10. So hartnäckig wie Kaugummi an der Schuhsohle - oder Herpes

Eilig stieg Jessica die Treppe zu Amelie Winters Wohnung in den dritten Stock hinauf. Sie war gerade in ihre Recherche über André Rothendorff vertieft gewesen, als plötzlich der Anruf von der Leitstelle kam, dass in der versiegelten Wohnung eingebrochen wurde. Sofort hatte sie alles stehen und liegen gelassen, hatte sich ins Auto gesetzt und war hingefahren.

Vor der Wohnungstür begrüßte sie ein Kollege von der Streife, doch das Zentrum des Geschehens war eindeutig das Schlafzimmer.

Fast direkt an der Türschwelle kniete Hofkamp in seinem obligatorischen Schutzanzug und sammelte die Bruchstücke der blauen Nachttischlampe zusammen, die gestern noch auf dem Nachttisch neben dem Bett gestanden hatte.

„Gehen Sie ruhig rein, die Spuren wurden sowieso schon von den Sanis zertrampelt", sagte er

grimmig und winkte Jessica durch.

Sie trat an ihm vorbei ins Zimmer. Auf dem Bett saß eine Frau, die von zwei Sanitätern behandelt wurde. Die Frau kam ihr irgendwie bekannt vor, doch sie konnte sie nicht genau erkennen, da die Rettungskräfte ihr die Sicht verdeckten. Die Notärztin stand daneben und füllte Papiere auf einem Klemmbrett aus. Etwas abseits murmelte eine weitere Kollegin von der Schutzpolizei etwas in ihr Funkgerät. Obwohl jemand das Fenster geöffnet hatte, war es in dem Zimmer unangenehm stickig, was einerseits an der Hitze und andererseits an den vielen Menschen im Raum lag.

Sofort fiel Jessica auf, dass das Bett in einem merkwürdigen Winkel mitten im Raum stand anstatt, so wie am Vortag noch, mit der Kopfseite an der Wand. Scheinbar hatte es jemand ein ganzes Stück weit verschoben. Als sie um das Bett herumging, sah sie auch den Grund dafür: Jemand hatte eine Holzdiele aus dem Parkett gelöst. Neben dem dadurch entstandenen Hohlraum lag ein Hammer und eine Art Meißel.

Wozu das Ganze? Hatte unter der Diele etwas gelegen? Jetzt war der Hohlraum jedenfalls leer. Vielleicht würde Hofkamp später mehr dazu herauskriegen können, sobald er sich das alles näher angesehen hatte.

Jessica wandte sich wieder zu der verletzten Frau und erkannte nun, dass es sich dabei um die nervige Reporterin Vanessa Klugge handelte.

„Die schon wieder!", rutschte es ihr heraus.

„Kennen Sie sie?", fragte die uniformierte Polizistin.

„Leider ja. Was ist denn überhaupt passiert?"

„Der Nachbar von unten – ein älterer Mann – hat den Notruf getätigt", klärte die Kollegin sie auf. „Er wollte gerade ein Nickerchen machen, da hat er plötzlich Schreie und lautes Poltern gehört und sich gewundert, da die Wohnung ja eigentlich seit gestern versiegelt ist. Als wir eintrafen, lag diese Frau hier bewusstlos auf dem Boden. Anscheinend hat man sie mit der Nachttischlampe niedergeschlagen. Die andere Person ist natürlich schon über alle Berge."

Jessica fragte sich, wie es sein konnte, dass Vanessa Klugge immer wieder ihre Wege kreuzte. Erst fand sie die Leiche, dann tauchte sie im Präsidium auf und gab ihnen den Hinweis auf Rothendorff und nun wurde sie auch noch in Amelies Wohnung niedergeschlagen. Das war sicher kein Zufall, doch wirklich verdächtig erschien sie Jessica trotzdem nicht. Vermutlich wollte sie einfach nur herumschnüffeln, auf der Suche nach irgendeinem Sensationsfund für ihre Story und brachte sich dadurch ständig selbst in Schwierigkeiten. Die Frau ging ihr zunehmend auf die Nerven.

Wer aber war die andere Person gewesen, die sie niedergeschlagen hatte? War es der gleiche Täter, der Amelie getötet hatte?

