Kapitel 46
Deutschland, Gegenwart
Herr Martins setzte sie am Beginn der langen Hofeinfahrt ab. Jette atmete tief durch, dann lief sie mit großen Schritten auf das Haus zu. Der Koffer ruckelte dabei hin und her. Das Auto ihrer Eltern stand nicht auf seinem üblichen Platz, also waren sie noch unterwegs. Es versetzte ihr abermals einen Stich ins Herz, dass sie nicht am Bahnhof auf sie gewartet hatten, um sie abzuholen. Doch wer wusste schon, was ihnen Wichtiges in die Quere gekommen war. Sie seufzte kurz. Gerade in diesem Moment benötigte sie ein klärendes Gespräch mit ihrer Mutter.
„Hey Jette, wie war die Klassenfahrt?" Sie zuckte zusammen, als Max hinter der Hausecke hervorkam. Wie immer grinste er breit.
„Erschrecke mich doch nicht so", murrte sie. Obwohl sie sonst seine Nähe schätzte, war ihr heute nicht danach.
„Entschuldige bitte", murmelte er zerknirscht. „Klassenfahrt war wohl nicht so gut, wenn ich dich so betrachte. Ärger mit den Mädchen?"
„Nein, ist schon okay. Ich bin einfach müde." Sie lief an ihm vorbei, wollte den Koffer ins Haus bringen.
„Ich habe deine Geschichte übrigens durchgelesen." Seine Stimme hatte einen seltsamen Klang und sie drehte sich abrupt zu ihm um. Mit den Händen in den Hosentaschen versenkt, stand er da. Seine braunen Haare standen wild in alle Richtungen ab, selbst etwas Stroh steckte in ihnen. Seine Augen nahmen einen ungewohnt melancholischen Ausdruck an. Jette sah, wie er sich dennoch ein Lächeln abrang.
„Ich hatte ja gehofft, dass ich doch eine Chance bei dir habe, seitdem du mit Jasper Schluss gemacht hattest und wir so viel Zeit miteinander verbracht haben, aber du liebst einen anderen. Hast ihn die ganze Zeit geliebt und wirst es auch weiterhin tun." Er schluckte kurz, sein Adamsapfel hüpfte dabei. „Du hast das alles wirklich erlebt, nicht wahr? Ich wollte es nicht glauben, so wie der Rest. Doch ich sehe es in deinen Augen."
Fassungslos schaute sie ihn an. Nie hatte jemand ihre Erzählung für voll genommen. Alle hatten ihr eingeredet, dass die Geschichte nur ausgedacht war. Ein Schutzmechanismus ihres Gehirns. Sie hatte es ja selbst irgendwann geglaubt. Bis die Ereignisse auf der Klassenfahrt ihre Erinnerungen zurückgebracht hatten. Huutsi hatte vor ihr gestanden. Sie hatte sich Spirit Talkers Großmutter nicht eingebildet. Sie war so echt wie Hanne bei den Gesprächen im Wald, nachdem Jette aus den Staaten zurückgekehrt war, und hatte mit ihr geredet.
Mukwooru, Spirit Talker. Er hatte mit den Geistern der Verstorbenen in Kontakt treten können. Die Dorfbewohner hatten es oft genug erzählt, aber sie hatte dem nie Beachtung geschenkt. Ihre moderne Auffassung hatte es ihr verboten, hatte sich darüber lustig gemacht, dass die Indianer doch so einfältig waren. Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, dass sie gerade von ihm so viel hätte lernen können. Nicht nur, dass sie mit dem Geist seiner Großmutter und mit Hanne nach deren Tod geredet hatte, nein, der alte Sam war ebenfalls bei ihrer Ankunft in Linnville nicht mehr am Leben gewesen. Kein Wunder, dass die Menschen in der Stadt sie damals schon seltsam angeschaut hatten. Mit Toten zu reden, gehörte nicht gerade zum guten Ton. Sie hatte so viel mit ihrem indianischen Mann gemein gehabt, es nur nie bemerkt.
Der alte Sam. Er hatte neben ihnen gestanden am Tag des Angriffs. Am Tag, an dem sie Spirit Talker kennengelernt hatte. Sie schloss kurz die Augen, holte sich die Szene in Erinnerung. Sein Blick war zu dem weißen Mann gehuscht, doch statt ihn anzugreifen, hatte der Krieger sie sanfter angesehen, sie ab dem Moment beschützt.
„Er hat es die ganze Zeit gewusst", murmelte sie, ihr Magen krampfte sich zusammen. Daher hatte er nicht zugelassen, dass sie wie die anderen Frauen vergewaltigt wurde. Weil sie seine Gabe hatte.
„Wer hat was gewusst?" Max war einen Schritt nähergekommen und sah Jette besorgt an. „Du bist echt käsig. Vielleicht solltest du dich ein wenig ausruhen. Danach solltest du aber Sam begrüßen."
„Sam?" Sie sah den Jungen verwirrt an.
