13. Beste Freundin oder Feindin?
„Unser Picasso für Arme hat ganz schön ein Auge auf Sie geworfen", stellte Plattenberg überflüssigerweise fest, als sie sich auf dem Rückweg zum Auto zwischen den Spaziergängern auf der Hafenpromenade hindurchschlängelten.
Der spitze Unterton in seiner Stimme entging Jessica dabei nicht und sie fragte sich, was das wohl nun schon wieder sollte. Konnte sie denn etwas dafür, dass Rothendorff sich so unverblümt an sie herangemacht hatte? Oder galt die Missbilligung doch eher ihm und nicht ihr?
„Hören Sie mir bloß auf mit dem", murmelte sie missmutig.
„Wieso? Er ist berühmt, wohlhabend, sieht gut aus und könnte jeden Tag ein Porträt von Ihnen zeichnen. Der Traum einer jeden Frau!"
„Woher wollen Sie das denn wissen? Sie sind doch gar keine Frau, oder habe ich was verpasst?"
„Wenn ich das nächste mal auf der Toilette bin, schaue ich für Sie nach, ob noch alles dran ist."
„Sie sind genauso ein Ekelpaket wie dieser Rothendorff!" Wütend klatschte sie ihm die Zeichnung, die sie immer noch in der Hand hielt, vor die Brust. „Sein blödes Bild können Sie auch gern behalten."
„Oh, danke. Das hänge ich mir zuhause an die Wand. Oder lieber bei uns im Büro?"
Sie riss ihm die Zeichnung wieder aus der Hand.
„Das Bild aus Amelies Wohnung ist nicht von ihm", sagte sie, um endlich wieder auf ihre eigentliche Arbeit zurückzukommen.
„Der Meinung bin ich auch. Der andere Zeichner ist besser."
„Und das Motiv mit der nackten Amelie ist natürlich auch viel besser", bemerkte Jessica spöttisch.
„Das würde ich so nicht sagen."
Sie tat so, als hätte sie das nicht gehört und hoffte, dass sie nicht schon wieder rot anlief.
„Ich glaube, dass Rothendorff lügt", fuhr sie schnell fort. „Und zwar nicht nur, was seinen Aufenthaltsort zur Tatzeit angeht, sondern auch sein Wissen über Amelies Schwangerschaft. Ich hatte den Eindruck, dass er es sehr wohl wusste."
„Auch da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Außerdem bin ich gespannt, was Eleonore Rothendorff uns zu erzählen hat, wenn sie morgen aus Siegen wiederkommt."
„Falls sie überhaupt wiederkommt."
„Falls nicht, werden wir schon dafür sorgen, dass sie wiederkommt", meinte Plattenberg zuversichtlich und öffnete die Fahrertür seines Wagens, bei dem sie mittlerweile angekommen waren.
Der Innenraum roch nach Pommes, Ketchup, Mayonnaise und Red Bull.
„Wollten Sie das nicht entsorgen?", fragte Plattenberg vorwurfsvoll und deutete auf den immer noch auf dem Armaturenbrett stehenden Pappteller. „Der Wagen ist schließlich keine Sondermülldeponie."
„Ich mach's ja schon!", brummte Jessica genervt, faltete den Pappteller zusammen und schmiss ihn in einen Mülleimer in der Nähe. Das Red Bull behielt sie vorerst.
Zurück im Wagen legte sie Rothendorffs Zeichnung neben die Dose auf das Armaturenbrett. Die Vorstellung, dass das Bild als Beweisstück in der Akte landen und jeder, der darin las, es sehen würde, behagte ihr nicht besonders. Vielleicht konnte sie das irgendwie verhindern.
Plattenberg holte sein Handy heraus und wählte eine Nummer. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich am anderen Ende jemand meldete.
