1. Kapitel

Es ist ein ruhiger Tag. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und nichts weist darauf hin, dass wir uns mitten im Krieg befinden. Die Ruhe vor dem Sturm, so hat mein Vater das genannt, aber als Soldat habe ich mit meinen fast zweiundzwanzig Jahren, von denen ich die letzten zweieinhalb im Militär verbracht habe, gelernt, dass man jeden ruhigen Tag zur Entspannung nutzen muss. Auf ruhige Tage folgen schließlich immer irgendwann die stürmischen. Also sitzen wir draußen im Grünen, den Blick auf das blaue Wasser des Ärmelkanals gerichtet und genießen den kalten Wind, der uns ins Gesicht weht. Es ist heiß heute, ungewöhnlich heiß für die Normandie. Alles ist friedlich hier und ehrlich gesagt, habe ich nichts Anderes erwartet. Wieso sollten die Briten und die Amis hier angreifen? Calais ist von der Militärführung als Hauptziel der geplanten alliierten Invasion ausgemacht worden, dort ist ein Großteil der Armee stationiert. Hier in der Normandie ist Ruhe, wie immer. Den vierten Juni schreiben wir heute, nur noch zwei Tage bis zu meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Es ist der erste Geburtstag, den ich nicht daheim feiern werde. Letztes Jahr bin ich Anfang Juni nicht im Einsatz gewesen und hatte den Tag bei meiner Familie in München verbracht. Doch diesmal ist das unmöglich. Alle Kräfte, so die Heeresleitung, müssten mobilisiert werden, um den Endsieg noch zu erreichen. Also bin ich hier in der Normandie und genieße das Soldatenleben.
"Ernst?", fragt Hermann, mein Kommandant. Er hat es trotz seiner erst dreißig Jahre bereits zum Leutnant geschafft.
"Was gibt's, Hermann?"
"Was denkst du, wann die Amis mit ihrer Invasion beginnen?"
"Na, ich hoffe spät genug, um noch irgendwie durchzuschlüpfen. Das Ganze ist doch Wahnsinn, machen wir uns nichts vor. Endieg, dass ich nicht lache! Wenn wir den Krieg noch gewinnen, zeige ich mich freiwillig selbst an."
Raues Gelächter folgt auf meine Antwort. Ja, der Endsieg ist wahrscheinlich in etwa so unwahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass Churchill kapitulieren würde, wobei das natürlich zusammenhängt. Außerhalb meiner Truppe hüte ich mich jedoch, sowas zu sagen. Wer Pech hat, wird angezeigt und ist dann bald einen Kopf kürzer. Es ist lau, das Soldatenleben, wenn man es so lebt und man an der richtigen Stelle stationiert ist. Dass das auch ganz anders sein kann, habe ich in meinem Leben oft genug erlebt. Geboren bin ich am 6. Juni 1922 in meinem Elternhaus in München. Mein Vater, ein Marinegeneral erzog mich von klein auf zu einem kleinen Soldaten und brachte mir schon früh Disziplin bei. Meine Mutter verstarb, als ich zwei Jahre alt war an einer schweren Krankheit und so waren es meine zwei älteren Brüder, die meine Erziehung "übernahmen". Der eine von ihnen ist nun bei der Marine, der andere vor einem halben Jahr im Osten gefallen. Als Kind hatte ich es mit einem solchen Vater selten leicht, auch meine Brüder hänselten mich oft. Dennoch habe ich eine enge Bindung zu meiner Familie und ich freue mich immer, wenn wir uns alle in München wiedersehen. Eine Stimme wirft  mich aus meinen Gedanken. Dieter, einer meiner Truppenkameraden hat unser kleines Radio eingeschaltet, wo nun die Wochenschau über die neuesten Ereignisse im Krieg berichtet.
"Nach wie vor leisten unsere Kameraden heldenhaften Widerstand an der Ostfront. Immer wieder gelingt es durch strategische und militärische Genialität die Offensive der Sowjets zurückzuschlagen. Ihr Helden, die ihr Opfer gebt für das Deutsche Reich! Mit solchem Einsatz führt man Deutschland in den Endsieg."
"Man hört so einiges über die Ostfront", sagt Dieter, der immer gut informiert ist. "Sie werden abgeschossen wie Fliegen, die Russen haben längst gewonnen."
Er unterbricht sich, als das Radio auf die Westfront zu sprechen kommt.
"Auch in den westlichen Gebieten des Reiches harren unsere getreuen Soldaten weiterhin aus und erwarten den großen Angriff. Über die ganze Küste des Kanals sind die Streitkräfte verteilt und wappnen sich für das bevorstehende Gefecht. Es bleibt kein Zweifel daran, dass unsere Soldaten dem Feind alles entgegensetzen und ihn mit Heldenmut bezwingen werden! Drum erfahrt unsere besten Wünsche, ihr Helden Deutschlands in den Schützengräben und führt unser deutsches Volk in sein rechtmäßiges Eigentum. Erschlagt die Untermenschen des Westens und Ostens! In euch ruht die ganze Stärke der Nation, das ganze deutsche Volk steht hinter euch!"
"Wie es wohl ist, Held zu sein?", fragt unser Junior Günter scherzhaft.
"Frag die im Osten, hier erfährst dus nicht!", lachte Hermann. "Hier in der Normandie ist immer alles ruhig. Zigarre?"
Er öffnet eine Schachtel und reicht sie herum, alle greifen zu. Nachdem wir uns die Zigarren angezündet haben, sitzen wir erst mal eine Weile schweigend und rauchend herum und starren auf den Kanal. Der kalte Wind weht mir den beißenden Rauch ins Gesicht und ich muss husten.
"So, ich setze eine Kanne Kaffee auf, schadet um die Uhrzeit nie."
Zustimmendes Gemurmel ist von den anderen hören. Ich gehe in unsere kleine Feldküche und setzte auf den noch kleineren Herd den Wassertopf auf. Während das Wasser zu kochen beginnt, verfalle ich in Gedanken. Wie es meinem Vater wohl gerade geht? Als ich zuletzt von ihm hörte, wurde er zusammen mit meinem Bruder Joseph ins Mittelmeer abberufen, wo die Amis eine Offensive gegen Italien starteten. Seit zwei Monaten habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, mein Vater schreibt im Dienst ungern Post, aber langsam mache ich mir Sorgen. Von Dieter habe ich erfahren, dass die deutsche Verteidigung beinahe zusammengebrochen sein soll. Was, wenn ich nun auch noch meine letzten beiden engen Verwandten verlieren sollte? Auch um meine Großeltern mache ich mir Sorgen. Die britischen Luftangriffe kommen unserem Heimatort München immer näher. Flucht ist zwecklos, wohin soll man denn fliehen? Im Osten kommen die Russen, im Westen und Süden die Amis und die Briten. Nur der Norden ist noch sicher. Skandinavien hält sich noch wacker, aber wer weiß, wie lange noch. Hier zwitschern die Vögel, dort fallen die Bomben. Hier rauscht das Meer, dort werden unsere Kameraden abgeschlachtet. Der Endsieg war noch nie so weit entfernt wie jetzt und daran kann auch die schöne Tasse Kaffee, die gerade fertig geworden ist und dieser wunderschöne, ruhige Tag nichts ändern.

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