12. Der große Meister

Im Hafen, wo André Rothendorffs Atelier in einem der alten Speicherhäuser am sogenannten Kreativkai lag, wimmelte es nur so von Menschen, die die Hafenpromenade entlang spazierten oder in den dort ansässigen Cafés den Sonntag genossen. Es war immer noch sonnig und heiß, nur hatte sich inzwischen zusätzlich eine unangenehme Schwüle dazugemischt. Das Gewitter schien langsam aber sicher näher zu kommen und Jessica hoffte, dass es danach zumindest so weit abkühlen würde, dass sie in der Nacht endlich durchschlafen konnte.

„Architektonisch kommt das hier an den Medienhafen in Düsseldorf bei Weitem nicht heran", konnte Plattenberg sich die Bemerkung natürlich nicht verkneifen, als sie über die Promenade zum richtigen Gebäude liefen.

„Wer hätte das gedacht. An das wunderschöne Düsseldorf kommen nicht einmal London, Paris oder New York heran."

„Wie schön, dass Sie das auch endlich erkannt haben."

Wenig später waren sie vor dem großen, roten Backsteingebäude angekommen. Eine Metalltreppe, auf der jeder Schritt ein blechernes Geräusch erzeugte, führte zu der schweren Eingangstür aus Stahl. Außer Rothendorffs Atelier beherbergte das ehemalige Speicherhaus die Büroräume einer Medienagentur, einer Anwaltskanzlei und mehrerer anderer Firmen. Auch im Inneren des Gebäudes erzeugten die freiliegenden, an der hohen Decke und an den Wänden verlaufenden Rohre, das stählerne Treppengeländer und die nackten Steinwände einen loftartigen, industriellen Flair.

Rothendorffs Atelier lag laut dem Hinweisschild im Eingangsbereich direkt im Erdgeschoss. In einem rechts abzweigenden Korridor wurden sie schnell fündig.

Atelier André Rothendorff, besagte das schlichte Schild an einer unscheinbaren, dunklen Tür. Jessica wollte anklopfen, doch Plattenberg kam ihr zuvor und drückte einfach die Klinke herunter. Es war nicht abgeschlossen, sodass sie ungehindert eintreten konnten.

Hinter der Tür fanden sie sich in einer relativ großen Halle wieder, in der es ähnlich wie in Amelies kleinem Atelier intensiv nach Farbe roch. An den Wänden hingen einige abstrakte Bilder mit merkwürdig anmutenden Motiven. André Rothendorff schien also nicht nur auf unbekleideten Frauenkörpern, sondern auch auf Leinwänden zu malen. Ein paar Exemplare seines Hauptwerkes waren allerdings auch zu bewundern. Auf einem davon erkannte Jessica Amelies tätowierte Hüfte.

Auf einem langen Tisch an der Wand, der in hoffnungsloser Unordnung versank, standen mehr oder weniger volle Farbbehälter mit allen Farben des Regenbogens. Ein Radio lief, offenbar irgendein Retro-Sender, denn es spielte Don't Stop Me Now von Queen.

Mitten im Raum saß auf einer mit Farbe bekleckerten Plane ein in dunklen Shorts, grauem T-Shirt und Flipflops gekleideter Mann im Schneidersitz und sang etwas schief im Duett mit Freddie Mercury, während er verschiedene Farben in einen Eimer füllte und sie zu einem unschönen Sumpfgrün verrührte. Sofort erkannte Jessica den Mann, den sie auf den Bildern im Internet gesehen und den Sebastian beschrieben hatte. Der große Meister höchstpersönlich.

Lautstark klopfte Plattenberg gegen den Türrahmen.

André Rothendorff war so in das Mischen der Farbe vertieft, dass er erschrocken zusammenzuckte und beinahe den Eimer mit dem scheußlichen Grün umkippte. Er riss den Kopf hoch und sah sie an. Anscheinend kam er aber schnell zu dem Schluss, dass von ihnen keine Gefahr ausging, denn seine Gesichtszüge entspannten sich wieder.

„Oh, hallo!" Er ließ den großen Pinsel, mit dem er in dem Eimer gerührt hatte, los und stand schwungvoll auf. „Ihr seid leider zu früh."

„Zu früh für was?", fragte Jessica verständnislos.

„Na, für den Workshop."

