11. So sind sie eben, diese Künstler!

Um das empfindliche Näschen ihres Herrn Kollegen nicht unnötig zu strapazieren – obwohl Jessica sich wunderte, dass sein Geruchssinn bei den Unmengen an Parfüm, in denen er regelmäßig zu baden schien, nicht längst schon abgestorben war – holte sie sich nur harmlose Pommes mit etwas Ketschup und Majo. Doch sogar das sorgte schon für Unmut.

„Das Zeug riecht so, als wäre es in altem Maschinenöl frittiert worden", motzte Plattenberg, während sie am Schlossplatz vorbei Richtung Aasee fuhren. „Und Sie trinken auch noch diese widerwärtigen, österreichischen Chemieabfälle aus der Dose dazu! Wir sollten dringend an Ihren Essgewohnheiten arbeiten, Frau Schillert."

„Was soll das heißen ‚wir'?", fragte Jessica mit vollem Mund. „Wollen Sie etwa für mich kochen?"

„Soll ich?"

Sie verschluckte sich fast an den halb zerkauten Pommes in ihrem Mund und musste husten.

„Lieber nicht", stieß sie hervor und spülte den Bissen mit etwas Red Bull herunter. Gleichzeitig erwischte sie sich dabei, wie sie sich fragte, ob er wirklich kochen konnte und ob das wohl schmecken mochte.

„Rothendorffs Frau heißt Eleonore. Sie ist 38, also vier Jahre jünger als er, und seit acht Jahren mit ihm verheiratet", wechselte sie schnell das Thema. „Kinder haben sie nicht. Übrigens hat Rothendorff, laut der Kurzbiografie auf der Website der Kunsthochschule, Anfang bis Mitte der 90er bei Ihnen in Düsseldorf Freie Kunst an der Kunstakademie studiert. Vielleicht ist er Ihnen ja sogar mal über den Weg gelaufen."

„Das glaube ich kaum. Im Gegensatz zu Münster hat Düsseldorf nicht nur ein paar tausend Einwohner."

„280.000", berichtigte Jessica schnippisch.

„Von denen gefühlt 90 Prozent miteinander verwandt sind oder sich sonst woher kennen."

„So ein Quatsch!" Verärgert schob sich Jessica eine weitere Handvoll Pommes in den Mund und überlegte, ob sich so ein teurer Anzug nicht auch ganz gut als Serviette eignete.


Etwa zehn Minuten später waren sie an ihrem Ziel angekommen. Das Ehepaar Rothendorff bewohnte eine kleine Stadtvilla aus den 60er Jahren in traumhafter Lage fast direkt am Seeufer.

„Ganz nett hier", bemerkte Plattenberg und packte seine Sonnenbrille weg. „Das Häuschen war bestimmt nicht ganz günstig in dieser Lage. Künstler müsste man sein, nicht wahr?"

Sagt der Typ mit einer Schweizer Uhr am Handgelenk.

Unter seinem entsetzten Blick, stellte Jessica den Pappteller mit den Pommesresten und die Red Bull-Dose auf dem Armaturenbrett ab.

„Ich räum das nachher weg", versprach sie.

„Ich bitte darum!"

Sie stiegen aus. Das Haus war umgeben von einem verwilderten Garten, um den sich allem Anschein nach schon länger niemand richtig gekümmert hatte. Jessica fand es selbst ziemlich albern, jede Woche den Rasen zu mähen und jedes kleinste Fitzelchen Unkraut – in der Natur gab es sowieso kein Unkraut – sofort auszurupfen, aber ein bisschen sollte man sich ihrer Meinung nach schon um seine Pflanzen kümmern. Wenigstens gießen könnte man sie bei der Hitze, denn einige sahen gar nicht mehr gut aus. Bei der Gelegenheit fiel ihr ein, dass sie unbedingt mal wieder zu ihrer Oma nach Wolbeck fahren sollte, um ihr bei der Gartenarbeit zu helfen. Denn auf ihre Brüder war in dieser Hinsicht wenig Verlass.

Die Einfahrt der Rothendorffs war leer, doch es gab eine abgeschlossene Garage, sodass man nicht erkennen konnte, ob ein Auto drin stand oder nicht.

Sie traten durch das laut quietschende Gartentor und liefen auf die Haustür zu. Davor angekommen, drückte Jessica auf die Türklingel. Ein paar Augenblicke verstrichen, ohne dass jemand die Tür öffnete. Sie klingelte ein zweites Mal, mit dem gleichen Ergebnis. Sie lauschte an der Tür, doch im Haus rührte sich nichts.