„Wie schlimm ist sie verletzt?", wandte Jessica sich an die Notärztin.

„Platzwunde an der Stirn, leichte bis mittelschwere Gehirnerschütterung, ein paar leichte Prellungen am Rücken, auf den ersten Blick keine Knochenbrüche. Trotzdem nehmen wir sie mit ins Krankenhaus, die Platzwunde muss genäht werden und sie sollte die nächste Zeit unter ärztlicher Beobachtung stehen, falls die Kopfverletzung doch schlimmer ist, als gedacht und es zu einer Hirnblutung kommt."

„Ich befürchte, da gibt es nicht besonders viel, was bluten könnte."

Jessica drehte sich zur Tür. Dort stand Plattenberg und schaute sich das Chaos im Schlafzimmer an, wobei er einen ähnlichen Gesichtsausdruck hatte, wie Jessicas Mutter früher, wenn sie oder ihre Brüder mal wieder seit Ewigkeiten ihre Zimmer nicht aufgeräumt hatten.

„Boah Alter, steh mir nicht im Weg rum!", grummelte Hofkamp, während er die mittlerweile eingepackten Bruchstücke von der Lampe in einer Beweismittelkiste verstaute.

„An Ihrem Sprachgebrauch sieht man wieder einmal sehr deutlich, dass Sie den Entwicklungsstand eines Sechzehnjährigen nie überschritten haben, Herr Hofkamp", erwiderte Plattenberg.

„Kann es sein, dass Sie es regelrecht darauf anlegen, mal so richtig eins aufs Maul zu kriegen?"

Quod erat demonstrandum", meinte Plattenberg daraufhin nur. „Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich eintrete? Die lieben Kollegen vom Rettungsdienst haben alle brauchbaren Spuren sicherlich bereits gründlich zerstört."

„Hätten wir die Frau etwa verletzt liegenlassen sollen, bis Sie mit Ihrer Spurensuche fertig sind?", fuhr die Notärztin ihn an.

„Das wäre tatsächlich die beste Option, leider jedoch nicht praktikabel."

Jessica seufzte und wünschte sich, sie hätte die Leitstelle nicht gebeten, ihn anzufunken. Aber leider konnte man ihn nicht außen vor lassen, es war schließlich sein Fall.

„Machen Sie, was Sie wollen. Hauptsache, Sie halten sich fern von mir, damit ich nicht in Ihrem Parfümgestank ersticke!", meinte Hofkamp.

Wortlos schob sich Plattenberg an ihm vorbei und betrat den Raum. „Ach, wen haben wir denn da? Wenn das nicht unsere Koryphäe des Lokaljournalismus ist! Warum wundert es mich bloß nicht besonders, ausgerechnet Sie hier zu treffen, Frau Klugge?"

Die Journalistin presste die Lippen zusammen und verzog gequält das Gesicht, während einer der Sanitäter ihr einen Verband um die Stirn wickelte. Sie wirkte so, als müsste sie sich jeden Moment übergeben, ob nun wegen der Gehirnerschütterung oder wegen Plattenbergs Anwesenheit, sei mal dahingestellt.

Jessica wiederholte kurz, was die Streifenpolizistin ihr vorhin erzählt hatte.

„Sieht so aus, als hätte der Täter irgendetwas unter der Holzdiele gesucht", schloss sie ihren Bericht und zeigte auf die gelöste Holzdiele und das herumliegende Werkzeug.

„Hat unser Freund Herr Hofkamp diesen archäologischen Ausgrabungsort bereits gesehen?"

„Ja, hat er!", tönte es genervt aus dem Flur. „Er ist ja nicht blind!"

„Na, immerhin etwas."

„Lassen Sie bloß Ihre Wichsgriffel da weg! Sonst sind die Spuren auch noch hin."

„Der Mann hat das Benehmen eines Höhlenmenschen", murmelte Plattenberg kopfschüttelnd. Dass er selbst sich nicht unbedingt viel besser verhielt, abgesehen davon, dass er seine Ausfälligkeiten in einer etwas kultivierteren Sprache verpackte, schien ihm nicht aufzufallen.

„Wie sieht es mit unserer Pressevertreterin aus? Ist sie vernehmungsfähig?", fragte er an die Rettungskräfte gewandt.