Rothendorff schaute zwischen ihnen hin uns her. An Jessica blieb sein Blick etwas länger haften, als ihr lieb war und seine Augen wanderten ganz ungeniert von oben bis unten an ihrem Körper entlang. Als er bemerkte, dass sie ihn ebenfalls anstarrte, lächelte er ihr zu.

„Welche Art von Workshop ist das denn?", wollte Plattenberg mit vorgetäuschtem Interesse wissen. „Wird dabei auch jemand so schön angestrichen wie bei Ihren Meisterwerken?"

„Je nachdem, wer sich freiwillig meldet", meinte Rothendorff und zwinkerte Jessica vielsagend zu.

Oh, Gott! Der Typ war noch schlimmer, als sie angenommen hatte.

„Er hier meldet sich freiwillig", sagte sie und deutete auf ihren Kollegen.

„Ich? Nein, nein, dafür bin ich viel zu schüchtern!", winkte dieser ab.

Der und schüchtern, dass ich nicht lache!

„Außerdem bin ich von Natur aus schon Kunstwerk genug", fügte er noch ganz bescheiden hinzu.

„Eigentlich ziehe ich sowieso Frauen vor", bemerkte Rohtendorff befremdet.

„Das überrascht mich nicht, Herr Rothendorff. Zumal bei Ihrer Art von Kunst der Entstehungsprozess – oder besser gesagt: das Drum und Dran – ohnehin viel wichtiger ist, als das Endergebnis, nicht wahr?"

Irritiert fuhr Rothendorff sich durch das dunkelbraune, leicht zerzauste Haar. „Kann es sein, dass Sie gar nicht wegen des Workshops hier sind?"

„Das kann sogar sehr gut sein. Wir sind nämlich von der Kriminalpolizei."

Sie zeigten dem Künstler ihre Dienstausweise und er betrachtete diese etwas überrumpelt. Doch er fing sich auch diesmal relativ schnell wieder.

„Ich wusste gar nicht, dass bei der Polizei so hübsche Menschen arbeiten." Er sah von ihrem Ausweis hoch zu Jessica und schenkte ihr erneut ein charmantes Lächeln.

„Oh, vielen Dank", sagte Plattenberg, obwohl das Kompliment ganz offensichtlich nicht für ihn bestimmt war.

Rothendorff seufzte sichtlich genervt, ging zu dem Tisch und machte das Radio aus. „Worum geht es denn jetzt eigentlich?"

„Wie ich sehe, malen Sie nicht nur auf nackter Haut, sondern auch auf normaler Leinwand", stellte Plattenberg mit Blick auf die Gemälde an der Wand fest und ignorierte die Frage einfach.

„Das sind ältere Werke von mir, die ich vor einiger Zeit angefertigt habe", erklärte der Künstler.

Plattenberg blieb vor einem der Bilder stehen und betrachtete es eingehend. „Was soll das darstellen?"

„Was sehen Sie denn?", antwortete Rothendorff mit einer Gegenfrage.

„Hm, gute Frage..." Plattenberg tat so, als würde er überlegen.

Mit etwas Fantasie – mit sehr viel Fantasie – könnte man in dem Gekrakel und Geschmiere ein gründlich deformiertes, menschliches Gesicht erkennen.

„Sie halten sich für den neuen Picasso, kann das sein?"

„So würde ich es nicht gerade ausdrücken, aber wenn Sie Parallelen sehen, bin ich natürlich sehr geehrt."

„Ja, ich sehe durchaus Parallelen. Ich finde beides hässlich und abstoßend."

Rothendorff presste die Lippen fest zusammen und versuchte so zu tun, als hätte ihn diese Bemerkung in keiner Weise getroffen. Man konnte ihm seine Verärgerung jedoch deutlich ansehen. „Würden Sie jetzt vielleicht endlich zur Sache kommen?"

„Aber selbstverständlich!" Plattenberg wanderte von dem merkwürdigen Gemälde weiter zu dem großformatigen Foto, das Amelies nackten, mit blauer Farbe beschmierten Körper samt Vogel-Tattoo auf der Hüfte von der Seite zeigte. „Es geht um diese Frau. Erinnern Sie sich an sie?"

„Natürlich. Das ist Amelie. Sie studiert an der Kunstakademie und ist in der Künstlerischen Klasse, die ich dieses Semester dort betreue."

„War."

„Was?"

„Sie war in Ihrer Künstlerischen Klasse."

„Ich... verstehe nicht ganz..."

