1. Die rasende Reporterin

Eine Woche später


Misstrauisch betrachtete Vanessa den dicklichen Mann mit Halbglatze, der ihr entgegenkam. Obwohl die Temperatur jetzt am Morgen bereits über die Zwanzig-Grad-Marke geklettert war, hatte der komische Kauz einen langen, beigefarbenen Mantel an, ähnlich dem von Inspektor Columbo aus der US-amerikanischen Kultserie.

Könnte durchaus passen, dachte sie sich. Sah so nicht der typische Perversling aus? Sie wurde langsamer und ließ den Mann nicht aus den Augen. Er starrte zurück. Die dicken, runden Gläser seiner Brille ließen seine Augen unnatürlich groß wirken. Vanessas Puls beschleunigte sich. Hatte sie ihn endlich erwischt?

Auf einmal schoss etwas aus dem Gebüsch zu ihrer Linken hervor. Vor Schreck zuckte sie zusammen, nur um im nächsten Moment festzustellen, dass es ein kleiner Yorkshire-Terrier mit hellblauer Schleife im Fell war. Kläffend lief der Hund direkt auf sie zu und versuchte, nach ihrem Knöchel zu schnappen.

„Hey! Verpiss dich, du scheiß Köter!" Sie trat mit dem Fuß aus, um die blöde Töle zu verscheuchen. Nicht umsonst mochte sie Katzen viel lieber als Hunde.

„Pfui, Pucki! Geh weg von der bösen Frau! Komm her zu Papa!", rief der kleine, dicke Mann mit hoher, näselnder Stimme.

Der Flohzirkus gehorchte und trippelte auf seinen kleinen Pfötchen auf ihn zu. Der Mann beugte sich herunter und nahm ihn in seine Arme. Mit einem letzten, missbilligenden Blick in Vanessas Richtung ging er weiter, den Köter so fest an sich drückend, als wäre sie diejenige gewesen, die ihn beißen wollte.

Kurz sah sie dem merkwürdigen Pärchen hinterher und setzte ihren Weg den Spazierweg entlang weiter fort. Schon wieder falscher Alarm, doch irgendwann würde sie das perverse Arschloch schon noch erwischen.

Vanessa arbeitete für das Münstersche Anzeigenblatt und war an einer großen Story dran. Schon seit zwei Monaten trieb der sogenannte Schlosspark-Flasher, ein klassischer Exhibitionist, der vor wildfremden Menschen seinen Mantel lüftete und sein Gemächt zur Schau stellte, sein Unwesen und konnte bisher noch nicht gefasst werden. Sein bevorzugtes Wirkungsgebiet war der Schlosspark, obwohl er inzwischen auch schon einige Male ans Ufer des Aasees vorgedrungen war. Die Opfer waren meistens junge Frauen, am häufigsten traf es Joggerinnen und Studentinnen, die morgens oder abends im Park unterwegs waren. Deshalb trieb sich Vanessa nun schon seit mehreren Wochen in den Morgen- und Abendstunden im Schlosspark oder am Seeufer herum und spielte den Lockvogel. Sie hoffte darauf, den Widerling auf frischer Tat beim Blankziehen zu erwischen. Sehr zum Unmut von Dietmar Korte, dem Chefredakteur des Münsterschen Anzeigenblattes, der stattdessen Berichte über irgendwelche langweiligen Stadtteilfeste oder sonstiges, belangloses Zeug von ihr erwartete. Doch das war ihr egal, denn Dietmar hatte sowieso keine Ahnung von echtem, investigativem Journalismus. Sonst würde er nicht seit einer halben Ewigkeit bei diesem unbedeutenden Lokalblatt sitzen.

Vanessa wollte sich damit jedenfalls nicht begnügen. Sie träumte davon, für den Spiegel oder den Focus zu schreiben. Fürs Erste würden aber auch die Westfälischen Nachrichten reichen. Wenn sie erst einmal ihre große Story über den Schlosspark-Flasher hatte – vorzüglich mit langer Reportage über ihre heldenhafte Jagd und ausführlichem Interview mit dem Perversling selbst – würde sich alles weitere von selbst ergeben und die Türen der großen Zeitungen und Magazine würden ihr offen stehen. Vielleicht würde sie es irgendwann sogar zu einem TV-Sender schaffen, zu Brisant oder RTL Aktuell zum Beispiel.

