Kapitel 44
Deutschland, Gegenwart
„Heute Abend Party!" Lena hüpfte wie ein Flummi durch das Zimmer, das sie sich mit zwei anderen Mädchen teilten. Koffer und Reisetaschen lagen offen und leer herum, warteten darauf, gefüllt zu werden.
„Hast du überhaupt ein Kleid mitgebracht?" Maila wirbelte ebenfalls umher wie ein Blatt im Wind. Jette schüttelte schmunzelnd den Kopf. Sie gönnte den Mädels ihren Spaß. Selbst hatte sie vor, früh schlafen zu gehen. Für den nächsten Tag war die Heimfahrt angesetzt. Sie freute sich darauf, in ihrem eigenen Bett zu liegen, weit weg von ihren Mitschülern. Abgesehen davon hatte ihre Mutter bei der Abreise erwähnt, dass zu ihrer Heimkehr etwas Besonderes zu Hause auf sie wartete. Ihre Eltern hatten geheimnisvoll getuschelt. Ein neues Pferd schloss sie aus. Doch was war es dann? Welche Überraschung hatten sie stattdessen geplant? Sie rollte sich auf dem Bett auf den Rücken, starrte die Decke an. Geheimnisse existierten in ihrer Familie unter normalen Umständen nicht. Warum dieses Mal? Sie seufzte leise. Es ergab keinen Sinn.
„Erde an Jette." Lena zupfte sie am Ärmel. „Bist du gar nicht wegen heute Abend aufgeregt?" Das Mädchen rückte die Brille auf ihrer Nase zurecht, sah die Angesprochene erwartungsvoll an.
„Sollte ich?" Jette streckte sich und gähnte ausgiebig. Mit Vergnügen zeigte sie ihr Desinteresse für Partys, nach denen ihre Zimmergenossinnen sich sehnten. Betrunkene Menschen, Flirts, Körperkontakt. Das war eindeutig nicht ihre Welt. Alkohol würde es zwar keinen geben, da die Lehrer anwesend waren, dennoch blieb sie lieber für sich. „Ihr könnt gerne hingehen, ich bleibe gemütlich hier und zeichne ein wenig." Sie zeigte auf den Zeichenblock, der halb unter ihrem Bett versteckt lag. Das Manuskript war sicher zu Hause in einer Schublade verstaut, wartete auf die nächste Überarbeitung. Eine Kopie hatte Max im Moment. Sie erschauderte kurz. Was, wenn er von den Kapiteln, die sie ohne ihn geschrieben hatte, angewidert war? Die persönlichsten Augenblicke, festgehalten auf Papier. Ob Wirklichkeit oder ausgedacht, sie schmerzten am meisten.
„Ob es dir gefällt oder nicht, du feierst heute mit uns zusammen." Lena schob ihre Brille nach vorn auf die Nasenspitze, sah sie über den Rand der Brillengläser streng an. „Wir sorgen schon dafür, dass es dir genauso viel Spaß macht wie uns. Nicht wahr, Mädels?" Die anderen beiden Mädchen nickten voller Zuversicht. Jette runzelte die Stirn. Dazuzugehören war anstrengender, als sie erwartet hatte. Früher wäre sie auf dem Zimmer geblieben, hätte gezeichnet, gelesen oder geschlafen. Auf jeden Fall wäre sie unter gar keinen Umständen mit zu den feiernden Jugendlichen gegangen.
„Darf ich wirklich nicht auf dem Zimmer bleiben?" Jette setzte ihren besten Welpenblick auf und winselte leise. Auf den Trubel hatte sie keine Lust. Vor allem, weil noch zwei andere Klassen vor Ort waren und die fremden Schüler ihr zum Teil kalte Schauer über den Rücken jagten. Insbesondere ein Junge war mehrfach negativ aufgefallen, weil er verschiedenen Mädchen hinterherlief und ihnen den Weg versperrte, um sie zu einem Kuss zu zwingen. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken an ihn. Mit seiner aufgeblasenen Art erinnerte er sie an den Krieger, der Alice misshandelt hatte.
„Nein. Es wird dir guttun. Saskia hat nichts mehr zu sagen, der Rest der Klasse hat dich genauso gern wie wir." Lena stemmte die Fäuste in die Hüften. „Fragt sich nur, was wir jetzt klamottentechnisch machen? Hat eine von euch ein Kleid mit?" Alle drei schüttelten den Kopf.
„Meine Mutter erzählte mal, dass sie früher auf Klassenfahrten dann einfach die Shirts am Bauch verknotet haben, damit es sexy aussah. Können wir doch genauso machen", meldete Jana sich zu Wort.