„Ja, der Indianer, der jetzt für euch arbeitet. Er kam Dienstag mit zwei Indianerponys an. Du wirst ihn bestimmt mögen." Max zog sie kurz in eine Umarmung, dann löste er sich grinsend von ihr. „Pass auf dich auf und stell nichts an."
Kopfschüttelnd sah sie ihm nach, als er auf sein Fahrrad sprang und vom Hof radelte. Statt seinen Führerschein zu machen, nahm er noch immer lieber Reitstunden. Dann drang es richtig zu ihr durch. Max glaubte ihr. Noch seltsamer war seine Aussage, dass sie Spirit Talker liebte. Er hatte recht, doch wieso blieb ihr Herz dem Mann treu, den sie für immer verloren hatte?
Die aufkommenden Tränen bekämpfend brachte sie den Koffer ins Haus und warf sich auf ihr Bett. Verzweifelt boxte sie ihr Kissen. Ließ ihre aufgestaute Wut hinaus. Zu lange hatte sie ihre Gefühle verleugnet, weil sie nicht wahr sein durften. Sie lachte bitter auf, starrte dann aus dem Fenster. Jette beobachtete, wie der Wind die Blätter an den Zweigen umherwirbelte.
„Ich brauche dringend frische Luft", knurrte sie, wischte die Tränen aus ihrem Gesicht. Grummelnd lief sie die Treppe hinunter, rannte durch das Waldstück an den Strand. Erst dort wagte sie es, wieder tief einzuatmen. Eine leichte Brise kam auf. Schnell fummelte sie an ihrem Zopfband herum, zerrte es aus ihren Haaren, löste den geflochtenen Zopf. Der Wind kam aus südlicher Richtung, wehte ihre roten Haare in ihr Gesicht, das sie dem Meer zugewendet hatte. Sie starrte in die Ferne, als ob sie dort eine Antwort finden könnte. Doch ihre unausgesprochene Frage, ob sie jemals wieder einen Mann lieben könnte, sollte nicht beantwortet werden. Sie hatte ihn verleugnet, weil die Therapeuten und alle anderen Menschen es ihr eingeredet hatten. Das Leben war nicht fair, mal wieder. Doch warum war Huutsi aufgetaucht? Hatte die alte Indianerin recht und konnte Jette tatsächlich mit den Verstorbenen sprechen, die länger unter den Lebenden weilten? Sam, Hanne, Mukwoorus Großmutter. Sie waren tot und sie hatte dennoch mit ihnen geredet. Oder hatte sie sich doch nur alles eingebildet? Es wirkte so unwirklich. Ihre Brust krampfte sich zusammen und sie richtete die Aufmerksamkeit auf ihre im Wind herumwirbelnden roten Haare.
Lange schwarze Strähnen mischten sich hinein, zwei Arme schlangen sich um ihren Bauch. Eine warme Brust drängte sich an ihren Rücken. Ein Gefühl von Sicherheit vertrieb ihre Ängste. Jette schaute an sich hinunter, entdeckte die bronzefarbenen Männerarme, die sie festhielten. Seine Arme.
„Topsannah." Die sanfte tiefe Stimme an ihrem Ohr raubte ihr den Atem. Was passierte hier? Träumte sie wieder einmal? Er war tot, vor einer Ewigkeit gestorben, wie die anderen Menschen in seinem Dorf. Nach ihrer feigen Flucht. Wie konnte er hier bei ihr sein? War er auch nur ein Geist?
„Endlich habe ich dich wieder, meine geliebte Frau." Wundervolle Wörter auf Comanche. Es musste ein Traum sein. Denn an Körperkontakt mit Verstorbenen erinnerte sie sich nicht. Immer hatten die Toten dafür gesorgt, dass sie nicht versuchte, diese zu berühren.
Ein Arm löste sich von ihrem Bauch. Finger fuhren ihren Nacken entlang, strichen ihre Haare zur Seite. Warme Lippen verteilten sanft Küsse auf ihrer Haut. Kleine Stromstöße schossen durch ihren Körper. Sie drehte sich abrupt um, schaute in die dunkelbraunen Augen, die sie schmerzhaft vermisst hatte. Es war kein Traum. Ihre Gefühle logen nicht. Sie bildete ihn sich nicht ein.
„Du bist hier", flüsterte sie, klammerte sich verzweifelt an den Mann vor ihr. Schluchzer brachen hervor, brachten neue Tränen mit sich mit.
„Es ist alles gut. Wir sind wieder zusammen. Nie mehr lasse ich dich gehen, Liebste." Er ließ sie an seiner Brust weinen, hielt sie einfach nur in seinen Armen und presste ihren bebenden Körper an seinen.
Nach einer Weile ebbte das Schluchzen ab. Jettes Beine gaben nach und sie sank langsam mit ihm in den Sand. Mit ihren Händen fuhr sie unter seinem Shirt über seine Muskeln, zerrte ihm den Stoff schließlich über den Kopf. Verwundert betrachtete sie die Narben auf seinem Oberkörper.