„Sind wohl ausgeflogen", sagte sie. „Oder vielleicht auch abgehauen."

„Wir könnten uns etwas umsehen", schlug Plattenberg vor.

„Wo? Im Haus?"

„Ja, wo denn sonst?"

Entgeistert schaute Jessica ihn an. „Sie wollen doch nicht schon wieder Einbrecher spielen?"

„Ich würde es eher als sich Zuritt gemäß Paragraph 102 StPO verschaffen bezeichnen."

„Es besteht aber keine Gefahr in Verzug."

„Gefahr in Verzug ist ein sehr dehnbarer Begriff."

So viel also zum vorschriftsmäßigen Vorgehen.

„Ich gehe da nicht ohne Durchsuchungsbeschluss rein", erklärte sie bestimmt. „Wir haben überhaupt keine rechtliche Grundlage dafür!"

„Wir könnten schauen, ob nicht irgendwo ein Fenster oder eine Terrassentür offen steht. Das wäre kein Einbruch", meinte Plattenberg und machte sich bereits auf den Weg um das Haus herum. Jessica eilte ihm nach, um gegebenenfalls noch das Schlimmste verhindern zu können.

Zu ihrer Erleichterung standen weder ein Fenster noch die Terrassentür offen. Bei den meisten Fenstern waren sogar nicht nur die Vorhänge, sondern auch die Rollläden zugezogen. War das nur wegen der Sonne oder hatten die Bewohner möglicherweise etwas zu verbergen?

„Schade", murmelte Plattenberg bedauernd.

Sie kehrten wieder zur Haustür zurück. Argwöhnisch beobachtete Jessica, wie er schon wieder nachdenklich das Türschloss betrachtete.

„Denken Sie gar nicht erst dran!", warnte sie. „Brandt bringt uns um, wenn er davon erfährt."

„Ach, Brandt!", winkte Plattenberg ab. „Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß..."

Er steckte schon seine Hand in die Tasche seiner Anzugjacke, in der sich, wie Jessica aus der Vergangenheit nur zu gut wusste, ein kleines Mäppchen mit allerlei Dietrichen und Schraubenziehern befand.

„Jetzt hören Sie endlich auf mit dem Scheiß!" Sie packte ihn am Arm und zog ihn mit aller Kraft von der Tür weg, so wie man ein Kind aus der Spielzeugabteilung im Kaufhaus wegzog, wenn es unbedingt etwas haben wollte, was es nicht haben durfte. Nur, dass dieses Kind etwa 1,85 groß war, ungefähr 80 Kilo wog und schon in den Vierzigern war.

„Passen Sie doch auf, mit Ihren fettverschmierten Pommesfingern!", schimpfte er, schüttelte sie ab und wischte angeekelt über seinen Ärmel.

„Hey, Sie da! Was machen Sie denn da an der Tür?"

Sie drehten sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Auf dem Bürgersteig vor dem Gartentor stand eine Frau mittleren Alters mit einem Zwergpinscher an der Leine. Der kleine Hund steckte seine Schnauze durch den Zaun und beäugte sie mit seinen schwarzen Knopfaugen genauso misstrauisch wie sein Frauchen.

„Wir sind von der Kriminalpolizei und wollten nur mit den Bewohnern dieses Hauses sprechen", erklärte Jessica.

„Dann haben Sie doch sicher auch einen Ausweis?"

Sie gingen zum Gartentor zurück und zeigten der Frau ihre Dienstausweise. Das schien sie etwas zu besänftigen.

„Tut mir leid, aber wir hatten hier in der Gegend in letzter Zeit mit mehreren Einbrüchen zu tun und sind da etwas vorsichtig, wenn sich hier irgendwelche Fremden herumtreiben."

„Das ist verständlich. Wir sehen zugegebenermaßen auch sehr verdächtig aus. Besonders meine Kollegin hier hat ein richtiges Gauner-Gesicht, da kann einem durchaus angst und bange werden", meinte Plattenberg verständnisvoll.

Jessica unterdrückte den Drang, ihm mit dem Ellenbogen einen kräftigen Stoß in die Seite zu versetzen. Vielleicht würde sie das später noch nachholen.

„Ich bin übrigens Silke Tausendfreund", stellte die unbekannte Frau sich vor. „Ich wohne direkt nebenan." Sie deutete auf das Nachbargrundstück, wo ein recht neues Einfamilienhaus in Gestalt eines seelenlosen, weißen Klotzes stand. Hecke und Rasen waren bis zur Perfektion getrimmt. Das andere Extrem also.