„Ja, aber machen Sie kurz! Wir können nicht ewig warten. Währenddessen holen wir schonmal die Trage."

Die Sanitäter packten ihre Sachen zusammen und verließen den Raum.

Plattenberg griff nach Amelies Schreibtischstuhl und rollte diesen zum Bett, sodass er direkt vor Vanessa Klugge stand, die sich leise stöhnend den Kopf hielt. Dann setzte er sich auf den Stuhl, schlug ein Bein über das andere, faltete die Hände zusammen und schaute sie auf seine übliche, leicht herablassende Art an.

„Meine liebe Frau Klugge", er machte eine dramatische Pause. „Ich hoffe inständig, dass Sie eine sehr gute Erklärung dafür haben, was Sie in der Wohnung des Opfers eines Tötungsdeliktes zu suchen haben. Sogar Ihnen sollte bekannt sein, dass das Eindringen in eine von der Polizei versiegelte Wohnung eine Straftat ist."

„Ich bin gar nicht eingebrochen! Hier war schon vorher jemand drin. Als ich kam, war die Tür schon auf und es kamen Geräusche aus der Wohnung!", nuschelte Vanessa Klugge und fummelte an ihrem Verband herum.

Ein paar Augenblicke lang starrte Plattenberg sie einfach nur schweigend an.

„Was glotzen Sie so?", blaffte sie gereizt.

Plattenberg setzte sich richtig hin und lehnte sich leicht zu ihr vor.

„Wissen Sie, Frau Klugge, Sie beeindrucken mich", sagte er todernst.

„Wirklich?", fragte die Reporterin verunsichert.

„Ja. Sie beeindrucken mich mit Ihrer grenzenlosen Dummheit."

Da konnte Jessica ihm diesmal nur zustimmen.

Er lehnte sich wieder zurück. „Sie kommen zu der Wohnung eines Mordopfers, sehen, dass die polizeilich versiegelte Tür geöffnet wurde, hören sogar verdächtige Geräusche, aber anstatt das einzig richtige zu tun und die 110 zu wählen, gehen sie allein in die Wohnung rein, um den möglicherweise bewaffneten Einbrecher zu stellen. Und das alles nur für eine vermeintlich sensationelle Story für ein minderwertiges, mit Werbung vollgestopftes Anzeigenblättchen. Wenn er sie getötet hätte, wären Sie eine verdiente Kandidatin für den Darwin Award gewesen."

„Sie", murmelte Vanessa.

„Wie bitte?"

„Wenn sie mich getötet hätte. Es war eine Frau. Ich habe es an ihrem Arm gesehen."

„Sind Sie sicher?", fragte Jessica skeptisch.

„Ich kann ja wohl einen Frauenarm von einem Männerarm unterscheiden!"

„Nicht jeder Mann hat Arme wie ein Gorilla", entgegnete Plattenberg wissend. „Haben Sie die Frau genauer gesehen? Können Sie sie beschreiben?"

Die Reporterin schüttelte den Kopf und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. „Ich habe eigentlich nur kurz den Arm gesehen. Sie stand wohl direkt hinter der Tür und hat mir aufgelauert. Und als ich auf der Türschwelle stand, kam der Arm plötzlich dahinter hervorgeschossen und hat mir dieses Ding gegen den Schädel geknallt. Aber es war ganz eindeutig eine Frau."

„Hatte diese Frau möglicherweise lange, türkis lackierte Fingernägel?", hakte Plattenberg nach. Hatte er etwa seine neuste Freundin aus der Galerie Kunst-Voll in Verdacht?

Vanessa Klugge überlegte kurz. „Nee, ich glaube nicht. Ich glaube... ich glaube sie hatte Handschuhe an."

„Handschuhe?"

„Ja, so... so Arbeitshandschuhe halt! Aber so genau kann ich mich nicht wirklich erinnern. Es ging einfach alles viel zu schnell! Ich konnte nicht einmal das Pfefferspray benutzen!"

Jessica blickte sich um und entdeckte an der Bodenleiste neben dem Schreibtisch eine kleine, schwarze Sprühdose.

„Ich verstehe", sagte Plattenberg. Sein Interesse an der Aussage der Reporterin schien merklich nachgelassen zu haben.

