4. Kapitel

Noch bevor ich die Augen aufschlage, horche ich. Es sind keine fremden Stimmen zu hören, kein Englisch, Französisch oder dieser grässliche schottische Dialekt. Es ist ruhig, komplett ruhig. Man hört kein Knallen von Schüssen, kein Vogelgezwitscher, überhaupt keine Tiere. Nicht einmal das immerwährende Rauschen des Meeres kann ich vernehmen. Es herrscht Totenstille. Totenstille, ein schlechter Witz in meiner Situation. Bin ich tot oder lebe ich noch? Ich spüre meine Brust, die sich hebt und senkt. Ich spüre, wie ich ganz automatisch Luft in meine Lunge ziehe. Ich spüre das Hungergefühl in meinem Bauch und die Schmerzen an meinem Rücken. Wenn das der Tod ist, brauche ich ihn nicht. Endlich öffne ich meine Augen. Mein erster Eindruck ist schwarz. Nacht umgibt mich und nur dank des schwachen Mondlichtes sehe ich überhaupt etwas. Langsam drehe ich meinen Kopf nach links und bleibe wie erstarrt liegen. Dort, etwa siebzig Meter von mir entfernt brennt Licht. Es ist eine kleine Petroleumlampe, den Geruch erkenne ich sogar hier. Neben der Lampe steht ein schwarzer Schemen. Er tritt ins Licht und ich erkenne die Uniform auf Anhieb: Die Briten haben unseren Posten eingenommen. Mir scheint, als wäre die Wache als einziger nicht schlafend im hinteren Bereich. Doch er überblickt den Bereich, in dem ich liege, das Gewehr in der Hand. Einen Überraschungsangriff überlebe ich unbewaffnet nicht, das weiß ich. Andererseits muss ich verschwinden, damit sie nicht merken, dass ich noch am Leben bin. Also... was soll ich tun? Während ich noch liege und überlege, höre ich auf einmal ein Geräusch, ein leises Knacken wie von einem durchgetretenen Ast. Es kommt aus der selben Richtung wie das Licht und der Gestank. Vorsichtig drehe ich meinen Kopf wieder nach links. Im dornigen Gebüsch unterhalb des Bunkers sehe ich einen Schemen, der sich langsam, aber zielstrebig in Richtung des Wachpostens bewegt. Ich kann in der Dunkelheit nicht erkennen, um was für eine Person es sich handelt, doch ich weiß, dass wenn sie den Posten erreicht, ich vielleicht die Möglichkeit habe, unbemerkt zu verschwinden. Gebannt blicke ich zur Wache hinauf. Offensichtlich hat sie die Gestalt noch nicht vernommen, denn gerade eben hat der Brite sich zurückgelehnt und eine Tasse in die Hand genommen. Kein Laut ist zu hören, als die Gestalt sich weiter auf den Wachposten zubewegt. Eineinhalb Meter vor ihm hält der Schemen inne. Dann springt er los. Innerhalb weniger Sekunden ist der Kampf entschieden: Mit einem gezielten Faustschlag ins Gesicht hat die Gestalt den Briten ausgeschaltet, dieser liegt nun benommen am Boden. Die dreht sich kurz um, doch ich kann von ihrem Gesicht nur die blitzenden Augen erkennen. Als der Schemen sich weiter nach hinten Richtung Bunker bewegt, liege ich noch einen Moment von Überraschung übermannt am Boden, bevor ich meine Chance wahrnehme. Leise rappele ich mich auf und versuche, den stechenden Schmerz in meinem Rücken zu ignorieren. Geduckt laufe ich schnell zur Seite davon, als ich aus dem Bunker die ersten Kampfesgeräusche vernehme. Offenbar geht der Angreifer nun auch auf den Rest der englischen Truppen angegriffen. Ich weiß nicht, wer der Unbekannte ist, doch er hat mir soeben das Leben gerettet. Schnell sende ich noch ein Stoßgebet gen Himmel, bevor ich mich so schnell und leise wie möglich ins Unterholz, das in westlicher Richtung am Kanal entlangführt, aufmache.

Geschlagene zwei Stunden ist es her, dass ich von meinem Versteck am Bunker aufgebrochen bin. Nach Westen marschiere ich, weg von meiner Heimat Deutschland. Ich bin verzweifelt und mittellos und habe keine Ahnung, wo ich hingehen soll. Doch ich kenne zumindest die nähere Umgebung und weiß, dass der Weg westwärts hauptsächlich beziehungsweise eigentlich ausschließlich über weites, offenes Land führt. Auch denke ich, dass die Alliierten im Westen Richtung Calais deutlich mehr Angriffe gestartet haben als in den östlichen Küstenregionen. Also wandere ich nach Osten, immer tiefer hinein nach Frankreich und immer weiter weg von meiner Heimat. Die Sonne ist bereits aufgegangen und brennt auf meinen schweren Helm. Meine Füße schmerzen, von der Wunde auf meinem Rücken gar nicht erst zu sprechen. Schließlich beschließe ich, hier auf der kleinen Lichtung, auf der ich gerade stehe, eine kurze Pause zu machen. Erschöpft lasse ich mich auf den feuchten Boden fallen und fahre mit der Hand meinen Rücken hinab. Als ich an den linken unseren Rippen angekommen bin, keuche ich vor Schmerz auf. Schnell ziehe ich mir Jacke und Pullover aus und betaste die Stelle vorsichtig. Ich spüre kein Blut, auch hat sich keine Krise gebildet. Offensichtlich habe ich einfach nur eine meiner Rippen geprellt. Erleichtert atme ich durch. Ich habe keine Verbände oder sonst irgendetwas dabei, was ich zur Behandlung einer offenen Wunde gebrauchen könnte. Doch ich weiß, auch wenn mein Rücken nun schmerzt wie Note zuvor, wird sich auch das wieder legen. Doch nun muss ich zuerst ein ganz anderes Problem lösen: Ich habe seit fast zwanzig Stunden nichts mehr getrunken und noch zwölf Stunden länger nichts gegessen. Ich weiß nicht, wo ich jetzt etwas zum Essen oder Trinken herbekommen soll. Mein Durst wird vermutlich nicht allzu schwer zu löschen sein, hier in der Normandie gibt es einige kleine Bäche oder Flüsse, deren Süßwasser gut verträglich ist. Das einzige Problem dabei ist, dass an vielen dieser Flüsse kleine Städte oder zumindest Dörfer entstanden sind. Vorgestern noch waren alle diese Dörfer in deutscher Hand, doch ich bezweifle stark, dass der Angriff der Alliierten nur auf unseren kleinen Außenposten gezielt war. Die komplette Kanalküste wird wohl inzwischen von Amis und Briten kontrolliert. Ich werde irgendeine Möglichkeit finden müssen, ihre Posten zu umgehen und nicht aufzuhalten. In meinem Zustand schwer genug, dennoch habe ich ja eine gute Ausbildung genossen. Bei der Erinnerung daran bekomme ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein Schmunzeln aufs Gesicht. Wenn ich an meinen Ausbilder namens Moser zurückdenke, muss ich auch nach den bald drei Jahren immer noch grinsen. Damals wusste ich nicht, was ich mit dem "sinnlosen" Gelernten anfangen sollte. Spätestens an diesem Tag nun werde ich eines Besseren belehrt. Seufzend rappele ich mich auf und fasse mir nochmal an meinen schmerzenden Rücken. Dann setze ich meinen Marsch durch dass Dickicht in Richtung Westen weiter fort.

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