„Was will die Polizei denn von den Rothendorffs? Haben die etwas ausgefressen?", fragte sie neugierig.

„Nur eine Routinebefragung", erwiderte Jessica ausweichend. „Kennen Sie Ihre Nachbarn denn näher?"

„Von ‚kennen', kann da nicht wirklich die Rede sein. Die beiden pflegen nämlich so gut wie keinen Kontakt zu uns oder sonst wem aus der Nachbarschaft. Halten sich wohl für was besseres. Der André, der ist ja Künstler. In deren Welt passen Normalsterbliche wie wir vermutlich sowieso nicht rein." Die Nachbarin verzog abfällig ihr sonnengegerbtes Gesicht. „Sie haben sich nicht einmal richtig vorgestellt, als sie vor etwa einem Jahr hergezogen sind! Keine Kennenlernfeier, nicht einmal ein Stückchen Kuchen haben sie vorbeigebracht!"

„Einfach unfassbar!", kommentierte Plattenberg mit offensichtlich gespielter Empörung.

Doch Silke Tausendfreund schien seinen Spott gar nicht zu bemerken.

„Und wenn wir oder andere Nachbarn sie mal zu Besuch einladen, dann lehnen sie immer ab. Ist das nicht total verdächtig?"

„Absolut", stimmte Plattenberg ihr erneut zu.

„Die Eleonore, die ist sowieso ganz komisch."

„Inwiefern?"

„Die geht kaum aus dem Haus! Manchmal sieht man sie tage-oder sogar wochenlang nicht. Sie geht nicht zur Arbeit, man sieht sie nie beim Einkaufen. Keine Ahnung, was sie überhaupt den ganzen Tag treibt. Kinder haben die beiden nicht und um den Haushalt scheint sie sich ebenfalls nicht zu kümmern. Sehen Sie nur, wie der Garten bei denen aussieht! Da gibt es ja mehr Unkraut als richtige Pflanzen!" Sie rümpfte die Nase und ihr Pinscher kläffte zustimmend.

Jessica fragte sich, ob diese Frau selbst eigentlich nichts besseres zu tun hatte, als den ganzen Tag lang ihren Nachbarn hinterher zu spionieren. Offenbar nicht.

„Und dann gibt es wieder Zeiten, wo Eleonore mehrere Tage oder Wochen lang überhaupt nicht da ist. Dann sieht man nur, wie sie mit einem Koffer in ein Taxi steigt und irgendwann dann wiederkommt. Im Frühjahr war sie sogar fast ganze zwei Monate lang weg! Richtig sonderbar ist das! Und wissen Sie, was der André gemacht hat, während sie weg war?"

„Was hat er denn gemacht, der André?"

Frau Tausendfreund lehnte sich über das Gartentor zu ihnen vor und sprach mit verschwörerisch gesenkter Stimme weiter: „Er hat fremde Frauen mitgebracht. Stellen Sie sich das bloß vor! Mehrere Male hat er das gemacht, das habe ich genau gesehen!"

Jessica konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Silke Tausendfreund mit ihrem kleinen Köter um das Haus herumschlich, um einen Blick ins Schlafzimmer ihres Nachbarn zu erhaschen.

„War da vielleicht mal eine junge Frau mit roten Locken dabei?", fragte sie nach.

„Aber ja doch!", die Frau nickte heftig. „Genau so eine war dabei. Und wenn Sie mich fragen, war die um einiges jünger als der André."

„Meine Kollegin meint explizit diese Frau." Plattenberg holte ein Foto von Amelie aus den Untiefen seiner Anzugjacke hervor und hielt es der Nachbarin hin.

„Oh ja, das war die! An diese prächtigen Locken kann ich mich noch sehr gut erinnern. Solche hatte ich früher auch, nur in blond." Sie warf ihr durch zahlreiche, chemische Behandlungen etwas trockenes und überstrapaziertes, schulterlanges Haar zurück.

Also war Amelie sogar bei André Rothendorff zuhause gewesen und das wahrscheinlich nicht in der Funktion als Aktmodell. Zumindest nicht nur. Jessica fand es ganz schön mies, dass der Künstler seine Geliebten dreist zu sich nach Hause brachte, während seine Frau nicht da war. Der Typ schien ein waschechter Mistkerl zu sein.

„Haben Sie Frau Rothendorff darauf angesprochen, was ihr Mann in ihrer Abwesenheit so treibt?", fragte Plattenberg weiter.

„Wieso sollte ich? Ich mische mich doch nicht in die Angelegenheiten fremder Leute ein!"