„Haben Sie denn jemanden in Verdacht?", wollte diese neugierig wissen.

„Wie kommen Sie darauf?"

„Na, weil Sie nach den türkisen Fingernägeln gefragt haben!" Die Frau war trotz Schädel-Hirn-Traumas immer noch so hartnäckig wie ein an der Schuhsohle klebender Kaugummi.

„Sogar wenn das der Fall wäre, wären Sie der letzte Mensch auf Erden, dem ich das verraten würde, Frau Klugge", erwiderte Plattenberg und stand auf. „Ihren Schilderungen zufolge, standen Sie in der Tür, als Sie niedergeschlagen wurden. Demzufolge hatten Sie diesen Raum also noch nicht betreten?"

„Nein, habe ich nicht. Das sagte ich doch schon!"

„Sie haben auch nicht gesehen, was die andere Frau hier im Zimmer gemacht hat?", fragte Jessica weiter.

„Na-hein! Sie stand doch hinter der Tür und hat auf mich gewartet. Aber vorher hörte es sich so an, als hätte sie Möbel verschoben und irgendwo gegen geklopft."

So weit waren sie auch schon.

„Sie haben hier in der Wohnung nichts angefasst und auch nichts mitgenommen?"

„Nein, habe ich nicht! Warum fragen Sie überhaupt?" Die Reporterin schaute zum Bettrand und bemerkte Hofkamp, der mittlerweile auf dem Boden neben dem Bett herumkroch und die Spuren am sogenannten Ausgrabungsort sicherte. „Was ist denn da? Was sucht Ihr Kollege da?"

Im selben Moment kamen glücklicherweise die Sanitäter mit der Trage zurück. „Wir müssen jetzt los."

„Ich kann auch alleine gehen", erklärte Vanessa Klugge trotzig und stand auf, um es zu beweisen. Doch sie begann augenblicklich zu schwanken und sank dann stöhnend wieder auf das Bett zurück. Danach ließ sie sich widerstandslos auf die Trage verfrachten und festschnallen.

„Meine Tasche! Die müsste hier noch irgendwo liegen!"

„Hier ist sie." Plattenberg streifte sich einen Einweghandschuh über die rechte Hand und hob die kleine Umhängetasche der Reporterin vom Bett. Bevor er sie ihr gab, durchwühlte er sie zuerst ausgiebig.

„Das dürfen Sie nicht!", maulte die Journalistin.

„Und wie ich das darf. Sie wurden schließlich auf frischer Tat beim Siegel- und Hausfriedensbruch erwischt. Da dürfen Sie sich in nächster Zeit auf eine schöne Genesungskarte von der Staatsanwaltschaft in Form einer Anzeige freuen." Er drückte ihr ihre Tasche in die Hand. „Gute Besserung, Frau Klugge."

Sie konnte ihm nur noch einen bösen Blick zuwerfen, ehe die Sanitäter sie endlich aus der Wohnung trugen. Die beiden uniformierten Kollegen folgten ihnen mit der Beweismittelkiste, in der die Lampe und das von der Täterin benutzte Werkzeug gut verpackt drin lagen.

„Diese Frau ist wie Herpes", sagte Plattenberg. „Man wird sie einfach nicht mehr los."

„Mit Herpes kennen Sie sich wohl ganz gut aus, was?", ätzte Hofkamp. „Aber nicht mit Lippenherpes..."

„Lange nicht so gut wie Sie, Herr Hofkamp."

„Das interessiert hier wirklich niemanden!", unterbrach Jessica, bevor die beiden dieses Thema weiter ausführen konnten. „Übrigens glaube ich nicht, dass Beatrix von Teufenfeld die Frau ist, die hier gewesen ist. Die würde mit ihren manikürten Freddy-Krueger-Krallen wohl kaum Betten verrücken oder Werkzeug benutzen, um Holzdielen aus dem Boden zu hebeln. Auch nicht mit Handschuhen."

„Mit dieser Vermutung dürften Sie wohl richtig liegen", stimmte Plattenberg ihr zu. „Vielleicht hat sie aber ihre Speichellecker-Assistentin geschickt, damit diese die Drecksarbeit für sie erledigt."