„Na endlich! Ich habe es mindestens zehntausend Mal klingeln lassen... Ja, ich habe genau mitgezählt. Wo ist Herr Hofkamp?... So genau wollte ich es nun auch nicht wissen... Sind Sie inzwischen mit dem Handy und dem Laptop des Opfers weitergekommen?... Sie sind ständig überlastet, das ist ein Dauerzustand bei Ihnen... Das könnte daran liegen, dass Ihre Kollegen sich viel mehr für die Fernsehübertragungen unsinniger Ballsportarten als für ihre Arbeit interessieren... Wie gut, dass wir nie überlastet sind und Ihnen schon die Hälfte Ihrer Arbeit abgenommen haben. Hören Sie mir gut zu: Suchen Sie in den Kontakten und Nachrichtenverläufen von Amelie Winter nach einem gewissen Jan. Ich brauche seinen vollständigen Namen, seine Meldeadresse, sämtliche Telefonnummern, KFZ-Kennzeichen – falls vorhanden – und alles, was Sie sonst noch über ihn herauskriegen können. Ein Bild von dem Mann hätte ich auch gerne, und das heute noch! Alles andere darf dabei natürlich ebenfalls nicht zu kurz kommen, das können Sie Herrn Hofkamp genauso ausrichten, sobald er wieder vom Stillen Örtchen zurückgekehrt ist." Er beendete das Gespräch, ohne sich zu verabschieden und packte das Handy weg. Dann startete er den Motor und fuhr los.
„Wo fahren wir hin?", fragte Jessica und trank ein paar Schlucke aus der Dose. Das Red Bull war mittlerweile eklig warm geworden, doch da sie gerade nichts anderes zur Hand hatte, musste sie sich damit zufrieden geben.
„Zu Lara Hoenig. Wenn sie sich nicht bei uns meldet, melden wir uns eben bei ihr."
„Es sei denn, sie ist gar nicht zuhause und versteckt sich weiterhin in Holland."
„Das werden wir gleich feststellen."
Lara Hoenig wohnte ebenfalls im Kreuzviertel, allerdings in einem nicht ganz so gepflegten und vermutlich auch nicht ganz so teuren Mietshaus wie ihre verstorbene Cousine.
„Das da ist ihr Wagen", sagte Jessica, nachdem sie ausgestiegen waren und deutete auf einen leicht zerbeulten, dunkelgrünen, alten Ford, der an der Straßenecke parkte und so aussah, als hätte er schon lange Zeit keine Waschanlage mehr von innen gesehen.
Glücklicherweise stand die Haustür bereits offen. Auf dem Bürgersteig davor spielten drei Mädchen im Grundschulalter Gummitwist. Als Jessica und Plattenberg an ihnen vorbeigingen, hielten sie mitten im Spiel inne und starrten ihnen nach, bis sie im Haus waren. Unwillkürlich musste Jessica an die Teufelsbrut aus den Omen-Filmen denken.
Das Treppenhaus war trotz der offenen Haustür unerträglich stickig und es stank nach angebranntem Fisch. Im zweiten Stock fanden sie die richtige Wohnungstür. Davor lag eine abgewetzte Fußmatte und die Holztür selbst war mit zahlreichen Kratzern übersät. Jemand hatte handschriftlich L. Hoenig auf einen Zettel gekritzelt und diesen mit Tesafilm neben die Türklingel geklebt.
Kaum hatten sie geklingelt, ertönte aus dem inneren der Wohnung lautes Hundegebell und das Tappen von Hundepfoten.
„Nicht schon wieder!", stöhnte Plattenberg unwillig.
„Sie sind wohl kein Hundemensch, was?"
„Ich bin eher ein ‚lieber-überhaupt-keine-Pelzviecher-im-Haus-Mensch'."
Warum wunderte sie das nicht?
„Aus! Sei still jetzt!", hörte man hinter der Tür eine gedämpfte Frauenstimme zischen.
„Frau Hoenig?" Energisch klopfte Plattenberg an die Tür. „Wir wissen, dass Sie da sind. Sie und Ihr pelziger Freund sind nicht zu überhören."
„Wer sind Sie?", wollte die Stimme hinter der Tür wissen.
„Hauptkommissar Plattenberg von der Kriminalpolizei. Wir hatten gestern kurz telefoniert, erinnern Sie sich?"
Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet. Sofort schob sich ein großer, zotteliger, graubrauner Hundekopf durch den Türspalt und der dazugehörige, massige Hundekörper versuchte sich ebenfalls nach draußen zu quetschen, wurde aber wieder zurück in die Wohnung gezogen.
„Nein, Gulliver, du bleibst hier! Sitz!"
Der Hundekopf verschwand wieder. Jessica stellte fest, dass die Türkette vorgelegt war. Ein braunes Auge blinzelte sie durch den Türspalt misstrauisch an.
„Haben Sie einen Ausweis?"
Warum zum Teufel war die Frau so misstrauisch?