Nein, nein, natürlich nicht!

„Außerdem muss Eleonore doch selbst etwas bemerkt haben. Also mir wäre sowas ja sofort aufgefallen. Nicht, dass mein Werner so etwas machen würde..."

Da sei dir mal nicht so sicher, dachte Jessica grimmig. Aber vermutlich durfte Werner ohne die Erlaubnis seiner Frau nicht einmal aufs Klo gehen.

Mittlerweile hatte der kleine Hund von Frau Tausendfreund offenbar angefangen, sich zu langweilen und schnüffelte sehr interessiert am Reifen von Plattenbergs Mercedes herum, der am Straßenrand direkt vor dem Gartentor stand. Auf einmal hob er sein Hinterbeinchen und fing an, auf den Reifen zu pinkeln. Jessica blickte zu Plattenberg, in der Hoffnung, er würde diese Untat nicht bemerken, doch es war bereits zu spät.

„Frau Tausendfreund?"

„Ja?"

„Ihr Hund erleichtert sich gerade auf mein Auto."

„Oh! Rocky, pfui!" Sie zerrte an der Leine, woraufhin Rocky beleidigt fiepte und sein Bein wieder senkte.

„Entschuldigung", sagte Frau Tausendfreund und kicherte verlegen. „Er markiert nur sein Revier. Aber keine Angst, er will Ihnen Ihr Auto nicht wegnehmen." Sie kicherte noch etwas lauter, was so gestellt klang, dass Jessica fast übel wurde.

„Na, dann bin ich ja beruhigt. Er kann froh sein, dass ich nicht das selbe mit seinem Hundekorb mache."

Abrupt hörte Frau Tausendfreund mit dem albernen Gekicher auf und starrte Plattenberg verdattert an. Er starrte nur mit vollkommen ernsthafter Miene zurück. Sie beugte sich herunter und hob Rocky vorsichtshalber hoch.

„Haben Sie am vergangenen Freitagabend etwas ungewöhnliches bei Ihren Nachbarn beobachten können?", brach Plattenberg schließlich das unangenehme Schweigen.

„Freitagabend? Nein, da waren Werner und ich gar nicht zuhause. Wir waren bei meiner Schwägerin zum Spieleabend eingeladen. Wir haben Monopoly gespielt."

„Ah, ja. Wann sind Sie nach Hause zurückgekommen?"

„Oh, das war schon spät. So kurz vor Mitternacht."

„Und da ist Ihnen auch nichts ungewöhnliches aufgefallen?"

„Hm, jetzt, wo Sie es sagen... Der André ist in dieser Nacht wieder einmal sehr spät nach Hause gekommen. Ich konnte wegen der Hitze nicht schlafen, wissen Sie, und habe sein Auto durch das offene Fenster gehört und die Scheinwerfer gesehen. Um drei Uhr nachts ist der gekommen! Das ist bei ihm zwar nichts ungewöhnliches, aber trotzdem... Und er nimmt ja auch keine Rücksicht darauf, dass andere Leute vielleicht schlafen wollen und schlägt dann immer mit der Autotür, als wäre er ganz allein auf dieser Welt. Ein Wunder, dass sein Auto noch nicht auseinandergefallen ist." Missbilligend schüttelte Silke Tausendfreund den Kopf und Rocky ließ daraufhin einen zustimmenden Furz verlauten.

Plattenberg verzog angewidert das Gesicht. Dieser Hund und er würden in diesem Leben vermutlich keine Freunde mehr werden.

„Wissen Sie, wo Ihre Nachbarn jetzt sind?"

„Nein, woher denn? Die reden doch nicht mit mir!" Frau Tausendfreund ließ den zappelnden Rocky wieder auf den Boden, hielt aber die Leine kürzer, damit er nirgendwo mehr drauf pinkeln konnte, wo es gefährlich werden könnte. „Aber ich habe das Gefühl, dass Eleonore wieder einmal nicht daheim ist. Und André, der ist vor etwa einer Stunde weggefahren. Nachdem er wieder mitten in der Nacht heimgekommen war. Von einem geregelten Alltag scheint der Mann nicht viel zu halten. Aber so sind sie eben, diese Künstler."

„Konnten Sie sehen, ob Herr Rothendorff einen Koffer oder sonstiges Gepäck mitgenommen hatte?"

„Er hat nur ein paar Farbbehälter in sein Auto gepackt. Einen Koffer oder eine Tasche habe ich nicht gesehen."