„Wozu? Damit uns eine dieser Pappnasen am Hintern hängt? Danke, kann ich drauf verzichten." Jette zog ihren Zeichenblock unter dem Bett hervor.
„Aber ganz schnell weg damit, Fräulein!" Lena drohte mit dem Zeigefinger. „Deine Abneigung gegenüber Jungs kann ich nachvollziehen. Wäre da an deiner Stelle auch nicht so begeistert."
„Wieso? Ich habe sie letztens zusammen mit einem braunhaarigen Typen in der Stadt gesehen. Der ist echt schnuckelig." Maila beugte sich neugierig vor. Jette stöhnte innerlich auf. Sie hatte mit Sicherheit nichts mit ihrem besten Kumpel am Laufen. Bevor noch Gerüchte in die Welt gesetzt wurden, räumte sie das Missverständnis besser direkt aus dem Weg.
„Max? Das ist ein sehr guter Freund von mir." Bei dem sie in diesem Moment lieber säße als bei ihren Mitschülerinnen. Dann bräuchte sie nicht auf eine Party, die sie nicht interessierte.
„Also nichts Ernstes? Stellst du ihn mir bitte vor?" Maila hüpfte von einem Bein aufs andere, die grinsenden Gesichter Lenas und Janas ignorierend.
„Ich werde ihn mal fragen, ob er dich kennenlernen möchte. Wegen Altersunterschied und so." Maila war eines der jüngsten Mädchen der Klasse. Max dagegen fast ein Jahr älter als Jette. Sie hatte Zweifel, dass er an einem Treffen mit dem zwar netten aber etwas hyperaktivem Mädel Interesse hatte.
„Da das nun geklärt ist, lasst uns die Klamotten durchstöbern, unsere Outfits zusammensuchen." Lena klatschte vor Begeisterung in die Hände, scheuchte ihre Freundinnen zu den Schränken. „Macht schon, wir wollen doch nicht zu spät kommen."
Zwei Stunden später lief Jette der Schweiß den Nacken entlang. Die Mädchen hatten nicht zu viel versprochen. Tanzen gefiel ihr besser als erwartet. Vor allem die Lider mit tiefen Bässen, die sie entfernt an gleichmäßige Trommelschläge erinnerten, hatten sie zwischenzeitlich in eine Art Trance versetzt. Jetzt verschnaufte sie außerhalb des Tanzbereichs. Die Kombination verschiedenster Parfüms und Deodorants mischte sich mit dem Geruch nach Schweiß. Seit Beginn der Party schien die Temperatur ins Unermessliche zu steigen. Die Nebelmaschine, die neben einem hüfthohen Lautsprecher stand, verströmte Nebelschwaden, die die Tanzenden umgarnte wie heimtückische körperlose Entitäten. Die zuvor beruhigenden wummernden Bässe ließen ihren Körper bis in ihre Organe vibrieren. Die Leichtigkeit vom Tanzen räumte den Platz für Erschöpfung, bleierne Müdigkeit. Sie sehnte sich nach der Ruhe ihres Zimmers, doch Lena hatte den Schlüssel. Sie würde ihn mit Sicherheit nicht rausrücken.
Schrilles Lachen, wie der Schrei eines Raubvogels, neben ihrem Ohr ließ sie zusammenzucken. Das Gemisch aus unterschiedlichen künstlichen Düften und Körperausdünstungen stürzte über ihr zusammen wie eine Monsterwelle am Strand. Beißend brannte es in ihren Augen, ihrem Hals. Jette hustete, kämpfte sich durch die Masse an schwitzenden Leibern zum Ausgang. Auf dem Flur atmete sie ein erstes Mal durch, doch auch hier war die Luft kaum besser. Von einem Hustenanfall begleitet, torkelte sie zur Tür, flüchtete in die kühle Abendluft.
Das Mädchen lief einige Schritte weiter, weg von dem Trubel, dann blieb sie stehen und lauschte auf die Geräusche, die aus dem Haus zu ihr drangen. Das Schreien der Jugendlichen, die versuchten, sich über den Krach hinweg zu unterhalten. Die auf ihren Schädel wie ein Zwerg auf seinen Amboss einhämmernde Musik. Dagegen klang selbst der Kriegsschrei der Comanchen harmonischer. Jette schüttelte den Kopf, zog die Nase kraus. Sie benötigte eine Pause fernab dieses Lärms. Die hohen Bäume des angrenzenden Waldstücks zeichneten sich wie ein unheilvoller Riese vor dem orangeroten Abendhimmel ab. Dennoch zog es sie magisch dorthin. Zuversichtlich, dort Entspannung zu finden, lief sie auf die Finsternis zu.