Plattenberg hielt seinen Ausweis vor den Türspalt. „Bei mir ist außerdem noch meine Kollegin, Frau Schillert. Wir hatten Sie eigentlich heute schon früher in unseren heiligen Hallen erwartet. Warum verstecken Sie sich?"
„Ich verstecke mich nicht! Ich bin gerade erst angekommen. Es war Stau auf der Autobahn. Ein Unfall." Die Ausrede hörte sich wenig überzeugend an.
„Könnten wir vielleicht eintreten?"
„Warten Sie kurz."
Lara Hoenig entfernte die Türkette und machte die Tür ganz auf. Augenblicklich sprang der riesenhafte Hund, der neben ihr saß, auf und eilte laut hechelnd und schwanzwedelnd auf sie zu. Er stupste Jessica mit seiner feuchten Nase an und sie kraulte seinen weichen Wuschelkopf. Er freute sich sichtlich über die Streicheleinheiten und ließ die lange, rosafarbene Zunge heraushängen, von der ein bisschen Sabber auf den Boden tropfte. Plattenberg verzog angewidert das Gesicht. Als der Hund sich von Jessica abwandte und sich an die hellbeigen Hosenbeine seiner Anzughose schmiegte, war es mit seiner Geduld endgültig vorbei. Er versuchte, das Tier wegzuschieben, dieses ließ sich aber nicht so einfach abwimmeln.
„Entschuldigen Sie, Frau Hoenig, aber könnten Sie Ihrem Pony bitte sagen, dass es nicht sein halbes Fellkleid auf meiner Kleidung hinterlassen soll?"
Lara packte ihren Hund am Halsband und zog ihn von Plattenberg weg. „Eigentlich ist Gulliver ein Hund und kein Pony", erwiderte sie trocken.
„Verzeihen Sie mir meine Verfehlung."
Lara warf ihm einen nicht besonders freundlichen Blick zu. „Lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen."
Sie drehte sich um und ging zusammen mit Gulliver voraus. Sie folgten ihr, vorbei an einem großen, vollgepackten Reiserucksack, der achtlos hingeworfen in der Diele auf dem Boden lag. Also schien sie tatsächlich kürzlich erst unterwegs gewesen zu sein, ob sie aber wirklich gerade erst heimgekommen war, war eine andere Frage. Oder hatte sie den Rucksack bereits für ihre nächste Reise gepackt? Womöglich ihre Fluchtreise?
„Platz, Gulliver!", befahl Lara, als sie im Wohnzimmer angekommen waren. Gehorsam sprang Gulliver in seinen überdimensionierten Hundekorb und rollte sich darin zusammen.
„Setzen Sie sich doch." Sie deutete auf das grüne, etwas abgenutzt wirkende Sofa.
„Danke, aber ich bleibe lieber stehen", winkte Plattenberg ab. Die Hundehaare auf dem Sofabezug waren seinem wachsamen Blick natürlich nicht entgangen. Jessica blieb ebenfalls stehen.
Schulterzuckend zupfte Lara ihren hellen Jeansrock zurecht und ließ sich auf das Sofa sinken. Tatsächlich sah sie Amelie nicht besonders ähnlich, bis auf die Sommersprossen, die ihren Nasenrücken und ihre Wangen sprenkelten. Ihr langes, dunkelblondes Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, der nach vorne über ihre Schulter hing. In ihrer Nase trug sie ein Septum-Piercing und an ihren Ohrläppchen hingen Ohrringe, die aus bunten Federn bestanden und selbstgemacht wirkten. Jessica fand, dass sie etwas von einem Hippie an sich hatte und die Einrichtung ihres Wohnzimmers bekräftigte diesen Eindruck. Auf dem Boden lag ein kunterbunter Teppich, der an den Rändern anscheinend bereits Gullivers Zähnen zum Opfer gefallen war. Die Möbel passten überhaupt nicht zueinander und wirkten, als kämen sie allesamt vom Flohmarkt und überall standen Pflanzen, sodass man sich wie in einem Blumenladen vorkam. Im Regal stand eine ganze Reihe verschieden großer Skulpturen, die irgendwelche Fantasiewesen darstellten. Lara schien keine Malerin, sondern Bildhauerin zu sein.
„Laut Ihrer Tante standen Sie und Amelie sich sehr nahe. Stimmt das?", fragte Plattenberg in einem etwas versöhnlicheren Ton als gerade noch.