„Die lässt sich zwar in der Galerie von der Schreckschraube herumscheuchen, aber würde sie auch für sie einbrechen und jemanden verletzen? Ich weiß ja nicht..."

„Sie werden zwar immer seltener, aber es gibt auch heute noch sehr loyale Mitarbeiter, die bereit sind, nahezu alles für ihren Arbeitgeber zu tun", meinte Plattenberg. „Wir haben uns bisher sehr auf die Herren im Umfeld der Toten konzentriert, nach dem heutigen Vorfall müssen wir allerdings auch eine weibliche Täterin verstärkt in Betracht ziehen. Da ist zum einen natürlich unsere kunstvolle Teufelin aus der Galerie, von deren Telefonanschluss aus Amelie kurz vor ihrem Tod angerufen wurde. Bei dieser Theorie stellt sich allerdings die Frage nach dem Motiv, denn das ist für mich noch nicht ersichtlich. Womit wir wiederum bei der Frage wären, was sich unter der Holzdiele im Boden befunden haben könnte. Sie haben nicht zufällig eine Idee, Herr Hofkamp?"

„Kann ich hellsehen?", fragte Hofkamp und saugte mit einem speziellen, kleinen Handstaubsauger den Hohlraum im Boden aus. „Da ist nichts, was darauf schließen lässt, ob überhaupt und was da gelegen haben könnte. Zumindest nichts, was man mit bloßem Auge erkennen kann. Aber vielleicht ist hier irgendetwas drin." Er klopfte leicht gegen den Behälter des Staubsaugers. „Womöglich sogar DNA vom Täter."

Das wäre natürlich der Jackpot.

„Vielleicht lag da Geld unter der Holzdiele", überlegte Jessica.

„Wenn ja, dann höchstens nur ein kleines Bündel. Viel mehr hätte da nicht reingepasst."

„Ich denke nicht, dass es Geld gewesen ist", meinte Plattenberg. „Möglicherweise aber etwas, was den Zugang zu Geld ermöglicht oder sich zu Geld machen lässt."

„Ein teures Schmuckstück vielleicht", schlug Jessica vor. „Oder ein Schlüssel zu einem Bankschließfach, wo irgendetwas kostbares drin liegt. Vielleicht sogar irgendein teures Kunstwerk! Das würde auch das Motiv der von Teufenfeld erklären."

„Ja, so etwas in der Art. Vorausgesetzt, sie ist auch wirklich die Täterin. Allerdings frage ich mich, wie Amelie in den Besitz eines derartigen, teuren Gegenstandes kommen konnte. Hatte sie ihn gestohlen? Oder war da doch etwas anderes drin?"

„Wer würde denn noch in Frage kommen?" Jessica überlegte, welche weiblichen Verdächtigen sie sonst noch hatten. Viele waren es zugegebenermaßen nicht. „Die Frau vom Rothendorff?"

„Hat er eine?"

„Ja, stellen Sie sich das mal vor! Er vögelt seine Studentinnen, obwohl er seit acht Jahren verheiratet ist." Je mehr Jessica über den Künstler herausfand, desto unsympathischer wurde er ihr. Allein schon seine sogenannte Kunst fand sie abstoßend genug, um den Mann spontan nicht zu mögen. „Außerdem habe ich mir, bevor ich hergekommen bin, im Internet Bilder von dem Typen angesehen und sein Aussehen passt wie Arsch auf Eimer auf Sebastians Beschreibung von dem Mann im Café. Kann doch sein, dass Rothendorffs Frau Wind von seiner Affäre mit Amelie bekommen und sie dann aus Eifersucht umgebracht hat?"

„Die eifersüchtige Ehefrau, ein Klassiker. Das erklärt aber nicht, was sie hier in der Wohnung gesucht haben könnte. Der Einbruch und der Angriff auf Vanessa Klugge ergeben dann keinen Sinn."

Da war etwas dran.

„Vielleicht sind es doch zwei verschiedene Täter", überlegte Jessica weiter.