„Amelie Winter wurde vorgestern Nacht getötet", sagte Jessica und beendete damit die Scharade, die Plattenberg mal wieder so kunstvoll veranstaltete.

Rothendorff starrte sie an, die blauen Augen ungläubig geweitet. Sie versuchte einzuschätzen, ob er wirklich so bestürzt war, wie er tat. Das war gar nicht so einfach, denn sie fand, dass der Mann trotz seiner äußerlichen Attraktivität etwas Unangenehmes und Falsches an sich hatte.

„Wo waren Sie in dieser Nacht, Herr Rothendorff?", fragte Plattenberg und schaute den Künstler unverwandt an.

„Warum... warum fragen Sie mich das?"

„Warum antworten Sie nicht einfach?"

Rothendorff räusperte sich unbehaglich.

„Ich... war bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung in der Galerie Kunst-Voll."

„Wir hörten davon. Haben Sie Amelie an diesem Abend von der Galerie aus angerufen?"

„Nein, warum sollte ich?"

„Haben Sie gesehen, wie jemand anderes das Telefon im Büro der Galeristin benutzt hat?"

„Nein! Ehrlich gesagt, verstehe ich diese ganzen Fragen nicht..."

„Das macht nichts, Herr Rothendorff", meinte Plattenberg tröstend. „Es reicht, wenn Sie die Fragen einfach nur wahrheitsgemäß beantworten. Wie lange waren Sie am Freitag in der Galerie?"

„Bis zum Ende."

„Wann war das?"

„So kurz nach Mitternacht vielleicht."

„Offiziell ging die Veranstaltung bis 23:30 Uhr", warf Jessica ein.

„Ja, schon. Aber wir sind etwas länger geblieben."

„Und danach?"

„Danach bin ich nach Hause gegangen."

„Das stimmt nicht, Herr Rothendorff", erwiderte Plattenberg. „Es gibt Zeugen, die gesehen haben, dass Sie erst um drei Uhr nachts nach Hause gekommen sind."

„Zeugen? Welche Zeugen?"

„Das spielt keine Rolle."

„Diese alte Schabracke von nebenan, oder was?" Der Künstler schüttelte verächtlich den Kopf.

„Die alte Schabracke ist nicht viel älter als Sie, Herr Rothendorff."

„Dann hat sie sich eben geirrt. Oder sie lügt."

„Warum sollte sie lügen?"

„Was weiß ich? Weil sie mich nicht leiden kann!"

„Warum nicht? Weil Sie Ihren Rasen nicht oft genug mähen?"

„Ja, genau deshalb!"

Rothendorff griff in die Tasche seiner Shorts und fummelte eine Zigarettenpackung und ein Feuerzeug hervor. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund, zündete sie an, zog daran und ließ den Rauch durch die Nase entweichen. Sofort breitete sich durchdringender Zigarettengestank aus und übertünchte den Farbgeruch.

„Dürfen Sie das hier?", fragte Plattenberg naserümpfend.

„Wieso nicht? Das ist mein Atelier, ich mach hier, was ich will", entgegnete Rothendorff trotzig und blies den Rauch absichtlich in seine Richtung.

„Ich dachte nur, wegen des Brandschutzes."

„Ich scheiß auf den Brandschutz. Oder kümmert sich die Kripo jetzt auch um so was?"

„Nein, das ist Sache des Ordnungsamtes und der Feuerwehr. Wir kommen erst ins Spiel, wenn es eine verbrannte Leiche gibt", erwiderte Plattenberg und wedelte den Rauch von seinem Gesicht fort. „Gibt es noch jemanden, der bezeugen kann, wann Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag nach Hause zurückgekehrt sind? Ihre Frau vielleicht?"

„Eleonore war nicht da. Sie ist übers Wochenende zu ihren Eltern nach Siegen gefahren."

„Ohne Sie?"

„Es sind ihre Eltern, nicht meine."

So, so. Wenn die Frau allein zu den Eltern fuhr, bedeutete das meistens, dass es vorher richtig Krach gegeben hatte.

„Wann ist sie gefahren?", fragte Jessica weiter.

„Freitagnachmittag, so gegen 16:00 Uhr."

„Und wann kommt sie wieder?"

„Morgen Vormittag."

Falls das stimmte, konnte Eleonore Rothendorff Amelie nicht getötet haben. Aber ihr Mann, denn er hätte nach der Veranstaltung in der Galerie genügend Zeit gehabt, Amelie im Park zu treffen und sie dort abzustechen und hatte, wie es aussah, für diesen Zeitraum kein Alibi.