Lara nickte zustimmend und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Ein buntes, offenbar selbstgeflochtenes Armband zierte ihr Handgelenk. Dafür, dass sie am Vortag erst von dem gewaltsamen Tod ihrer Cousine erfahren hatte, wirkte sie erstaunlich gefasst.
„Sie haben sogar das selbe Tattoo wie Amelie", bemerkte Jessica. Da Lara ein ärmelloses, khakifarbenes Top trug, hatte sie den Kolibri auf ihrem Oberarm sofort gesehen.
„Ja, es ist so eine Art Freundschaftszeichen. Wir haben es uns beide gleichzeitig stechen lassen. Ein Freund von mir hat es gemacht. Amelie war damals noch nicht volljährig und hätte im Studio das Einverständnis ihrer Mutter gebraucht."
„War Amelies Mutter dagegen? Sie wirkt gar nicht so streng."
„Wiebke hätte es wohl erlaubt. Aber Oliver, Amelies Stiefvater, der hat sich wieder einmal eingemischt und dann war sie auch dagegen."
Aha. Oliver Lorenz schien tatsächlich seine Differenzen mit Amelie gehabt zu haben.
„War das schlechte Verhältnis zwischen Amelie und ihrem Stiefvater der Grund, wieso sie so schnell von zuhause ausgezogen ist?"
Lara nickte abermals. „Sobald Amelie und Wiebke bei ihm eingezogen sind, hat er sofort auf strengen Vater gemacht. Hat ständig an Amelie herumgemäkelt, an ihrer Kleidung, an ihren Schulnoten, an ihren Freunden. Hat sie blöd angemacht, wenn sie ausging und spät nach Hause kam. Als würden wir im 19. Jahrhundert leben! Aber das war ja noch nicht alles..." Sie senkte den Blick und fummelte an dem Bändchen an ihrem Handgelenk herum.
„Was hat er noch gemacht?"
„Er... Amelie hat es mir erst später erzählt. Es war, als sie noch dort gewohnt hatte. An Silvester. Oliver war betrunken und als sie nur zu zweit in der Küche waren, da... hat er versucht, Amelie zu küssen. Nicht nur auf die Wange oder so... Er hat versucht, sie richtig zu küssen, Sie wissen schon..."
Jessica spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. War Oliver Lorenz am Ende nicht nur ein spießiger Dauernörgler, sondern noch viel, viel schlimmer?
„Ist er noch weiter gegangen?", fragte Plattenberg. „Amelie war schwanger. Womöglich von ihrem Stiefvater?"
Entsetzt starrte Lara ihn an. „Nein! Das kann nicht sein! Das hätte sie mir doch erzählt!"
„Nicht unbedingt. Das mit dem Kuss hat sie Ihnen schließlich auch erst später erzählt."
Lara schüttelte nur ungläubig den Kopf. „Ich hätte trotzdem was gemerkt! Amelie ist... war ein fröhlicher Mensch. Es wäre mir sofort aufgefallen, dass da etwas nicht stimmt. Ja, sie war nach der Abtreibung etwas niedergeschlagen, aber das ist ja wohl völlig normal. Und sonst war da nichts merkwürdiges an ihrem Verhalten."
„Sie wussten also von der Abtreibung?", hakte Jessica nach.
„Ja, ich hab sie selbst nach Dortmund in die Klinik gefahren und wieder abgeholt."
„Von wem sie schwanger war, hat sie Ihnen aber nicht erzählt?"
Lara zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, sie wusste es selber nicht wirklich."
„Wer kam denn in Frage? Was ist mit Amelies Stiefbruder Sebastian?", fragte Plattenberg weiter.
„Sebastian? Der ist doch erst sechzehn! Amelie hätte nie mit ihm..." Sie beendete den Satz nicht und schüttelte energisch den Kopf. „Er ist doch noch fast... ein Kind!"
„Auch Sechzehnjährige können bereits Kinder zeugen. Wir hatten den Eindruck, dass Sebastian mehr in Amelie gesehen hat, als nur eine große Schwester."
Lara ließ von ihrem Armband ab und seufzte schwer. „Ich will eigentlich nicht schlecht über Sebastian reden, aber ja, es stimmt. Er ist komisch. Seine Mutter ist an Krebs gestorben, als er noch ganz jung war. Vielleicht hat er deshalb einen Dachschaden."