„Ein bisschen viel vielleicht für meinen Geschmack", meinte Plattenberg und streifte sich den Handschuh wieder von der Hand. „Nichtsdestotrotz werden wir nicht umhinkommen, uns das Ehepaar Rothendorff mal etwas genauer anzusehen. Zumal der Herr Staatsanwalt sich mit Händen und Füßen dagegen stemmen wird, uns einen Durchsuchungsbeschluss für die Galerie und das Wohnhaus von Beatrix von Teufenfeld auszustellen. Besonders, wo diese offenbar per du mit dem Bürgermeister und dessen Gattin ist."

Auch damit dürfte er recht haben, denn August von Teufenfeld schnippelte bestimmt nicht nur an der Bürgermeistergattin herum, sondern auch an der des Staatsanwaltes und vielleicht sogar an diesem selbst. Bei jedem Schritt gegen die Galeristin würden sie also auf massiven Widerstand von oben und schnell an ihre Grenzen stoßen. Zumindest, wenn sie ausschließlich den vorschriftsmäßigen Weg gingen. Was bei Plattenberg, der nicht besonders viel von Dienstvorschriften hielt, eher fraglich war...

„So, Leute, ich habe fertig!", verkündete Hofkamp und schloss zur Untermauerung seiner Aussage geräuschvoll seinen Koffer. „Ich fahre wieder zurück ins Labor. Wir sind heute nämlich nur zu zweit und irgendjemand muss ja diesen ganzen Scheiß untersuchen."

„Vielleicht könnten Sie vorher noch die Flaschen mit den stinkenden Bierresten wegräumen, die Sie und Ihr Kumpel gestern im Wohnzimmer hinterlassen haben", hielt Jessica ihn zurück. „Das ist gegenüber der Toten nämlich ziemlich respektlos."

„Jaaaaa, Mama!", brummte der Kriminaltechniker und trottete aus dem Zimmer. Kurz darauf hörte man das Klirren von Glasflaschen, begleitet von unzufriedenem Gebrummel.

„Haben Sie die Adresse der Rothendorffs im Kopf?", wandte Plattenberg sich an Jessica.

„Ja, die wohnen in der südlichen Aaseestadt, fast direkt am See. Fahren wir da jetzt hin?"

„Wieso nicht? Irgendwann müssen wir das sowieso tun."

Sie verließen die Wohnung, klebten zum zweiten Mal ein Siegel an die Tür und gingen die Treppe hinunter.

Draußen wurden sie erneut von gleißendem Sonnenlicht empfangen. Von dem angekündigten Gewitter war immer noch nicht wirklich etwas zu spüren. Der KTU-Bus und der Rettungswagen waren bereits fortgefahren, nur der Streifenwagen stand noch vor dem Haus.

„Fahren wir in einem Wagen?", fragte Jessica.

„Natürlich in meinem. In Ihrem fühlt man sich wie in einer Sardinenbüchse."

„Woher wollen Sie wissen, wie man sich in einer Sardinenbüchse fühlt? Oder waren Sie in Ihrem früheren Leben eine Dosensardine?"

„Daran kann ich mich nicht erinnern."

Jessica versuchte nicht zu lachen, während sie sich eine Sardine in teurem Markenanzug und mit auffällig gemusterter Krawatte vorstellte.

Nachdem sie die Kollegen von der Streife gebeten hatte, ihren Golf zurück zum Präsidium zu fahren, stieg sie zu Plattenberg in den schwarzen Benz, der sich in der prallen Sonne sehr schön aufgeheizt hatte.

„Ist ja wie in der Sauna hier", stellte sie fest und fächerte sich mit der Hand Luft zu.

„In der Sauna ist man für gewöhnlich nackt."

„Was genau wollen Sie mir damit jetzt sagen?"

„Nichts. Es war nur eine Tatsachenfeststellung." Er setzte seine Sonnenbrille auf, startete den Motor und machte die Klimaanlage an.

„Auf dem Weg holen wir was zu essen. Ich habe nämlich Hunger", beschloss Jessica.

„Aber nichts, was nach einem halb verwesten, toten Waschbär riecht."

„Okay, wie wär's mit einem Döner?", schlug sie grinsend vor.

„Um Gottes Willen, nein!"

„Das war nur ein Scherz!"

„Über so etwas macht man keine Scherze", entgegnete er beleidigt, lenkte den Wagen in einem gewagten Manöver – die vor und hinter ihnen parkenden Autos nur knapp verfehlend – aus der Parklücke und fuhr los.


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