„Verdächtigen Sie etwa mich oder meine Frau?"

„Amelie war nicht nur Ihre Studentin und hat nicht nur als Ihre Malunterlage fungiert. Sie hatten eine Affäre mit ihr, ist das nicht so?"

„Das ist nicht verboten. Amelie ist... war volljährig. Es war alles freiwillig und wir hatten eine gute Zeit."

„Eine so gute Zeit, dass Amelie schwanger wurde."

Rothendorff lehnte sich an den Tisch und ließ die Asche von seiner Zigarette in einen darauf stehenden Aschenbecher rieseln. „Amelie war schwanger? Das wusste ich nicht."

„Und dass sie abgetrieben hat, wussten Sie dementsprechend auch nicht?", wollte Jessica wissen.

Er schaute sie kurz an und wandte den Blick sofort wieder ab. „Auch das wusste ich nicht."

Er drückte seine Kippe im Aschenbecher aus. Seine Hand zitterte dabei kaum merklich. Weil er log? Oder weil der Tod seiner Geliebten ihm so naheging? Jessica tippte eher auf Ersteres.

„Womöglich wusste aber Ihre Frau davon?"

„So ein Unsinn! Woher denn?"

„Weil Amelie es ihr möglicherweise erzählt hat?", schlug Plattenberg vor. „Oder hat sie Ihnen gedroht, es Ihrer Frau zu erzählen?"

„Nein, hat sie nicht!"

„Weiß Ihre Frau eigentlich, dass Sie sich mit anderen Frauen treffen? Teilweise in Ihrem gemeinsamen Haus und nicht nur, um sie in Ihren unsterblichen Kunstwerken zu verewigen?"

„Ja, natürlich weiß sie das", entgegnete André Rothendorff überraschend. „Wir führen eine offene Ehe."

„So? Wer von Ihnen kam denn auf die Idee, eine offene Ehe zu führen?"

„Ich... verstehe nicht, was das für eine Rolle spielt..."

„Weil, Herr Rothendorff, meistens derjenige, der diese Art von Beziehung initiiert, der einzige ist, der Spaß daran hat", erklärte Plattenberg.

„Eleonore hat sich nie beschwert", sagte Rothendorff und zündete sich eine neue Zigarette an.

„Das heißt nicht, dass es sie nicht gestört hat. Haben Sie gesehen, wie Ihre Frau am Freitag weggefahren ist?"

„Ich habe sie selbst zum Bahnhof gebracht. Also ja!"

„Haben Sie auch gesehen, ob sie wirklich in den Zug gestiegen ist?"

Rothendorff drückte auch die zweite Zigarette aus, obwohl er sie nicht einmal zur Hälfte geraucht hatte. „Hören Sie, Ihre Verdächtigungen sind absolut lachhaft! Eleonore ist überhaupt nicht in der Lage, irgendjemandem etwas schlimmes anzutun, außer..." Er verstummte abrupt und wischte sich mit der Hand über den Mund, als hätte er sich verplappert.

„Außer...?"

„Vergessen Sie es."

Das würden sie sicherlich nicht. Irgendetwas stimmte da nicht. Hatte Silke Tausendfreund nicht angedeutet, Eleonore wäre seltsam? Da schien tatsächlich etwas dran zu sein.

„Wie lange ging das zwischen Ihnen und Amelie?", fragte Jessica, als Rothendorff auch nach mehreren Augenblicken nicht mehr weitersprach.

„Seit wir uns in der Akademie begegnet sind. Das war im April."

Amelie hatte Ende Mai ihren Schwangerschaftsabbruch gehabt. Somit hätte sie von Rothendorff schwanger sein können.

„Und wann haben Sie Amelie das letzte Mal gesehen?"

„Das war Freitag vor einer Woche, bei meiner Vernissage in der Galerie."

Das hatte Beatrix von Teufenfeld ihnen gegenüber nicht erwähnt. Warum wohl? Hatte sie es einfach nur vergessen oder steckte mehr dahinter?

„Wie erklären Sie es sich, dass Amelie Ihnen nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt hat? Schließlich hätten Sie doch der Vater sein können."

Der Künstler zuckte mit den Schultern, holte eine weitere Zigarette aus der Packung und drehte sie, ohne sie anzuzünden, zwischen seinen Fingern.

„Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber Amelie war nun wirklich kein Kind von Traurigkeit. Anscheinend hatte sie genug andere Kandidaten."

„Können Sie diese Kandidaten auch benennen?"

„Da war so ein Typ, ihr Freund oder Exfreund oder was auch immer. Jedenfalls meinte Amelie, da wäre nichts mehr zwischen ihnen, aber er schien das anders zu sehen."

„Wie kommen Sie darauf?"

Nun zündete Rothendorff sich die Zigarette doch an.

„Weil er eines Tages zu mir kam und mir eine reingehauen hat", sagte er trocken.

„Wann war das?"

„So Anfang Mai vielleicht."

„Haben Sie den Mann angezeigt? Immerhin war das eine Körperverletzung."

„Ach was, das wäre doch nur unnötiger Ärger", winkte Rothendorff ab.

Jessica konnte sich gut vorstellen, dass er nicht zum ersten Mal wegen einer Frau eins aufs Maul bekam.

„Kennen Sie seinen Namen?"

„Er hat sich mir nicht vorgestellt. Aber Amelie hat ihn Jan genannt, glaube ich."

Immerhin etwas. Falls diese Geschichte wirklich stimmte und Rothendorff nicht nur von sich oder seiner Frau ablenken wollte, war das eine neue Spur. Die meisten Tötungsdelikte entpuppten sich als Beziehungstaten und nicht selten war der eifersüchtige Partner oder Expartner des Opfers auch der Täter.

„Sind wir jetzt fertig?", riss die Stimme des Künstlers Jessica wieder aus ihren Gedanken. „Ich habe nicht mehr viel Zeit."

„Nein, wir sind noch nicht fertig", erwiderte Plattenberg. „In der Galerie ist eines Ihrer Werke ausgestellt, auf dem eine Frau zu sehen ist, die die selbe Tätowierung wie Amelie hat, allerdings auf der rechten Schulter. Können Sie uns sagen, um wen es sich bei dieser Frau handelt?"

Rothendorff zog an seiner Kippe und überlegte kurz. „Ich glaube, Sie meinen Lara."

„Lara?", wiederholte Jessica überrascht. „Doch nicht etwa Lara Hoenig?"

„Doch, ich meine, so heißt sie. Warum?"

„Lara Hoenig ist Amelies Cousine. Wussten Sie das?"

Nun war es Rothendorff, der sie überrascht ansah. „Ich wusste nicht, dass sie verwandt sind. Die beiden sehen sich überhaupt nicht ähnlich."

„Hat es sie nicht gewundert, dass die beiden das gleiche Tattoo haben?"

„Nicht wirklich. Es gibt viele, die das gleiche Tattoo haben. Das berühmt berüchtigte Arschgeweih hat sich Anfang der 2000er doch auch gefühlt jede dritte Frau stechen lassen."

„Na, Sie haben vermutlich so einige davon zu Gesicht bekommen", bemerkte Plattenberg spitz. „Woher kennen Sie Lara Hoenig?"

„Sie studiert auch an der Kunstakademie. Nur ein Semester über Amelie, glaube ich."

„War das Verhältnis zwischen Ihnen ebenfalls mehr als nur beruflich?"

„Wir hatten einige Male Sex miteinander, mehr war da nicht."

Der Typ ließ ja wirklich nichts anbrennen.

„War das vor oder nach Ihrer Affäre mit Amelie?"

„Zeitgleich."

Also hatten die beiden Cousinen und angeblichen besten Freundinnen gleichzeitig etwas mit ein und dem selben Mann gehabt. Wenn das mal kein guter Zündstoff war, um auch die stärkste Frauenfreundschaft zu zersprengen. Könnte das der Grund sein, warum Lara Hoenig sich immer noch nicht meldete, obwohl sie längst schon aus den Niederlanden zurück sein müsste?

„War Frau Hoenig auch der Meinung, dass da nicht mehr war?"

„Ich habe ihr jedenfalls keine Hoffnungen gemacht", meinte Rothendorff schulterzuckend.

Der Mann war das Allerletzte und schien sich kein bisschen um die Gefühle anderer zu scheren.

„War's das jetzt? Ich muss mich auf den Workshop vorbereiten." Er drückte die dritte Kippe aus, ging zurück zu dem Behälter mit der eklig grünen Farbe und fischte den Pinsel heraus.