Wehmütig seufzend, lief Vanessa weiter. Warme Sonnenstrahlen schienen durch das grüne, dichte Blätterdach und spiegelten sich glitzernd auf dem Wasser im Schlossgraben. Es versprach erneut ein heißer Tag mit Temperaturen jenseits der 30 Grad zu werden. Die Hitze hatte die Stadt seit mehr als einer Woche fest im Griff und eine Abkühlung schien in naher Zukunft nicht in Sicht zu sein.

Außer dem komischen Mann und seiner Fußhupe begegnete Vanessa nicht vielen Menschen. Sie wurde nur einmal von einem Jogger überholt und als sie über eine kleine Brücke lief, die über den Schlossgraben zum Äußeren Schlosspark führte, kam ihr ein weiterer Hundebesitzer mit einem schläfrig vor sich hin trottendem Mops entgegen. Das war nicht weiter verwunderlich, schließlich war Samstag und die meisten Menschen wollten ausschlafen – wenn sie nicht gerade eine ehrgeizige Reporterin auf den Spuren eines Exhibitionisten waren.

Vanessas Magen machte sich mit einem lauten Brummen bemerkbar. Sie hatte noch nicht gefrühstückt und beschloss, dies nun nachzuholen. An diesem Morgen würde sie dem Schlosspark-Flasher wohl sowieso nicht mehr begegnen, also konnte sie genauso gut in die Altstadt gehen, sich dort irgendwo in ein hübsches Café setzen und sich ein leckeres Käsebrötchen mit einem schönen Latte Macchiato gönnen. Danach würde sie in die Redaktion gehen und den Artikel über das Public Viewing in der Hafenarena – der wievielte Artikel zu diesem Thema war das eigentlich schon? – den Dietmar ihr aufgebrummt hatte, schreiben. Darauf hatte sie zwar überhaupt keine Lust, aber solange sie ihre große Story noch nicht hatte, musste sie ja irgendwie ihr Geld verdienen. Zumal Dietmar schon gedroht hatte, ihr das Gehalt zu kürzen, wenn sie ihrer regulären Arbeit nicht nachkam.

Vanessa beschleunigte ihre Schritte, die Schottersteine knirschten unter den Sohlen ihrer rosafarbenen Nike-Schuhe. Plötzlich blieb sie stehen und sah verwundert auf den Schotterweg vor sich. Da waren seltsame dunkle Flecken auf dem Boden. Sie ging in die Hocke, um sich die Flecken näher anzusehen. Sie waren eingetrocknet und hatten eine bräunlich rote Färbung. War das etwa...?

Erneut begann Vanessas Herz wie verrückt in ihrer Brust zu hämmern. Als sie sich umblickte, entdeckte sie noch mehr von den Flecken, am Rande des Weges, wo die Grasfläche begann. Von ihrer journalistischen Neugier getrieben, verließ Vanessa den Weg und folgte der Spur. Im Gras waren noch mehr Flecken. Nein, das waren keine Flecken mehr, sondern ganze Schlieren von der rötlichen Substanz. Konnte das wirklich Blut sein? Woher sollte es denn kommen? Hatte ein Tier hier vielleicht seine Beute erlegt? Was für ein Tier sollte das gewesen sein? Ein Fuchs vielleicht? Gab es die im Schlosspark überhaupt? Schließlich war das kein Wald. Und die Beute? Falls das alles wirklich Blut war, konnte es unmöglich von einem kleinen Vogel oder einer Maus stammen...

Die Spuren führten sie bis zu den dichten Büschen am Rand des Schlossgrabens. Irgendetwas irritierte sie. An einer Stelle schienen die Äste leicht verbogen und verknickt zu sein, als hätte sich jemand – oder etwas – zwischen ihnen hindurch geschoben. Neugierig spähte sie durch das Gestrüpp. Tatsächlich! Da lag etwas im Wasser. Es schien ein recht großes Bündel zu sein, sie meinte, hellen Stoff zwischen den Büschen durchschimmern zu sehen. Ein ungutes Gefühl überkam sie. Spätestens jetzt würde es jeder normale Mensch mit der Angst zu tun bekommen. Doch nicht Vanessa. Vorsichtig schob sie die Äste weiter auseinander – und keuchte erschrocken auf.

Mit weit aufgerissen Augen starrte sie eine ganze Weile lang auf ihren grausigen Fund. Doch dann ließ der Schock allmählich nach und ihr rationaler, journalistischer Verstand gewann wieder die Oberhand.

Scheiß auf den Schlosspark-Flasher! Das hier versprach auf jeden Fall eine weitaus spannendere Story zu werden!


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