War in dieser Familie eigentlich überhaupt jemand normal?, ging es Jessica durch den Kopf.
„Wie hat sich dieser Dachschaden bemerkbar gemacht?"
„Er hat von Anfang an an Amelie geklebt wie eine Klette. Zuerst fand sie es ja noch ganz süß. Vielleicht hat er in ihr eine Art Mutterersatz gesehen, oder so. Wiebke hat nicht so wirklich einen Draht zu ihm finden können, obwohl sie sich echt Mühe gegeben hat. Als Amelie ausgezogen ist, ist er nach der Schule anstatt nach Hause immer zu ihr gekommen. Sie hat mit ihm Hausaufgaben gemacht, ist mit ihm ins Kino gegangen oder ins Schwimmbad und so. Halt so Sachen, die große Schwestern machen. Aber als er älter wurde, da veränderte Sebastians Verhalten sich. Er fing an, ihr Liebesbriefe zu schreiben, irgendwelche Gedichte, die er wahrscheinlich aus seinen Schulbüchern abgeschrieben hatte. Oder ihr irgendwelche Sachen zu schenken, Schokolade, billigen Modeschmuck und so. Auch das fand Amelie am Anfang noch ganz süß, aber dann wurde es immer schlimmer." Sie verstummte und räusperte sich. „Kann ich mir etwas zu trinken holen?"
„Selbstverständlich. Sie sind hier zuhause."
„Wollen Sie auch was?"
Sie verneinten beide. Lara stand auf und verließ das Zimmer.
„Oliver und Sebastian Lorenz sind also weiterhin im Rennen", meinte Plattenberg leise und betrachtete die merkwürdigen Skulpturen im Regal.
Jessica sagte nichts und beobachtete den friedlich dösenden Gulliver, der leise vor sich hin schnarchte.
„Wussten Sie, dass Hunde bis zu 18 Stunden am Tag schlafen?", fragte sie, ohne wirklich zu wissen, warum sie das eigentlich tat.
„Tatsächlich? Dann scheinen einige unserer Kollegen Hunde zu sein."
Daraufhin musste sie schmunzeln.
Kurz darauf kehrte Lara zurück, mit einem Glas in der Hand, das, dem leichten Pfirsichgeruch nach, mit Eistee oder etwas in der Art gefüllt war.
„Hat Sebastian noch weitere, sonderbare Verhaltensweisen gezeigt?", fuhr Plattenberg mit der Befragung fort, während Lara sich wieder setzte.
„Er hat Amelie ständig angerufen, ihr Nachrichten geschrieben. Ist unangekündigt bei ihr aufgekreuzt, ist ihr sogar heimlich nachgelaufen! Er wurde zu einem richtigen..." Sie stockte.
„Stalker?", half Jessica ihr auf die Sprünge.
„Ja, ja wirklich! Und wenn sie einen Freund hatte, hat er den immer schlecht geredet und versucht, irgendwie dazwischen zu funken. Vor ein paar Monaten, da hat er sich sogar mit ihrem Ex angelegt..."
„Mit Jan?"
„Ja, mit Jan. Das ist auch so einer... Amelie hatte einfach kein Glück mit Männern. Sie geriet immer nur an irgendwelche Idioten."
„Wie heißt dieser Jan mit Nachnamen?"
„Debowski. Er war früher mit uns auf der Uni."
„War?"
„Er ist geflogen. Man hat ihn erwischt, als er auf einer Studentenparty Drogen verkauft hat."
Amelie schien tatsächlich kein Glück in der Liebe zu haben. Konnte Jan Debowski möglicherweise der Zeichner des Aktbildes sein? Vielleicht war der Kringel kein O oder Q, sondern ein D?
„Warum hat er sich mit Sebastian angelegt?"
„Weil Sebastian ihn genervt hat. Jan wollte ja selber noch was von Amelie."
Ein eifersüchtiger Exfreund, ein eifersüchtiger Stiefbruder, die eifersüchtige Frau des Liebhabers. War jemand von ihnen auch der Täter?
„Hätte Amelie auch von ihrem Exfreund schwanger sein können?"
Lara trank einen Schluck und zuckte erneut mit den Schultern.
„Vielleicht. Sie waren zwar schon länger auseinander, aber dann hatten sie doch noch mal was gehabt. Nach einer Party. Sie waren beide betrunken. Amelie hat es hinterher bitter bereut. Jan hat sich nämlich eingebildet, dass das zwischen ihnen doch noch was werden könnte."