„Eine Sache noch", hielt Plattenberg ihn zurück. „Zeichnen Sie auch?" Offenbar wollte er herausfinden, ob die Zeichnung aus Amelies Wohnung von Rothendorff war.

Dieser hielt inne und ließ den Pinsel wieder in der Farbe versinken. „Wie meinen Sie das?"

„Ganz normal, mit Bleistift auf Papier."

„In letzter Zeit eigentlich nur Skizzen. Früher, während des Studiums habe ich recht viel gezeichnet."

„Könnten Sie uns eine Ihrer Zeichnungen zeigen?"

Nachdenklich kratzte Rothendorff sich an seinem modisch unrasierten Kinn und blickte sich um. „Ich weiß nicht, ob ich hier etwas habe. Da müsste ich suchen."

„Vielleicht könnten Sie eben schnell eine neue Zeichnung anfertigen?"

„Eben schnell?" Der Künstler verzog spöttisch das Gesicht. „Sie haben keine Ahnung vom Zeichnen, oder?"

„Ich fürchte nicht", gab Plattenberg zu. „Vermutlich mangelt es mir dafür an Kreativität."

„Ich habe eine Idee!", sagte Rothendorff plötzlich und schaute Jessica an. „Ich zeichne Sie." Er lächelte ihr abermals verschmitzt zu.

„Das ist eine ganz schlechte Idee!", protestierte sie sofort und spürte, wie sich ein unangenehmes Brennen auf ihren Wangen ausbreitete.

„Nein, das ist eine sehr gute Idee", widersprach Plattenberg. „Aber bitte nur bekleidet!"

Wütend blinzelte Jessica ihn an und wäre am liebsten einfach gegangen, aber Rothendorff hatte bereits einen Block und einen Stift aus dem Chaos auf dem Tisch hervorgekramt und begann, auf dem Papier herumzukritzeln.

„Bleiben Sie einfach so stehen", wies er sie voller Enthusiasmus an und sie tat ihm den Gefallen, obwohl ihr diese ganze Situation mehr als peinlich war.

Ihr fiel auf, dass er mit der rechten Hand zeichnete. Hatte Dr. Heinold nicht gesagt, dass der Täter vermutlich Rechtshänder war? Außerdem war Rothendorff ein Stück kleiner als Plattenberg, ihrer Einschätzung nach ungefähr zehn Zentimeter, und passte somit auch von der Größe her ins Täterprofil.

„Waren Sie eigentlich schon immer so erfolgreich mit Ihrer Kunst wie jetzt, Herr Rothendorff?", nahm Plattenberg das Gespräch wieder auf, während er sich nebenbei unauffällig auf dem chaotischen Tisch umschaute. „Ich habe, ehrlich gesagt, noch nie etwas von Ihnen gehört."

André Rothendorff ignorierte den fiesen, kleinen Seitenhieb und konzentrierte sich weiterhin aufs Zeichnen. „Früher lief es tatsächlich etwas schleppend. Der große Durchbruch kam erst kürzlich, mit dem neuen Projekt."

„Ich verstehe. Es ist natürlich präsentabler, sich eins Ihrer sogenannten Meisterwerke ins Wohnzimmer zu hängen als ein Poster aus einem Schmuddelheftchen."

Rothendorff lachte freudlos auf. „Ich kann nichts dafür, dass die Leute meine Kunst kaufen. Es ist wie in der Wirtschaft: Angebot und Nachfrage regeln den Markt."

„Womit haben Sie dann vor Ihrem großen Durchbruch Ihr Geld verdient?", fragte Jessica.

„Es ist nicht so, dass ich früher überhaupt nichts verkauft habe. Es hat aber so gut wie nichts eingebracht. Ich habe eine Zeitlang als Kunstlehrer gearbeitet. Das machen einige meiner Kollegen. Es gibt nämlich nicht genug Kunstlehrer und deshalb nehmen die Schulen gerne auch Quereinsteiger, bevor es überhaupt keinen Kunstunterricht gibt. Aber es ist ein wirklich undankbarer Job."

„Warum?"

„Na ja, ich finde, es sollte in solchen Fächern wie Kunst, Musik oder auch Sport keine Noten geben. Wie soll man so etwas benoten?" Diese Ansicht machte ihn in Jessicas Augen fast schon ein bisschen sympathisch. Aber nur fast. „Das ist auch der Grund, warum ich diese Stelle als Gastdozent, die die Kunstakademie mir angeboten hat, zuerst gar nicht annehmen wollte. Aber Christian, mein Agent, war der Meinung, das das gut fürs Geschäft sei. Gute Publicity."

