an.

„Na, diese Schillert. Brauner Pferdeschwanz, straffer Hintern, klein, sieht aus wie eine Oberstufenschülerin. Ganz niedlich, eigentlich."

„Ach, so", Thorsten wurde rot und senkte den Blick auf die Tischplatte. „Du meinst Jessica."

„Kennst du sie?"

„Wir sind ein paar mal zusammen auf Streife gegangen, als sie noch in der Ausbildung war. Das war vor etwas mehr als zwei Jahren ungefähr. Sie ist eigentlich ganz okay."

Ganz okay' also...

Für Vanessas Zwecke war es aber sehr gut, dass Thorsten die Kommissarin kannte und sie offenbar sympathisch fand. Das war die Chance, ihn in den inneren Zirkel des Ermittlungsteams einzuschleusen. Ihn auf die kleine, niedliche Jessica anzusetzen, war sowieso die bessere Option, denn bei Plattenberg hatte er nicht den Hauch einer Chance. Der würde ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, mit Haut und Knochen fressen, verdauen und wieder ausscheißen.

„Könntest du dich nicht ein bisschen mit ihr unterhalten?"

„Worüber?"

Mensch, Thorsten! Mit seiner Denkleistung schien es immer noch nicht weit her zu sein. Möglicherweise hatte er aber andere Qualitäten.

„Na, über den Mord an Amelie Winter!"

„Ich weiß nicht..." Unbehaglich knetete er seine Hände. „Eigentlich habe ich damit nichts zu tun. Das ist Sache der Kripo."

„Arbeitet ihr denn nicht mit denen zusammen?"

„Na ja, doch, manchmal. Wenn wir für die jemanden festnehmen sollen oder bei Hausdurchsuchungen, da sind wir auch manchmal dabei. Und wenn es brenzlig wird, rufen die auch meistens uns herbei. Die Ermittlungsarbeit führen die aber meistens selber durch."

Das Geräusch der Türklingel unterbrach ihr Gespräch. Die Pizza war da.

Thorsten bestand darauf, beide Pizzen zu bezahlen und Vanessa ließ ihn gewähren. Sie beschloss, ihn nicht weiter so stark unter Druck zu setzen und so unterhielten sie sich beim Essen über ihre gemeinsame Schulzeit, schwelgten ein bisschen in Erinnerungen und dachten an die guten alten, unbeschwerten Zeiten zurück, als alles noch viel schöner und einfacher war.

Erst als die Pizzen schon längst verputzt waren und ihnen langsam die gemeinsamen Erinnerungen ausgingen, kam Vanessa wieder auf ihr eigentliches Anliegen zurück.

„Könntest du dich denn nicht doch ein bisschen für mich umhören und mit dieser Jessica sprechen?", fragte sie und machte einen – wie sie hoffte – verführerischen Augenaufschlag. „Schau mal, ich bin doch jetzt selbst auch irgendwie in den Fall verwickelt und muss einfach wissen, was da los ist, verstehst du?"

„Vanessa, ich..."

Bitte, Thorsten!", fiel sie ihm ins Wort, legte ihre Hand auf seine und strich sanft mit dem Daumen über seinen Handrücken. „Tu es für mich." Eindringlich sah sie ihn an und ließ ihre Hand weiter seinen Arm entlang wandern, strich ganz zart mit den Fingern über die blonden Härchen darauf.

Thorstens Gesicht lief erneut tomatenrot an und er holte tief Luft.

„Okay, vielleicht rede ich mit ihr", stieß er hervor und schob ihre Hand langsam von seinem Arm. „Ich muss jetzt gehen. Es war ein langer Tag und du musst dich sicher ausruhen." Hastig stand er auf, wobei er mit dem Knie ungeschickt gegen den Tisch stieß und nahm seine Motorradjacke von der Stuhllehne.

Vanessa stand ebenfalls auf und begleitete ihn zur Tür. Unter anderen Umständen hätte sie ihn möglicherweise eingeladen, über Nacht zu bleiben, doch die Wirkung der Schmerzmittel hatte bereits merklich nachgelassen und der pulsierende Schmerz in ihrem Schädel kehrte wieder zurück. Somit war an eine heiße Liebesnacht nicht mehr zu denken.

„Danke, dass du ins Krankenhaus gekommen bist und mich nach Hause gebracht hast", sagte sie, als er bereits schon in der Tür stand.

„Kein Problem."

„Hoffentlich sehen wir uns bald wieder."

„Ja, das hoffe ich auch."

Sie schauten einander an. Vanessa wartete darauf, dass er noch etwas sagte oder sie zum Abschied vielleicht sogar küsste. Obwohl, nach der Pizza vielleicht lieber doch nicht...

Er tat aber sowieso nichts dergleichen, sondern lächelte nur schüchtern, drückte kurz ihre Hand, wandte sich um und lief schnell die Treppe hinunter.


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