„W-was wird das? Bitte, lass mich gehen." Saskias zitternde Stimme drang an ihr Ohr. Was oder besser wer verunsicherte das sonst so selbstsichere Mädchen? Wieso war sie überhaupt hier draußen? Eine Gänsehaut überzog Jettes Arme. Ihr Verstand schrie sie regelrecht an, zurück zur Jugendherberge zu rennen, sich im Haus zu verstecken.
„Halt still und sei leise. Denkst du etwa, du kannst mich mit deinem wackelnden Arsch in den Wahnsinn treiben, ohne dass ich mir hole, was mir zusteht?" Ein lautes Klatschen hallte zu ihr, wie wenn jemand einer anderen Person eine Ohrfeige verpasste. Ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen. In das Wimmern Saskias mischte sich Geschrei. Das Klagen der Frauen, die nach dem Angriff der Comanchen auf Linnville von den Kriegern misshandelt und vergewaltigt worden waren. Jette presste die Hände auf die Ohren. Ihre Beine trugen sie weiter zu der Hecke, hinter der sie ihre Mitschülerin und deren Peiniger erwartete. Ihr Blick huschte suchend umher, nach einem Gegenstand, um den Jungen von seinem Vorhaben abzuhalten. Dieses Mal hatte sie die Möglichkeit, etwas zu unternehmen. Sie ließ nicht zu, dass ein weiteres Mädchen vergewaltigt wurde. Lief sie zum Haus zurück, um Hilfe zu holen, war es womöglich zu spät.
„Komm schon, hier muss doch etwas Nützliches sein", murmelte sie so leise, dass sie selbst kaum ihre Stimme hörte. Dort, das war geeignet! Sie hob einen kleinen Blumentopf, dessen Pflanze längst verdorrt war, hoch. Jette holte tief Luft, versuchte das Zittern, das durch ihren Körper lief, zu unterdrücken. Den Tontopf an ihre Brust gepresst, schlich sie zur Hecke, lugte vorsichtig um sie herum.
Ihr Atem stockte. Der fremde Schüler saß auf Saskias Oberschenkeln, fummelte am Verschluss der Hose. Die Bluse des Mädchens lag in Fetzen neben ihr, den Kopf hatte sie weg zur Seite gedreht, um nicht in das Gesicht ihres Peinigers zu sehen. Vor Jettes Augen schossen die Bilder der misshandelten Siedlerfrauen vorbei. Dann der Anblick der durch Clayton ermordeten Comanchin, wie sich deren Tochter weinend auf sie warf. In ihren Adern brodelte es.
„Lass sie in Ruhe, Arschloch!" Bevor der Junge eine Chance hatte, den Angriff abzuwehren, rammte sie ihm den Topf auf den Schädel. Der Blumentopf zerbrach, Tonscherben fielen neben dem Schüler auf den Boden, der stumm in sich zusammensackte, dabei Saskia halb unter sich begrub. Jette packte ihn am Kragen, zerrte ihn von ihrer apathisch daliegenden Mitschülerin runter. Sie setzte sich zu ihr, zog sie in eine sitzende Haltung und umarmte das weinende Mädchen.
„Alles wird gut. Er kann dir nichts mehr tun." Sanft wiegte sie sie beide hin und her, streichelte Saskia beruhigend über die Haare.
„Bring mich hier weg", schluchzte diese, den Blick starr auf den bewusstlosen Jungen gerichtet, als ob sie fürchtete, dass er jeden Moment aufwachte und sie erneut attackierte.
„In Ordnung, lass uns von hier verschwinden." Jette half ihrer Mitschülerin beim Aufstehen, stützte sie, da das Mädchen am ganzen Körper zitterte. Sie sah kurz zu dem Ohnmächtigen. Erde, die vertrocknete Pflanze aus dem Topf, die Scherben, alles lag um ihn herum, wirkte auf sie wie ein abstraktes Gemälde. Der aufkommende Wind trug eine Stimme aus dem Wald zu ihr, die leise ihren Namen wisperte. Topsannah. Sie fröstelte, schlang den Arm um Saskia und führte sie den ihr endlos vorkommenden Weg zurück zur Jugendherberge, in die Sicherheit des Gebäudes und der Menschen, die sie mit weit aufgerissenen Augen in Empfang nahmen.
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Nur noch drei Kapitel, meine Lieben.
Wer hat da wohl ihren indianischen Namen geflüstert? Oder bildet sie es sich doch nur ein? Das erfahrt Ihr im nächsten Kapitel.
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