„Trauen Sie es ihm zu, Amelie getötet zu haben?"
Lara zögerte, bevor sie antwortete. „Ich weiß nicht. Er ist furchtbar eifersüchtig und schnell auf hundertachtzig. Aber Mord? Ich glaube nicht..."
„Und Sebastian?"
„Warum sollte er Amelie töten? Er war verrückt nach ihr."
„Gerade deshalb."
Amelies Cousine sagte daraufhin nichts mehr.
„Was ist mit André Rothendorff?", fragte Plattenberg plötzlich.
Bei der Erwähnung dieses Namens zuckte Lara so heftig zusammen, als hätte man direkt neben ihrem Ohr einen Luftballon platzen lassen.
„Was soll mit ihm sein?"
„Er hatte ein Verhältnis mit Amelie."
„André hat mit vielen Frauen ein Verhältnis", sagte sie bitter und nahm ein paar weitere Schlucke aus ihrem Glas.
„Ja, zum Beispiel mit Ihnen."
Lara Hoenig senkte den Blick und umklammerte das Glas mit beiden Händen, als würde sie sich daran festhalten wollen. „Und?"
„Für Herrn Rothendorff schien Ihre Beziehung keine große Bedeutung zu haben. Aber was ist mit Ihnen? Sehen Sie das genauso?"
Lara antwortete nicht, doch ihre Hände krampften sich so fest um das Glas, dass sie zitterten.
Ungeachtet der Hundehaare, setzte Plattenberg sich neben sie auf das Sofa.
„Für Sie hatte diese Beziehung sehr wohl eine Bedeutung, nicht wahr? Und dann erfahren Sie, dass Herr Rothendorff gleichzeitig ein Verhältnis mit Ihrer Cousine hat, die Ihre engste Freundin und sogar wie eine Schwester für sie war. Wie hat sich das angefühlt, Frau Hoenig? Musste das nicht eine riesige Enttäuschung gewesen sein?"
„Hören Sie auf!", rief Lara mit tränenerstickter Stimme und sprang auf. Dabei schwappte der Eistee über den Glasrand und ergoss sich auf ihren Rock.
„Scheiße!" Sie knallte das Glas auf den Couchtisch und rieb an dem nassen, hellbraunen Fleck auf dem Jeansstoff herum. Gulliver hob alarmiert den Kopf, sprang aus seinem Korb und kam auf sein Frauchen zugelaufen. Aufmunternd stupste er sie mit der Nase an und leckte den Eistee, der an ihren nackten Beinen herabrann, weg.
„Sie wussten also, dass Amelie ebenfalls ein Verhältnis mit André Rothendorff hatte", stellte Plattenberg fest und stand auch auf. Jessica fand seine Vorgehensweise wie so oft völlig daneben, aber sie zeigte wieder einmal Wirkung.
„Na, und?", fauchte Lara Hoenig und ließ sich wieder auf das Sofa fallen. Ihr Hund legte tröstend seinen Kopf auf ihre Knie und sie fuhr mit den Fingern durch sein strubbeliges Fell.
„Waren Sie deshalb nicht wütend auf Amelie?"
„Amelie konnte nichts dafür! Sie wusste gar nicht, dass ich auch was mit André hatte."
„Woher wollen Sie das wissen?"
„Weil wir darüber gesprochen haben!"
„Und das haben Sie ihr einfach so geglaubt?"
„Ja! Sie hat geglaubt, André würde es ernst mit ihr meinen, dass er ihr mit ihrer Kunst helfen und mit ihr zusammen nach New York gehen würde. Aber er hat sie nur benutzt. Genauso wie mich." Sie schaute nach unten und schniefte. In ihren Augenwinkeln glänzten Tränen.
Das alles bestätigte nur Jessicas Meinung, dass Rothendorff ein mieses Arschloch war.
„War das nicht etwas naiv, im Zusammenhang mit Herrn Rothendorff an die große Liebe zu glauben? Der Mann ist immerhin verheiratet."
„André meinte, mit seiner Frau würde im Bett schon längst nichts mehr laufen. Und auch sonst würden sie einfach nur nebeneinander her leben."
Die typischen Ausreden notorischer Fremdgänger, dachte Jessica grimmig. Amelie und Lara müssten ganz schön blöd gewesen sein, um das wirklich zu glauben. Oder sie waren tatsächlich so verliebt in Rothendorff, dass sie es unbedingt glauben wollten.