„Die Weißen wollten mich töten, doch meine Medizin war stärker", beantwortete er ihre unausgesprochene Frage, zog nun seinerseits an ihrem Oberteil, das sie nur zu gern auszog. Amüsiert über seinen irritierten Blick als er ihren BH sah, zog sie auch diesen aus und ließ ihn in den Sand fallen. Ihre Hände wanderten seine Arme entlang über seine Schultern zu seinem Nacken. Verlangend drückte sie ihre Lippen auf seine, überzeugte sich davon, dass er wirklich bei ihr war. Ein Traum schmeckte nicht so himmlisch, fühlte sich nicht so gut an.
„Ich habe Sand, wo kein Sand hingehört", murrte Jette, als sie mit ihrem Mann zusammen den Hof betrat. Das Auto ihrer Eltern steuerte gerade auf seinen üblichen Platz zu. Sie seufzte. Wie sollte sie ihnen erklären, dass ihr indianischer Ehemann aus dem Wilden Westen aufgetaucht war?
„Ich kann dir gerne dabei helfen, ihn unter der Dusche zu entfernen", antwortete er vergnügt teils auf Comanche, teils auf Englisch. Spirit Talker blieb stehen, zog Jette an seine Brust und küsste sie erneut verlangend.
„Pia!" Der helle Schrei, der vom Auto kam, ließ sie herumwirbeln. Fassungslos starrte sie auf das kleine Wesen, das auf sie zu stürmte. Sie sackte auf ihre Knie und öffnete die Arme weit. Tabukina warf sich mit Schwung hinein, schlang ihre kurzen Arme um Jettes Hals. Das Mädchen hatte ebenfalls überlebt, war mit dem Vater in die Zukunft gereist.
„Richtig, Topsannah ist ab jetzt deine Mutter." Spirit Talker strich dem Kind liebevoll über die rabenschwarzen Haare. Jette atmete tief durch, versuchte, ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen. Sie hatte nicht nur ihren Mann zurück, sondern war von nun an für das Mädchen verantwortlich, dem sie bei ihrer Ankunft im Dorf der Comanchen das Leben oder das sie zumindest vor einem schmerzhaften Stockschlag gerettet hatte. Mit der Kleinen in den Armen stand sie auf.
„Wie ist das möglich?", stammelte sie, noch immer nicht begreifend, dass nicht nur Mukwooru, sondern auch Tabukina den Angriff der Ranger überlebt hatte.
„Sie hat die gleiche Begabung wie du, wie ich. Großmutter hatte ihr geraten, sich vor den Weißen im Gestrüpp zu verstecken und auf meine Rückkehr zu warten." Spirit Talkers Stimme zitterte leicht. Ein Schleier zog über seine Augen, als die Erinnerungen an das zerstörte Dorf nach oben drangen. Jettes Herz verkrampfte sich und sie beugte sich zu ihm, küsste ihn sanft auf die Wange. „Sie hat alles mit angesehen, doch Huutsi blieb bei ihr, tröstete sie die ganze Zeit."
„Ich habe sie gestern gesprochen. Sie stand plötzlich vor mir und hat mich daran erinnert, meinem Herzen zu folgen und nicht den Worten anderer." Sie schaute zu ihrem Mann, der breit grinste.
„Dank ihr habe ich mich überhaupt auf die Suche nach dir gemacht." Er schüttelte leicht den Kopf, als ob er noch nicht so ganz glaubte, sie gefunden zu haben. „Ich habe im Gebiet bei dem Hügel, den die Weißen Enchanted Rock nennen, angefangen. Dort, wo ich dich das letzte Mal gesehen hatte."
„Du, du hattest mich dort gesehen?" Ihre Unterlippe zitterte leicht, als sie an den Augenblick vor ihrer zweiten Zeitreise dachte.
„Ja, den einen Moment warst du noch da, im nächsten hat mich ein Lichtblitz geblendet und warst du verschwunden. Ich konnte es mir nicht erklären, hörte nur in meinen Gedanken, dass Großmutter mich zum Dorf rief." Jette spürte, dass er nicht weiter darüber sprechen würde. Zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Sie dachte an den Gedenkstein und an die Dinge, die sie über das Massaker beim Enchanted Rock gelesen und gehört hatte. Sie wollte nicht wissen, wie die Menschen, die sie nach und nach in ihr Herz geschlossen hatte, grauenvoll ermordet worden waren.
„Sie haben das Dorf nur zerstört und alle getötet, weil ich geflüchtet bin. Es ist meine Schuld", flüsterte sie, drückte Tabukina enger an ihre Brust.
„Nein, sie hätten genauso gehandelt, wenn sie dich gefunden hätten. Niemals hätte ich dich freiwillig gehen lassen." Spirit Walker wischte zärtlich die Träne weg, die über Jettes Wange lief. „Du gehörst zu mir und ich gehöre zu dir. Das wird niemand jemals ändern."
„U kamakutu nu." Die drei Worte kamen leicht über ihre Lippen. Ja, sie liebte ihn. Hatte es immer getan. Jasper war nur eine kurzweilige Ablenkung gewesen. Doch er verdiente sie nicht. Nur ein Mann war ihrer Liebe würdig. Ein Krieger, der durch die Zeit gereist war, um sie wiederzufinden.
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