Erwartungsvoll blickte Silke Tausendfreund zwischen Jessica und Plattenberg hin und her, unverkennbar darauf wartend, dass sie ihr noch mehr Fragen stellten oder – noch besser – irgendwelche pikanten Informationen über die Rothendorffs preisgaben.

Mehrere Augenblicke vergingen, ohne, dass jemand etwas sagte. Rocky begann, ungeduldig an seiner Leine zu ziehen.

„Vielen Dank, Frau Tausendfreund. Sie haben uns sehr geholfen", ergriff Plattenberg schließlich erneut das Wort. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag."

„Wenn Sie mir verraten würden, wieso Sie diese ganzen Fragen über die Rothendorffs stellen, könnte ich vielleicht..."

„Auf Wiedersehen, Frau Tausendfreund", schnitt er ihr brüsk das Wort ab, öffnete das fürchterlich quietschende Gartentor und trat hinaus auf die Straße.

Rocky fing an zu kläffen, möglicherweise, weil er Angst um seinen Hundekorb hatte. Plattenberg ignorierte ihn hartnäckig.

Jessica verließ ebenfalls das Grundstück der Rothendorffs, schloss unter erneutem, lauten Quietschen das Gartentor und verabschiedete sich auch von Frau Tausendfreund. Diese murmelte einen kurzen Abschiedsgruß und machte sich auf den Weg zu ihrem Haus, den immer noch kläffenden Zwergpinscher hinter sich herziehend.

„Wegen solcher Nachbarn überlegt man sich ernsthaft, ob man nicht auf eine einsame Insel ziehen sollte", bemerkte Plattenberg verächtlich, nachdem die neugierige Nachbarin nach unverhältnismäßig langem Trödeln an der Haustür endlich in ihrem weißen 08/15-Haus verschwunden war.

Wenn du auf eine einsame Insel ziehst, würden sich so einige richtig freuen, dachte Jessica.

„Immerhin wissen wir jetzt, was bei den Rothendorffs so abgeht", sagte sie stattdessen laut. „Das ist vermutlich mehr, als die uns selbst erzählt hätten."

„Damit dürften Sie richtig liegen."

„Tja, Rothendorff war Samstagmorgen erst um drei Uhr zuhause. Laut der Einladungskarte, die mir die Assistentin gezeigt hatte, als ich das Telefon aus der Galerie mitgenommen habe, ging diese Veranstaltung dort, bei der er angeblich gewesen ist, offiziell bis 23.30 Uhr. Er hätte also die Gelegenheit gehabt, Amelie im Schlosspark zu treffen und sie zu töten."

„Seine Frau allerdings auch, denn wir wissen nicht, ob überhaupt und seit wann sie tatsächlich verreist ist."

„Nur passt bei beiden Varianten diese Geschichte mit dem Einbruch in Amelies Wohnung und dem Angriff auf Vanessa Klugge überhaupt nicht ins Bild", warf Jessica ein. „Rothendorff kann es nicht gewesen sein, weil die Klugge felsenfest davon überzeugt ist, dass es eine Frau war. Und Eleonore hat eigentlich überhaupt keinen Grund, in Amelies Wohnung herumzuwühlen, wenn sie sie aus Eifersucht umgebracht hat."

„Ich gebe es zwar ungern zu, aber auch mich macht dieser Vorfall heute Mittag völlig ratlos."

Dass ich das nochmal erlebe!

Plötzlich hörte man aus der Richtung des Hauses der Tausendfreunds ein Geräusch. Jessica schaute dorthin. Silke Tausendfreund hatte ein Fenster im Erdgeschoss geöffnet und tat so, als würde sie den sowieso schon makellos sauberen Fensterrahmen und das äußere Fensterbrett putzen. Dabei schielte sie immer wieder verstohlen zu ihnen herüber.

„Ich schlage vor, wir verschwinden, bevor sie noch die Polizei ruft", sagte Plattenberg und ging um das Auto herum zur Fahrerseite.

„Rothendorff hat Farbe mitgenommen. Wahrscheinlich ist er in sein Atelier gefahren", vermutete Jessica, als sie wieder im Wagen saßen.

„Dann sollten wir diesem Geburtsort unsterblicher Meisterwerke einen Besuch abstatten. Ich nehme an, Sie waren bereits so fleißig, die Adresse zu ermitteln?"

„Aber klar doch!"

Sie fuhren los, während Frau Tausendfreund sich fast mit ihrem ganzen Körper aus dem Fenster lehnte, um ihnen nachzusehen. Ein Wunder, dass sie dabei nicht herausfiel.


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