„Sie behaupten also, dass Sie überhaupt nicht wütend auf Ihre Cousine waren?", bohrte Plattenberg weiter.
„So ist es auch!"
„Wo waren Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag, Frau Hoenig?"
„Was?" Ungläubig starrte Lara ihn an. „Glauben Sie etwa, ich hätte Amelie getötet?"
„Wenn dem nicht so ist, können Sie doch einfach ganz ruhig meine Frage beantworten."
„Das wissen Sie doch schon! Ich war in Amsterdam."
„Können Sie das irgendwie beweisen? Durch eine Hotelrechnung oder etwas ähnliches?"
„Ich... war gar nicht in einem Hotel! Ich war zelten, am Markermeer, direkt am Seeufer."
„Sie waren ganz allein zelten?"
„Nicht allein, mit Gulliver. Das machen wir oft so. Ich nehme meinen Rucksack, mein Zelt und wir fahren einfach los. Das ist günstig und wir haben unsere Ruhe."
„Somit ist Ihr Hund der einzige, der bezeugen kann, dass Sie zur Tatzeit wirklich in den Niederlanden waren", sagte Plattenberg. „Ein Jammer nur, dass er nicht sprechen kann."
„Versuchen Sie's doch und fragen Sie ihn", entgegnete Lara schnippisch. Sie hob Gullivers Kopf und schaute ihn an. „Na, was sagst du? Waren wir beide zusammen am Markermeer?"
Gulliver bellte und wedelte mit dem Schwanz. „Da, sehen Sie's! Er hat's bestätigt."
„Tut mir leid, aber leider verstehe ich keine Hundesprache und kann das nicht als Alibi gelten lassen", erwiderte Plattenberg unbeeindruckt.
Irritiert schaute Jessica zwischen den beiden hin und her und fragte sich, ob sie noch alle Tassen im Schrank hatten.
„Sie hatten vorhin erwähnt, dass Amelie nach der Abtreibung niedergeschlagen wirkte. Könnte es sein, dass sie den Eingriff nicht freiwillig durchführen ließ, sondern von jemandem dazu gezwungen wurde?", wechselte sie noch einmal das Thema.
Abermals schüttelte Lara den Kopf. „Das glaube ich nicht. Amelie hat das selbst entschieden. Sie wollte keine Kinder, zumindest jetzt noch nicht. Sie war erst 22! Sie wollte nach New York und dort ganz groß als Künstlerin rauskommen. Das war zwar nicht sehr realistisch, aber Amelie glaubte ganz fest an ihren Traum." Sie schob Gullivers Schnauze von ihrem Schoß. „Mit diesem ganzen Schwangerschafts-und Eifersuchtsthema sind Sie sowieso völlig auf dem Holzweg", fügte sie dann kaum hörbar hinzu.
„Wie kommen Sie darauf?"
Zum wiederholten Mal zuckte sie nur mit den Schultern. „Ist nur so ein Gefühl."
„Wenn Sie etwas wissen, dann sagen Sie es uns!", drängte Jessica.
Nervös kratzte Lara sich am Unterarm. „Ich weiß nichts."
Doch die Art, wie sie das sagte und ihre gesamte Körpersprache straften sie Lügen. Was verheimlichte sie? Wusste sie, wer der Täter war und nahm ihn in Schutz oder hatte sie Angst vor ihm? Hatte sie deshalb die Türkette vorgelegt und war so misstrauisch gewesen, als sie geklingelt hatten? Oder war sie gar nicht verreist und hatte ihrer Cousine selbst im Park aufgelauert und sie aus Eifersucht getötet? Oder gab es tatsächlich etwas, was sie überhaupt nicht auf dem Schirm hatten und was nichts mit Amelies turbulentem Liebesleben zu tun hatte?
Ein paar Augenblicke lang hörte man nur Gullivers Hecheln und den Straßenlärm, der durch die offene Balkontür hereinschallte.
„Sind Sie sicher, dass Sie uns nichts mehr mitteilen möchten, Frau Hoenig?", brach Plattenberg schließlich das Schweigen und schaute Lara Hoenig erwartungsvoll an.
Sie wich seinem Blick aus und sah auf ihre nackten Füße herab. „Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß."
Jeder im Raum wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Wahrscheinlich sogar Gulliver.
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