„Und diese Stelle ermöglicht Ihnen eine ganz gute Ausbeute an jungen, hübschen Damen für Ihre Kunst – und nicht nur", merkte Plattenberg bedeutungsschwer an.

Rothendorff bedachte ihn mit einem grimmigen Blick und wandte sich dann erneut an Jessica:

„Schauen Sie mal."

Er trat zu ihr und zeigte ihr seine Zeichnung. Sie war nicht so detailliert wie die aus Amelies Schreibtischschublade, für eine schnelle Skizze aber dennoch ganz gut. Man konnte sie sogar erkennen. Auch der Zeichenstil schien ein anderer zu sein, Rothendorffs Strichführung war härter und abgehackter, nicht so sanft wie bei der anderen Zeichnung. Allerdings hatte er auch nicht so viel Zeit gehabt.

„Kann ich das mal bitte haben." Plattenberg wollte nach dem Blatt greifen, doch Rothendorff ließ ihn nicht.

„Nur, wenn Sie dafür bezahlen."

„Ist das Ihr Ernst?"

„Natürlich. Ich bin professioneller Künstler und möchte für meine Arbeit genau so bezahlt werden, wie jeder andere auch. Sie kriegen schließlich auch Geld dafür, dass Sie Verbrecher jagen, oder?"

Wie immer ließ sich Plattenberg nichts anmerken und behielt seine übliche, undurchdringliche, fast schon gleichgültige Miene bei.

„Die Zeichnung ist ein Beweisstück und als ein solches, kann ich sie beschlagnahmen."

„Brauchen Sie dafür nicht so einen Wisch vom Richter?"

„Nein, den brauche ich nicht."

„Und wenn ich die Zeichnung haben will?", mischte Jessica sich ein, der das Ganze langsam zu blöd wurde. „Schließlich bin ich da drauf."

Ihnen schenke ich die Zeichnung natürlich sehr gerne", meinte Rothendorff, setzte das Datum und seine Signatur in die rechte, untere Ecke des Blattes und reichte es Jessica.

Die Signatur hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der auf der Zeichnung von Amelie.

„Jetzt habe ich aber wirklich keine Zeit mehr und würde Sie bitten, zu gehen."

„Ah ja, Ihr Workshop. Da möchten wir natürlich nicht stören." Plattenberg kramte eine Visitenkarte aus seiner Anzugtasche und hielt sie dem Künstler hin. „Falls Ihnen doch noch einfallen sollte, wo Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag bis drei Uhr Nachts waren. So ohne Alibi kann es nämlich sehr schnell sehr unangenehm werden."

Rothendorff nahm die Visitenkarte mit spitzen Fingern entgegen und betrachtete sie mit fast schon angeekeltem Gesichtsausdruck.

„Und Ihre?", wandte er sich erneut an Jessica.

„Was?"

„Hätten Sie auch eine Visitenkarte für mich?"

„Tut mir leid, ich habe keine dabei." Das stimmte sogar, denn sie hatte vergessen, die Karten mitzunehmen. Doch sogar, wenn sie welche hätte, würde sie ihm keine geben wollen, denn sie hatte wenig Lust, von ihm angerufen und weiter angegraben zu werden. „Sie haben die Kontaktdaten von meinem Kollegen. Das reicht."

„Ich bin Tag und Nacht für Sie da, Herr Rothendorff", fügte Plattenberg spöttisch hinzu.

„Wenn ich aber nicht mit Ihrem Kollegen, sondern lieber mit Ihnen sprechen möchte?", blieb Rothendorff hartnäckig. „Warum schreiben Sie Ihre Nummer nicht einfach hier auf die Rückseite?" Er hielt ihr seinen Stift und die Rückseite von Plattenbergs Visitenkarte hin.

Entnervt nahm sie den Stift, kritzelte ihre Nummer auf die Karte und drückte sie dem Künstler anschließend wieder in die Hand. Seine Mundwinkel senkten sich enttäuscht, als er feststellte, dass es nur die Festnetznummer von ihrem Büro war.

„Schönen Tag noch", murmelte sie, drehte sich um und verließ so schnell wie möglich das nach Farbe und Zigarettenrauch stinkende Atelier.

Sie musste dringend an die frische Luft.


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